Was setzen die Bahá´i den heutigen gesellschaftspolitischen Systemen entgegen?
von Dusan Nendl
Bahá´i Briefe 1970/39
Was setzen die Bahá´i den heutigen gesellschaftspolitischen Systemen entgegen?
Bahá´u´lláh sagte: "Bald wird die Ordnung des heutigen Tages aufgerollt und eine neue an ihrer Stelle ausgebreitet werden!"
Die heutigen weltweiten gesellschaftspolitischen Unruhen drängen die Vermutung auf, daß wir uns in einen Umbruch befinden. Die Menschheit sucht neue Beziehungen zwischen dem Einzelmenschen und der Gesellschaft beziehungsweise den gesellschaftspolitischen Institutionen. Denn die gegenwärtige Gesellschaftspolitik ist nicht mehr im Stande, den Menschen in seinem innersten Wesen anzusprechen. Gerade diese Unfähigkeit ist der Grund für diese Kriese der heutigen Gesellschaft, ist die Ursache der politischen Unruhen und des Zerfalls.
Welches sind die gesellschaftspolitischen Systeme, in denen wir heute leben? Wir können sie zunächst nach zwei Gesichtspunkten unterscheiden:
a) nach politischen,
b) nach wirtschaftlichen.
Politisch wäre zu nennen: Parlamentarismus, das heißt auf politischen Parteien begründete Demokratie, also Parteidemokratie; autoritäres politisches System; Theokratie.
Parlamentarismus ist das politische System, in dem die Regierung jederzeit vom Parlament mit Mehrheitsbeschluss abberufen oder zum Rücktritt genötigt werden kann. In fast allen demokratischen Ländern Europas benötigt die Regierung verfassungsmäßig das Vertrauen des Parlaments, das sie sich im Zweifelsfalle ausdrücklich bestätigen läßt. Sie stellt die "Vertrauensfrage" und erhält ein "Vertauensvotum".
Erteilt ihr das Parlament statt dessen ein "Misstrauensvotum", tritt sie in der Regel zurück. Praktisch bedeutet parlamentarische Regierung, dass die Mehrheitspartei oder Koalition bestimmter Parteien ihre Führer in die Regierung entsendet.
Autoritäre Systeme sind mehr oder weniger diktatorische Regierungssystemen, das Gegenteil von Demokratie und Volkssouveränität (Demokratie ist eine Regierung des Volkes durch das Volk selbst). Ihre extremste Formen sind der Absolutismus (auch Autokratie eines feudalen Herrschers, z.B. in verschiedenen Ländern Asiens ) und weiter die totalitären Systeme wie Faschismus, Nationalismus, Stalinismus.
Theokratie ist eine im Namen Gottes beanspruchte Lenkung des Staates durch kirchliche Hierarchie ( sogenannte Gottesherrschaft), z.B. im alten Ägypten, im Judentum und im katholischen Mittelalter sowie das Imamat oder bis zu einem gewissen Grad das Kalifat im Islam.
Die Schwächen des heutigen Parlamentarismus
Die Schwächen des heutigen Parlamentarismus sind vielfältig. In der modernen Parlamentsdemokratie fallen die wesentlichen Entscheidungen außerhalb des Parlaments in den leitenden Parteikreisen, wenn diese auch zum größten Teil aus Parlamentariern bestehen. Die Parteidisziplin tut ein übriges, um die Kontrollfunktion des "Fußvolkes2 der Abgeordneten einzuschränken. Da politische Parteien sich nicht ausreichend durch Mitgliedsbeiträge finanzieren können - zumal, da ein Wahlkampf viele Millionen kostet - sind sie auf Zuwendungen aus Interessentenkreisen angewiesen. Diese finden sich in der Industrie, den Gewerkschaften usw. ; sie verlangen als Gegenleistung die Vertretung ihrer Interessen in der Politik. Der Einfluss zahlungskräftiger Spender geht damit weit über ihren Anteil an der Bevölkerung hinaus.
Die immer größer werdenden wirtschaftlichen Machtkonzentration birgt die Gefahr einer immer stärker werdenden Kontrolle über Meinungsmedien in sich. In den USA beherrschen nur 4,5% der Bevölkerung die gesamte Wirtschaft. Sie sperren sich bis zu einem gewissen Grade dagegen, dass die sozialen Verhältnisse untersucht werden und dass ein soziales Bewusstsein bei den breiten Bevölkerungsschichten erwacht. Die Folge ist bekannt: Verarmung eines Teiles der Bevölkerung, Rassenunruhen, politische Unzufriedenheit, Aufstände usw.
