Die Weltwirtschaft Bahá´u´lláhs
von Horace Holley
Bahá i Briefe 1970/39
Strukturen einer neuen Ordnung
Ohne Beispiel in der Menschheitsgeschichte ist die Wucht, mit der konstruktives Denken aus dem privaten Bereich auf das Studium der gesellschaftlichen Grundstruckturen verlagert worden ist, seit verantwortliche Persönlichkeiten in allen Ländern ihre Verpflichtung erkennen, dem allgemeinen Problem der Unruhe und Niedergeschlagenheit in unserer Gegenwart Beachtung zu schenken. Es ist deshalb höchste Zeit, davon Kenntnis zu nehmen, daß schon im vorigen Jahrhundert der Plan einer Weltordnung vorgetragen würde, die nicht nur viele Vorschläge vorwegnimmt, die heute ernsthaft erörtert werden, sondern auf der wichtigsten Grundlage aufbaut: auf einer genauen Analyse der Krankheit, die unser modernes Leben befallen hat.
Für jeden, der sich ernsthaft um das Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse bemüht - ob er sie nun mehr unter wirtschaftlichen, unter politischen oder soziologischen Gesichtspunkten betrachtet - ist es wichtig hinzuzulernen , dass seit mehreren Generationen ein Schriftgut existiert, dessen klare Prinzipien und Lehren die Schwierigkeiten, die aller Welt auf den Nägeln brennt, von ihrem Wesenskern her anpackt.
Die Weltordnung Bahá´u ´lláhs geht in ihrer Reichweite und Zielsetzung weit über das verspätete Echo hinaus, das Wirtschaftler und Staatsmänner in den letzten Jahren unter Druck der Ereignisse auf das Unheil unserer Zeit und seine Gefahren hervorgebracht haben. Sein Prinzipien gründen sich auf organische Gesetze der menschlichen Entwicklung. Sie deuten unser Gegenwartsproblem nicht als eine vorübergehende Gleichgewichtsstörung der Industrieproduktion oder des Welthandels im Gefolge der industriellen Revolution, sondern als einen existentiellen Bewegungsablauf in der Menschheit als Ganzem. Sie stellen die notwendige Verbindung zwischen Geist und Praxis her, die allein dem gesellschaftlichen Mechanismus Leben einhauchen kann.
Ein sorgfältiges Studium dieses Schriftguts verdeutlicht, dass Bahá´u´lláh an jedem zentralen Wendepunkt der gesellschaftlichen Entwicklung ansteht, in dem der lange geschichtliche Trend zur Verschiedenartigkeit der Sprache, der Sitten, der bürgerlichen und religiösen Gesetze wie auch der wirtschaftlichen Gebräuche zu Ende gegangen ist und die Bewegung in Richtung auf die Einheit zurückpendelt. Die Motivation der Menschen im vergangenen Zeitalter war notwendigerweise kämpferisch; die Motivation des Menschen im neuen Zeitalter ist notwendig kooperativ.
Von diesem Blickpunkt her sind die europäischen Kriege und die pausenlose Folge internationaler Verwirrungen ihrem Wesen nach nichts anderes als lebhafte Anzeichen dafür, dass die Menschheit, rein aus geistiger Trägheit, nach der alten , wettkampforientierten Motivation weitermacht, obwohl längst Verhältnisse entstanden sind, die die Zusammenarbeit und die Einheit existenznotwendig machen. Statt mit einer vorübergehenden Gleichgewichtsstörung haben wir es mit der zwingenden Notwendigkeit zu tun, die gesamte Struktur unserer Zivilisation umzuwandeln. Einrichtungen und gesellschaftliche Organismen, die im Zeitalter der Verschiedenartigkeit und des Wettbewerbs geschaffen wurden, sind für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse im Zeitalter der Zusammenarbeit und des Friedens unbrauchbar geworden. Unsere Gegenwartskrise enthüllt immer klarer die tragische Tatsache, dass die Menschen in ihrem Streben nach den Gottesgaben des Friedens und der maßvollen Versorgung zu Mitteln greifen, die den entgegengesetzten Zielen des Krieges und der Zerstörung entsprechen.