Die mächtigen Interessentengruppen können die Außenpolitik einzelner Staaten so beeinflussen, daß die Außenpolitik auch das Werkzeug ihrer Interessen ist. Die Folgen davon sind weltpolitische Katastrophen. Die reichen Industrienationen neigen dazu, eine Weltwirtschaftspolitik zu betreiben, die die reichen Nationen noch reicher macht, die armen noch ärmer. Die wirtschaftliche Kluft zwischen reichen und unterentwickelten Völkern und Kontinenten wird immer größer. Wir sind oft gar nicht bewußt, daß unser Wohlstand zu einem guten Teil auf den Knochen von Tausenden von Menschen erbaut ist, die in Afrika und Asien des Hungertodes sterben.
Der Einzelmensch spürt mehr oder weniger, bewusst oder unbewusst, dass er ein Spielball parteipolitischer und wirtschaftlicher Interessen geworden ist. Sein tatsächlicher Einfluss auf das politische und wirtschaftliche Leben wird immer kleiner, ist praktisch nicht mehr vorhanden. seine Reaktionen auf diese seine gesellschaftspolitischen Lage sind vielfältig: Karrieresucht, Konsumsucht, aber auch Resignation, Verzweiflung, neuerdings auch Auflehnung und Aufstand!
Kurz zusammengefasst: Die heutige moderne Parteiendemokratie ist immer weniger in der Lage, die innenpolitischen Probleme der hochindustrialisierten Gesellschaft befriedigend zu lösen. Noch weniger kann sie den internationalen Problemen begegnen, die eine zusammengeschrumpfte Welt als Ganzes bedrängen.
Welches sind nun die Schwächen des autoritären politischen Systems, insbesondere der Diktatur? Totalitäre Staaten bedienen sich fast ausschließlich eines autoritären Wirtschaftssystems. In einer autoritär geführten Wirtschaft verfügt eine herrschende Schicht, meist eine Partei, über alle Produktionsmittel, das heißt über Boden, Kapital und auch über die Arbeit als Träger der Produktion. Die Folge ist sehr oft die Erstickung jeglicher Privatinitiative auf dem wirtschaftlichen Gebiet. Hinzu kommt eine mehr oder weniger starke oder gar totale Kontrolle über das Kulturleben und über die Presse, so dass eine freie Meinungsäußerung und ein selbständiges Suchen nach der Wahrheit sehr erschwert oder sogar unmöglich werden. Das Ohnmachtsgefühl gegenüber dem allmächtigen Staat oder der Partei oder beidem ist besonders stark ausgeprägt. Dies äußert sich in den ausgesprochen hohen Selbstmordzahlen. Bekannt sind sogar "Clubs der Selbstmörder": junge Leute aus gutsituierten Parteifamilien.
Eine weitere Betrachtung der guten und schlechten Seiten der beiden heute herrschenden politischen Systeme würde hier zu weit führen. Beiden Systemen gemeinsam ist ein unaufhaltsamer sittlicher Zerfall, dessen Ursache aber nicht in den einzelnen Systemen liegt, sondern - wie Shoghi Effendi sagt - "die Folge der Entthronung der Religionen" ist. "Die Verbreitung von Gesetzlosigkeit, Trunksucht, Glücksspiel und Verbrechen, die zügellose Sucht nach Vergnügen, Reichtum und anderen irdischen Nichtigkeiten, die Laxheit der Moral, die sich äußert in einer verantwortungslosen Haltung gegenüber der Ehe, in einer Schwächung der elterlichen Aufsicht, in einer Hochflut von Ehescheidungen, im Sinken des Durchschnittsniveaus von Literatur und Presse und in einer Befürwortung von Theorien, die eine glatte Verleugnung von Reinheit, Moral und Keuschheit darstellen - alle diese Beweise moralischen Zerfalls, die in den Osten oder Westen eindringen, jede Gesellschaftsschicht durchsetzen und ihr Gift in deren Glieder beiderlei Geschlechts, jung wie alt, einträufeln, schwärzen noch weiter die Rolle, auf der die mannigfachen Übertretungen einer Menschheit aufgeschrieben sind, die nichts bereut." (Shoghi Effendi, " Der verheißene Tag ist gekommen", S 174)
Die Bahá`i- Offenbarung setz den heutigen gesellschaftspolitischen Systemen zwei Heilmittel entgegen: a) den neuen Geist, b) den neuen Bund oder moderner ausgedrückt: die neue Organisation, die Bahá`i-Verwaltungsordnung : "Der Geist und das Werkzeug - die Verwaltungsordnung - sind aufeinander angewiesen."