Ursache und Wirkungen
Die neuen Verhältnisse, die auf jede menschliche Tätigkeit einwirken, sind das Ergebnis der materiellen Welteinheit, die der technische Fortschritt bereits im vorigen Jahrhundert mit sich gebracht hat. Die Arena der Menschlichen ist zur Einheit geworden. Nicht länger haben wir eine Reihe isolierter Kulturkreise. Zum ersten mal in der Weltgeschichte gilt das Gesetz von Ursache und Wirkung für die Gesellschaft so sicher und unwiderruflich, wie es im stofflichen Universum gilt. Die Folge ist, dass jede öffentliche Aktion ihre unmittelbare Reaktion hat. Nationale, rassische oder klassenorientierte Bewegungen sind nicht mehr isoliert und unverantwortlich vorstellbar, nicht mehr dazu geeignet, genau bestimmte und begrenzte Ziele zu erreichen, wie etwa im Mittelalter ein kleines. kompaktes Heer sich frei unter unbewaffneten Bauern bewegen konnte. Heute beeinflusst jede soziale Bewegung oder Strömung die Gesamtstruktur der Gesellschaft und bringt Wirkungen allgemeiner Art mit sich.
Wie dieses neue Gesetz von Ursache und Wirkung bislang isolierte Erdteile zu einer Schicksalsgemeinschaft verflicht, so können auch innerhalb des einzelnen wirtschaftlichen oder politischen Nationalbereiches die Wirkungen politischer oder wirtschaftlicher Maßnahmen nicht länger auf ihr jeweiliges Sachgebiet begrenzt werden, sie weiten sich auf die gesamte Nation aus und rufen überall Folgen hervor. Die Menschheit ist nicht nur durch ihre geographischen Verbindungen zu einer organischen Einheit geworden, vielmehr sind die Elemente ihrer Zivilisationsstruktur wechselseitig abhängig geworden und haben äußerlich unzusammenhängende Seinsbereiche wie Geschäftsleben und Religion, Regierung und Philosophie durch neue Beziehungen verknüpft. Die praktische Bedeutung dieses Sachverhalts liegt darin, dass Politik nicht mehr ausschließlich Politik und Wirtschaft nicht mehr nur Wirtschaft sind, sondern beide nichts anderes als Facetten der einen, unteilbaren Substanz menschlichen Lebens.
Wir sind, mit anderen Worten, auf einer Stufe der menschlichen Entwicklung angelangt, auf der "sittlichen Werte" - die Frage, was dem Allgemeinmenschlichen und nicht nur irgendwelchen Gruppeninteressen nützt - nicht nur die Wünschbarkeit, sondern auch die Durchführbarkeit jeder politischen Zielsetzung und jedes Sozialprogramms bestimmen. Das ist der Grund, warum sich die Weltkrise der Gegenwart jedem Bemühen, sich unter die Kontrolle normaler gesellschaftlicher Machtmittel zu bringen, entzieht. Wenn wieder mal ein Weltkrieg droht, nennen wir die Krise "politisch" und strengen uns an, sie mit Mitteln der Staatsmacht zu beherrschen. Spitzt sich eine wirtschaftliche Depression zu, bezeichnen wir die Krise als "wirtschaftlich" und versuchen, ihrer aus wirtschaftlichen Institutionen aus Herr zu werden. Es wäre genau so logisch, die Krise "religiös" zu nennen und unsere Wiedergenesung vom Einfluss der Kirchen zu erhoffen. In Wirklichkeit ist die Krise politisch, wirtschaftlich und religiös zur gleichen Zeit; aber die Menschheit besitzt kein verantwortliches, maßgebendes Machtmittel, das alle Faktoren aufeinander abstimmen und einen weltweiten Plan ins Leben rufen könnte, dar alle Faktoren in Rechnung zieht.