Es wäre verkehrt, dies Verwaltungsordnung rein verwaltungstechnisch zu betrachten, denn Bahá`u`lláh sagte: "Wähnt nicht, dass Wir euch ein bloßes Gesetzbuch offenbarten. Nein, Wir haben vielmehr den erlesenen Wein mit den Fingern der Macht und Kraft entsiegelt" (Ährenlese.S.217)
Mit jedem neuen Tag erschließt sich dem Baha´i die Weisheit der Gebote Bahá`u`lláhs in immer neuen Erlebnissen; aber schon allein die äußerlichen Vorteile der Bahá`i-Gesellschaftsordnung gegenüber dem heutigen gesellschaftspolitischen System liegen auf der Hand:
Die Unabhängigkeit der Geistigen Räte gegenüber den Wählern.
Dies scheint auf den ersten Blick ein Nachteil zu sein. Bedenken wir jedoch: Die Abhängigkeit der Regierung von den Wählern ist in Wirklichkeit eine Abhängigkeit von Interessengruppen. In England ist die Labour-Regierung so stark von den Gewerkschaften abhängig, dass sie es kaum wagt, nötige Wirtschaftsreformen konsequent zu verwirklichen aus Furcht, gestürzt zu werden. Was in der Bahá ´i Verwaltungsordnung zunächst als Schwäche erscheint, ist in Wirklichkeit ein Schutz der Geistigen Räte vor Interessengruppen.
Kein Einfluss des Kapitals auf die Geistigen Räte.
Zwei Verordnungen, die solchen Einfluss verhindern:
a) Spenden von Nicht - Baháì dürfen nicht für die Verbreitung des Glaubens verwendet werden;
b) Die Spenden der Bahá`i selbst dürfen nicht namentlich bekannt werden. Dadurch kann keiner mit großen Spenden Eindruck bei Wählern hinterlassen oder einen Einfluss auf die Räte ausüben.
Keine Demagogie möglich.
Geistige Räte, nicht einzelne Menschen, bilden das Rückrat der Verwaltungsordnung. Kein Gläubiger kann sich in die Fragen von gesellschaftlicher Bedeutung über die Geistigen Räte hinwegsetzen. Die Bahá`i-Wahlen werden nach stiller Gebetsandacht ohne jede Wahlpropaganda und ohne Kandidaturen vorgenommen. Dies ist den weltlichen Gebräuchen völlig entgegengesetzt, genauso den Wahlen in der Parteiendemokratie wie den Bestätigungswahlen in einer Diktatur.
Beseitigung des Ohnmachtsgefühls
In einer lebendigen Bahá`i - Gemeinde kann keine Kluft zwischen dem einzelnen und dem Geistigen Rat entstehen; denn „die Einrichtung des Neunzehntagefestes bietet die anerkannte und regelmäßige Gelegenheit für allgemeine Beratung seitens der Gemeinde und für Beratung zwischen dem Geistigen Rat und den Mitgliedern der Gemeinde. Die Abhaltung des Beratungsabschnitts an den Neunzehntagefesten ist eine lebenswichtige Funktion jeder Geistigen Rates!“ ( Bahá`i - Community 1947, S.27 )
Damit hat jeder Gläubige die Möglichkeit, am öffentlichen Leben mitzuwirken, obwohl der Geistige Rat an sich unabhängig von den Wählern ist.
Keine Absonderung der verschiedenen Schichten.
In einer wahren Bahá‘í Gemeinde gibt es keine Obrigkeit im weltlichen Sinne, keine obere und mittlere Schicht; denn die Mitglieder eines Geistigen Rates sind keine besondere Leute. Nur wenn sie in einer Ratssitzung versammelt sind, haben sie Entscheidungsbefugnis, aber nur als Gemeinschaft, nie als einzelne. Somit sind sie normale Bahá`i wie alle anderen und sollen als solche seitens der übrigen Bahá‘í Gläubigen auch behandelt werden. In einer echten Bahá‘í Gemeinde kann kein „Establishment“ entstehen.