Diese Überlegungen enthüllen die existentielle Bedeutung, die einem neuen Prinzip des Handelns, einem neuen System von Verhaltensmustern und einem neuen Zugang zu umfassendem Verhältnis zukommt, wie sie der Student der Gesellschaftswissenschaften in den Lehren Bahá´u´lláhs vorfindet. Hier begegnet er einer Weltanschauung, die sich über Orts- und gruppengebundene Interessen erhebt, einem durchgeistigten Glauben an die göttliche Vorsehung von solcher Tiefe, dass er die Gewissheit schafft, die Menschheit werde durch schlimmsten Sturm der Verwirrung und des Kampfes in ihrer gesamten Geschichte sicher hindurchgeführt.
Ganz im Gegensatz zu gesellschaftlichen Plänen, die ein abstraktes System der politischen Ökonomie ausdenken und es mit oder ohne äußerliche Gewalt der Menschenwelt aufzwingen wollen, wobei die Kompliziertheit des menschlichen Wesen naiv übersehen wird, - ganz im Gegensatz hierzu wirken die Grundsätze Bahá ´u´lahs aus dem Herzen heraus in die Gesellschaftsstruktur hinein. Seine Prinzipien erläutern die geistige Natur des Menschen als seine eigentliche Wirklichkeit und entwerfen das Bild einer Weltkultur, die Schritt für Schritt durch die freiwillige Tätigkeit derer realisiert wird, die sie verstehen, sie als Wahrheit annehmen und ihre Errichtung als die Erfüllung ihrer höchsten persönlichen Sehnsucht erstreben.
Bahá´u´lláhs Ziel ist die Einheit der Menschheit in der Welt des Bewusstseins und des Geistes. Diese geistige Einheit bewirkt, dass die zwangsläufig entstehende äußerliche Einheit dem Menschen zum Segen gereicht, zum Werkzeug des Friedens und der Zusammenarbeit , und nicht zum Fluche, zum Instrumentarium des Chaos und des Kampfes. Der Sauerteig geistiger Erkenntnis wird jene Vorurteile, die heute die Herzen trennen und die Geister verwirren, die Nationen, Klassen und Bekenntnisse konfrontieren, in gemeinsame Gesetzestreue und tätige Kameradschaft verwandeln, er wird die Gesellschaftsordnung mit reiner Ethik und wahrer mystischer Erfahrung in eins setzen.
Wenn wir nach materiellen Überfluss, nach Freizeit, Sicherheit, breiter Bildung, nach einer Bezähmung der Natur und nach gesellschaftlichen Verhältnissen streben, die allen Menschen den Genuss schöpferischer Beziehungen ermöglicht, wenn wir denjenigen Visionen und Sehnsüchten Gestalt zu geben suchen, denen sich die Gesellschaft heute noch widersetzt, dann steht über dem Tor zur Verwirklichung diese Ziele das Motto "Einheit und Zusammenarbeit". Wie die Einheit der Persönlichkeit dem Individuum Kraft verleiht, so wird der Geist der Kameradschaft Fähigkeiten erwecken, die heute noch im Unterbewusstsein der menschlichen Rasse schlafen.
Durch viel Gleichnisse und Beispiele verdeutlicht Bahá´u´lláh die Möglichkeiten dieses Kameradschaftsgeistes und seiner Eigenschaft, die Gesellschaft aus dem Kampfplatz feindlicher Gruppen in eine weltumspannende, organische Struktur zu wandeln. Das Schriftgut, das Seine Einsicht in die menschliche Wirklichkeit ausdrückt, wie sie auf den verwandelten Geist des einen Gottes antwortet, verbindet die systemnotwendigen Entwicklungsstufen von einer neuen Weltschau des einzelnen Menschen zu einer Weltordnung, in der die heute getrennten und ziellosen Teilaspekte des Gesellschaftslebens koordiniert sind; Erziehungswesen, religiöse Lebenshaltung; Gewerbefleiß, Finanzwesen, Handel und Staatsführung....
Die Unruhe unserer Gegenwart bleibt solange ohne wirkliche Bedeutung und ohne inneren Wert, bis wir sie vornehmlich als einen Bewegungsablauf in der ganzen Menschheit und in zweiter Linie als eine Störung der institutionellen Elemente unserer Kultur erkennen. Politische Sachzwänge und wirtschaftliche Krisenzustände sind so akut geworden, daß die Symptome fälschlich als die eigentliche Krankheit angesehen werden. Das erste Prinzip, die Grundlage, auf der die neue Ordnung ruht, ist die Einheit der Menschheit, die wechselseitige Abhängigkeit der Menschenrasse von einem gemeinsamen Ursprung und einem gemeinsamen Schicksal. Die Gesellschaftsordnung, die heute funktionsunfähig wird, gründet sich auf der Unterstellung der Verschiedenartigkeit und der Getrenntheit, die das öffentliche Leben auf dem Beweggrund des Wettkampfes herangezüchtet hat.
Der Untergang Roms als Lehrstück
Glücklicherweise bietet die Geschichte unseres eigenen Kulturkreises das Beispiel eines Zeitalters, das in einem kleineren Rahmen große Ähnlichkeiten mit den gegenwärtigen Verhältnissen entwickelte.
Von einem gewissen Punkt an baute das Römische Reich gleichfalls eine Zivilisation auf, die den besten Interessen der Menschheit zuwiderlief. Auch die institutionalisierte römische Gesellschaft trat in eine Übergangszeit ein, in der der Instinkt des Wettkampfes versagte, weil er sich politischen, wirtschaftlichen und religiösen Problemen gegenüber sah, die für eine Lösung mit herkömmlichen Mitteln zu sehr verwickelt waren. Durch die Macht des christlichen Glaubens jedoch wurden diese Probleme in einem menschlichen Prozess von höchster Qualität verwandelt. Jene, die mit der Gesellschaftswissenschaft der damaligen Zeit indoktriniert waren, haben die Ansprüche des christlichen Glaubens konsequent von sich gewiesen; aber es bleibt eine historische Tatsache, daß der Strom der menschlichen Entwicklung die zivilisatorischen Einrichtungen aufgab und durch die Kanäle einer Bewegung weiter floss, die den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Menschen besser entsprach. Nicht durch Reorganisation von Preisen, Löhnen, Verfassungen und Handelswegen wurde die Gesellschaft wiederaufgebaut, sondern durch die Loyalität wiedergeborener Einzelmenschen, die zu einer kooperativen Gruppe verschweißt waren. Bis an die Grenzen menschlicher Fähigkeit gingen die Gläubigen beim Aufbau einer Gesellschaft, in der eine Verbundenheit und ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, den Gefühlen zwischen Familienmitgliedern vergleichbar, die formalistischen Rechtswege und gefühlloser Höflichkeit ersetzte, welche die politischen und wirtschaftlichen Lehrmeinungen des zugrunde gerichteten Staates den Menschen einschärften.
Das Wesen jener historischen Erfahrung liegt im Triumph der Menschlichkeit über die Zivilisation. Die frühen Christen versenkten sich in den ewigen Strom menschlicher Wirklichkeit, holten eine neue Schau Gottes hervor, stellten sich, nur mit hingebungsvollem Glauben gewappnet, unerschütterlich den Zuckungen einer zusammenbrechenden Gesellschaft entgegen, bis sie schließlich den Grund für ein "neues Zeitalter" legen konnten. Ihr Glaube an Christus entfesselte in ihren Seelen die geheimnisvollen Kräfte des Geistes; durch ihr Opfer konnten sie die Gesellschaft auf einer höheren Stufe neu bilden, näher dem Endziel einer kooperativen Welt.
Die frühchristliche Welt war jedoch räumlich eng begrenzt, umringt von barbarischen Horden; es war ihr verwehrt, die christliche Erfahrung auf die ganze Menschheit auszudehnen. Ihre räumliche Expansion kam zum Stillstand; die Christenheit wappnete sich zur Verteidigung und ließ in ihren eigenen Reihen die fatalen Einflüsse der Zwietracht und der Gewalt wirken. Nachdem der neue Gesellschaftsorganismus das Gesetz allumfassender Liebe verleugnet hatte, enthüllten sich Fadenrisse in Fragen wissenschaftlicher Wahrheitssuche und deckten damit eine geistige Krankheit auf. Die Spaltungen erweiterten sich immer mehr, bis ihnen schließlich der Protestantismus Dauer verlieh. Eine moderne Zivilisation mit ihrem inneren Konflikt zwischen "säkularen" und "religiösen" Werten war die unausweichliche Folge. Nichts in diesem allmählichen Verfall stützt jedoch den Zweifel an der wahren Bedeutung der Religion. Das Christentum hat in der Geschichte die Macht des Herzens wiederhergestellt.