Befreiung von der Einsamkeit.
In der modernen industriellen Gesellschaft ist das Problem der Einsamkeit der einzeln stehenden Personen ein soziales Problem geworden, insbesondere, da die Familienbande heute stark gelockert sind. Die Kontaktarmut, bedingt durch die Erziehungs- und Umwelteinflüsse, ist eine weit verbreitete seelische Krankheit, des modernen Menschen. Hier schafften die Neunzehntagefeste mit ihrem geselligen Teil die heilende Wirkung, beziehungsweise sie wirken von vornherein vorbeugend.
Möglichkeiten der weltweiten Koordinierung, frei von wirtschaftlichen und politischen Interessengruppen.
Weder die westlichen Demokratien noch der kommunistische Osten sind im Stande, eine funktionsfähige weltweite Organisation und Koordination anzubieten. Dafür sind alle weltlichen politischen Kräfte viel zu voreingenommen und in ihrem Blickfeld selbst dann zu eng begrenzt, wenn die Notwendigkeit einer Weltverwaltung erkannt wird.
Die charakteristischen Grundzüge der Bahá`i - Weltordnung hat Shoghi Effendi folgendermaßen skizziert.
„Es sollte hier noch ein Wort über die Idee, auf die diese Verwaltungsordnung aufgebaut ist, und über den Grundsatz, der die Arbeitsweise ihrer Haupteinrichtungen beherrschen muß, gesagt werden. Völlig irreführend wäre es, einen Vergleich zwischen dieser einzigartigen, gottempfangenen Ordnung und irgend einem der vielen Systeme zu versuchen, die der Menschengeist zu verschiedenen Zeiten der Geschichte für die Herrschaft menschlicher Einrichtungen ersonnen hat. Ein solcher Versuch würde an sich schon einen Mangel an voller Wertschätzung für die Vortrefflichkeit des Werkes ihres großen Urhebers verraten. Wie könnte dem auch anders sein, wenn wir bedenken, daß diese Ordnung das wahre Muster jener göttlichen Kultur abgibt, die auf Erden zu errichten das allmächtige Gesetz Bahá`u`lláhs bestimmt ist.
Das Bahá`i- Gemeindewesen der Zukunft, für das diese umfassende administrative Ordnung das alleinige Fachwerk bildet, steht, sowohl der Theorie als auch der Praxis nach, nicht nur einzig in der gesamten Geschichte der politischen Einrichtungen, sondern auch ohne Gegenstück in den Annalen aller anerkannten Religionssysteme der Welt da. Keine Form demokratischer Regierung, kein System autokratischer oder diktatorischer Art, sei es monarchisch oder republikanisch, kein vermittelnder Plan einer rein aristokratischen Ordnung und selbst keine der anerkannten Formen von Gottesherrschaft, sei es nun die hebräische Gemeinschaft, seien es die verschiedenen christlichen Kirchenorganisationen oder das Imamat oder Kalifat im Islam - keines von ihnen kann mit der von der Meisterhand ihres vollendeten Baumeisters gebildeten administrativen Ordnung gleichgesetzt oder als mit ihr übereinstimmend bezeichnet werden.
Diese neugeborene Verwaltungsordnung verkörpert in ihrem Bau gewisse Elemente, die in jeder der drei anerkannten Arten weltlicher Regierungsformen zu finden sind, ohne doch in irgend einer Hinsicht eine bloße Wiederholung irgend einer unter ihnen zu sein und ohne in ihrem Gang irgend welche der beanstandbaren Züge einzuführen, die jenen angestammtermaßen eigen sind. Sie verschmilzt und birgt , wie keine von sterblicher Hand geformte Herrschaft es seither vollbracht hat, die zweifellos in jedem dieser Systeme enthaltenen gesunden Bestandteile miteinander in Einklang, ohne die Reinheit jener gottgegebenen Wahrheiten, auf die sie sich letztenendes gründet, zu verfälschen.“
(Aus Shoghi Effendi „Die Sendung Bahá`u`lláhs“, S67 ff, 1948)