Gleichwohl ist die "Wahrheit" des Christentums und aller anderen Offenbarungsreligionen nicht eine Konstante, sondern eine Variable: ein Aufstieg zu einer neuen Schau Gottes, gefolgt von einer Zeit der Verfinsterung und des Verfalls. Es geht um einen Frühling geistiger Fruchtbarkeit, dem des Sommers Reife und die herbstliche Ernte folgt, bis der Kreislauf in winterlicher Kälte endigt. Die Kultur läßt sich mit einer Uhr vergleichen, die immer wieder aufgezogen werden muss. Der geschichtliche Prozess, der das Christentum von einer Quelle innerer Erneuerung zu bloßen Institutionalismus abwertet, wirkte sich auch im Judentum, im Islam, im Buddhismus und den anderen Religionen aus. Jede dieser Religionen erneuerte einen Bereich des Menschlichen, belebte die Kultur, schuf neue und bessere Verhältnisse für die Menschheit und starb schließlich langsam ab, um einen weiteren Propheten und einer neuen Wiederbelebung des Glaubens Platz zu machen.
Ein neuer Zyklus menschlicher Macht
Bahá´u ´lláh, dessen Sendung ´Abdu´l-Bahá in Europa und Amerika bekannt machte, vollendete den Kreis des Religiösen als Ausdruck der wahren Natur des Menschen im Verhältnis zu Gott, zur Gesellschaft und zum stofflichen Weltall. Er führte die Spitzbogen auf, die Jesus und die anderen Propheten entworfen hatten. In Seinen Lehren sind die notwendigen Verbindungen zwischen Ethik, Wissenschaft und Soziologie hergestellt; sie tragen das unteilbare Prinzip der Liebe in die Gesellschaft und die Kultur hinein. Bahá´u´lláh ist der erste, der die Menschheit als einen geeinten Organismus mit koordinierten Hilfsquellen des Geistes und des Herzens versteht. "Es rühme sich keiner, da er sein Vaterland liebt", erklärte Er vor über hundert Jahren, "vielmehr rühme sich der, der das ganze Menschengeschlecht liebt". In der selben Opferhaltung, wie sie Jesus der Zivilisation Palästinas und Roms entgegensetzte, offenbarte Bahá´u ´lláh eine geistige Macht, die gleichfalls eine Bewegung des Glaubens und der Hingabe im Volk, begleitet vom erbitterten Hass und Widerstand seiner Beamtenführer, hervorrief. Heute hat Bahá´u ´lláhs Lehren geschichtliche Dimension - eine Geschichte, die das Blut persischer Märtyrer unauslöslich niedergeschrieben hat.
Die Bewegung erfasste den Westen durch die Gestalt ´Abdu´l-Bahás, der 1911 und 1912 durch Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika reiste, um Bahá ´u ´lláhs Lehren auf die politischen, wirtschaftlichen und soziale Probleme der Zeit anzuwenden. Am Vorabend des großen Krieges, den Er voraussah und vor dem Er die Menschen warnte, sprach Er im September 1911 im Londoner City Tempel folgende bedeutsamen Worte:
"Dies ist ein neuer Zyklus menschlicher Macht. Alle Horizonte der Welt sind erleuchtet, und die Welt wird in der Tat ein Garten und ein Paradies werden. Es ist die Stunde der Einheit aller Menschensöhne, des Zusammenschlusses aller Rassen und Klassen. Von überkommendem Aberglauben, der die Menschen in Unwissenheit gefangen hielt und die Grundlagen wahrer Menschlichkeit zerstörte, sind Sie heute befreit.
Die Gabe Gottes an dieses erleuchtete Zeitalter ist die Erkenntnis der Einheit des Menschengeschlechts und der grundlegenden Einheit der Religion. Der Krieg wird aufhören zwischen den Nationen, und durch den Willen Gottes wird der Größte Frieden kommen. Die Welt wird als eine neue Welt gesehen, und alle Menschen werden wie Brüder leben.
In früheren Zeiten entwickelte sich ein Aggressionstrieb im Kampf mit wilden Tieren. Er ist nicht länger nötig; vielmehr besteht die Einsicht, dass Zusammenarbeit und gegenseitiges Verständnis die größte Wohlfahrt der Menschheit herbeiführen. Heute ist Feindseligkeit nur noch die Folge von Vorurteilen....Es gibt einen Gott, die Menschheit ist eins, die Grundlagen der Religionen sind eins. Laßt uns Ihn anbeten, und Ihn lobpreisen für alle Seine großen Propheten und Boten, die Seine Klarheit und Seine Herrlichkeit offenbarte".
Diese Auffassung der weltweiten Unruhe als einer Sammlungsbewegung für die noch unerschlossenen Kräfte der Menschheit, die sich in einen "neuen Zyklus menschlicher Macht" ergießen wollen - diese Auffassung entspringt den Tiefen der Wahrheit. Sie faßt die komplexen Streitfragen, welche die Spezialisten, auf viele Sachgebiete zersplittert, getrennt voneinander nicht klären können, in einem Punkt zusammen. Sie erneuert für die menschliche Vorstellungskraft, das menschliche Verständnis und den menschlichen Willen die Kontrolle über die Ereignisse, die scheinbar von einer unkontrollierbaren gesellschaftlichen "Maschinerie" beherrscht werden.
Wir sollten jedoch der zitierten Erklärung ´Abdu´l-Bahás ein anderes Wort zur Seite stellen, das Er am 9.Juni 1912 im Baptistentempel von Philadelphia sprach.:
"Wahre Religion ist die Quelle der Liebe und Verständigung zwischen den Menschen, sie führt zur Entwicklung lobenswerter Eigenschaften. Die Menschen halten sich indessen an die Fälschung und Nachahmung, gleichgültig gegen die einigende Wirklichkeit; dadurch sind sie des Strahlenglanzes der Religion beraubt. Sie folgen dem Aberglauben, den sie von ihren Vätern und Vorfahren ererbt haben.…
Was als Lebensspender gedacht war, ist zum tödlichen Gift geworden. Was Beweis der Erkenntnis sein sollte, ist jetzt Zeugnis der Unwissenheit. Was das menschliche Wesen verfeinern sollte, hat sich als seine Erniedrigung erwiesen. Deshalb hat sich der Horizont des Gläubigen mehr und mehr verengt und verfinstert; die Reichweite des Materialismus hingegen ist weiter geworden und fortgeschritten; denn der Gläubige hat sich an den Nachahmungen und Fälschungen gehalten, die Heiligkeit und die göttliche Wirklichkeit der Religion hat er vernachlässige und aufgegeben. Wenn die Sonne untergeht, fliegen die Fledermäuse umher; das ist ihre Zeit hervorzukommen, weil sie Geschöpfe der Nacht sind".
Hier haben wir die Kehrseite der Medaille: die negativen Verhältnisse, die den positiven entgegenstehen, die blinde Unterwerfung unter die äußerliche, "institutionelle" Wahrheit im Gegensatz zum Glauben an menschliche Werte. Mit anderen Worten: die Zivilisation im Gegensatz zu den wirklichen Interessen der Menschheit. Zwischen diesen entgegengesetzten Polen fließen Ströme von unermesslicher Spannung durch die moderne Gesellschaft; sie vernichten alle Formen organisierter Selbstsucht und erquicken gleichzeitig den Geist und das Herz der Menschen mit der Fähigkeit zur selbständigen Erkenntnis, dass unser Geschlecht nur durch Einheit und Zusammenarbeit überleben kann.…
Ziele des gesellschaftlichen Fortschritts
Chaos und Revolution werden fortbestehen und anwachsen, bis gesellschaftliche Gerechtigkeit das Instrument eines Weltstaats geschaffen hat - einer Weltregierung, die die Souveränität über die ganze Menschheit besitzt und die Nationalstaaten wie Provinzen von begrenzter Zuständigkeit unterordnet. Dies ist die zentrale Aufgabe der heutigen Welt, eine unausweichliche Verpflichtung, die in finanziellen, politischen, sozialen und sittlichen Kategorien so deutlich geschrieben steht, daß sie jeder lesen kann.
Der Weltstaat unterscheidet sich von den gegenwärtigen Nationalstaaten nicht durch die größere räumliche Ausdehnung seiner Souveränität, sondern gleichwohl durch das Ausmaß seiner gesellschaftlichen Verantwortlichkeit. Allein der Weltstaat kann die Abrüstung durchsetzen, eine stabile Währung schaffen, die Zwietracht der Gesellschaftsklassen schlichten, ein Bildungssystem aufbauen, das den elementaren menschlichen Bedürfnissen gerecht wird, und die unheilvolle Gefahr überwinden, die in den widersprüchlichen Theorien des Kapitalismus und des Kommunismus lauern. Nicht ehe der Weltstaat besteht, kann die Trennung zwischen "religiösen2 und "zeitlichen" Werten, der schlimmste Fluch menschlicher Erfahrung beendet werden. Der Weltstaat bedeutet gesellschaftliche Verwaltung durch die Erwählten der Menschheit - Persönlichkeiten, deren Organisationstalent von sittlichen Grundsätzen durchtränkt ist. Der Parteipolitiker ist es, der die gesellschaftliche Uneinigkeit aufrechterhält, damit er besser im Trüben fischen kann.
Der Weltstaat ist die einzig mögliche Grundlage der Stabilität für die Ortsgemeinden in aller Welt. Wenn der Weltstaat das erste Ziel des gesellschaftlichen Fortschritts ist, stellt die Neugeburt der Ortsgemeinde das zweite Ziel dar. Alle wesentlichen menschlichen Beziehungen werden auf örtlicher Ebene unterhalten. Unsere Gemeindeumwelt ist es letztlich, die die Qualität und Menschlichkeit unseres Lebens bestimmt. Hier setzt unsere innere Haltung den Kreislauf gesellschaftlicher Einflussnahme in Gang, der sich entweder zum Frieden oder zum Krieg zuspitzt. Hier prallt die gesellschaftliche Erziehung auf die unvoreingenommene Kinderseele, welche die Motive und Reaktionen des Erwachsenen bestimmt.
Um die Ortsgemeinde von einer kranken Zelle in einem zerrütteten Organismus zur gesunden Zelle in einem wohlproportionierten Organismus neu zu gestalten, müssen wir das Prinzip gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit vom politischen auf den wirtschaftlichen Bereich ausdehnen. In einem vitalen Gesellschaftskörper hat der einzelne nicht nur das unveräußerliche Recht auf Teilnahmen ab den Wahlen und auf den Schutz der Gerichte; er hat auch das unveräußerliche Recht auf seinen Lebensunterhalt - nicht im Sinne entwürdigender Fürsorge, sondern im Geiste eines grundlegenden Menschenrechts. Heute ist die politische Struktur sein Sieb, das die höchsten Sehnsüchte, die edelsten Motive und Eigenschaften der Menschheit in den Schmutz fallen läßt. Nichts kann den Makel tilgen, dass unsere modernen Staaten ursprünglich eher als Werkzeug des Krieges denn als Hort des Friedens geschaffen wurden…
Der Weltstaat so gut wie die wiedergeborene Ortsgemeinde sind Möglichkeiten in der menschlichen Entwicklung, deren Verwirklichung von einer neuen Skala politischer Motive und von einer neuen Dimension des gesellschaftlichen Bewusstsein abhängen. Das Endziel einer ganzheitlichen Weltwirtschaft setzt deshalb ein drittes Nahziel voraus, das mit den beiden umschriebenen Nahzielen des Weltstaats und der vertieften Ortsgemeinden eng verbunden ist: die Notwendigkeit geistiger Erziehung, die Stärkung des bislang passiven Idealismus in solchem Maße, dass die Menschen bewusst und gemeinsam umfassenden Zwecken folgen, dass sie nicht länger gesellschaftlich teilnahmslos zu warten, bis "bessere Zeiten" von allein kommen oder von ein paar Bankiers, Fabrikanten und Staatsmännern wie Geschenke zugeteilt werden.
Das Gewinnstreben allein kann keine gleichgewichtige, dauerhafte Kultur sichern. Weit stärker, weit "wahrer" und in der Tat weit menschlich-natürlicher ist das Streben nach Selbstverwirklichung und Erfüllung, wie es bei Kindern zu finden ist und wie es bei den wenigen Künstlern, Kunsthandwerkern und geistbewussten Männern und Frauen fortlebt, die es nicht zulassen, daß sie von den äußerlichen Einflüssen ihrer Umgebung verformt werden. Wie ungenügend das Gewinnstreben ist, wird uns klar, wenn wir uns auszumalen suchen, wie es sich innerhalb des Familienlebens auswirken würde. Jede Familie ist ein genossenschaftliches Wirtschaftssubjekt, das sich in einer wettkampforientierten Gemeinschaft am Leben zu halten sucht. Die Auflösung der Familie ist der Anfang vom Ende eines Zeitalters.
Heutzutage zieht die Erziehung vornehmlich darauf ab, die Waffen für den persönlichen Kampf ums Dasein in einer Wettkampfgesellschaft zu liefern. Diese Abschürfung der Vernunft und der sittlichen Haltung überlässt den Kern der Persönlichkeit - ihre Vorstellung vom Sinn des Lebens, ihre grundlegenden Motive - dem erdrückenden Einfluss einer bereits verrotteten Gesellschaft. Als Ausprägung unseres Kollektivbewusstseins kann und muss sich die Erziehung mit den menschlichen Grundwerten befassen.
Geistige Erziehung hat wenig mit den Unterrichtssystemen zu tun, die die Kirche für partikularistische Zwecke entwickelt haben. Sie ist Erziehung des ganzen Menschen zum nutzbringenden Leben in einer geeinten Gesellschaft, die ihre Gesetze und Prinzipien vom allumfassenden Grundgesetz der Liebe ableitet, eine Erziehung, die sich der Erscheinungsformen gesellschaftlicher Entwicklung bewusst ist und dementsprechend ihre wirtschaftlichen Mittel den wahren Zwecken und Zielen unterordnet. Wenn eine einzige Generation durch geistige Erziehung über die falschen Führer hinauswächst, welche die Vorurteile der Rasse, der Klasse, des Volkstums oder der Religion mit Vernunftsgründen zu untermauern trachten, dann kann die Menschheit in dem neuen Zeitalter der Zusammenarbeit und der Einheit sicheren Fuß fassen.
Diese drei Nahziele - ein Weltstaat, eine Neugeburt der Ortsgemeinden und geistige Erziehung - hängen wechselseitig voneinander ab. Keines kann ohne die beiden anderen verwirklicht werden. Alle drei Ziele sind heute in der menschlichen Gesellschaft latent vorgebildet. Sie werden Wirklichkeit in dem Maße, wie die Elite in allen Ländern sie einzeln oder in ihrer Gesamtheit als diejenigen Werte anerkennt, die die höchsten Vorstellungen und den stärksten Einsatz lohnen. Noch trägt freilich das Trägheitsmoment der vergangenen Entwicklung die Menschenwelt in die entgegengesetzte Richtung. Vergleichen wir die Kopfzahlen und die Hilfsmittel, die auf unsere Nahziele verwendet werden, mit den Kopfzahlen und Mitteln, die den althergebrachten Interessen im Rahmen einer wettkämpferischen Ordnung frönen, so begreifen wir aufs neue, wie tief die Krise ist, in der wir stecken.
Was wir vor allem anderen heute brauchen, ist eine zuverlässige Quelle der Überzeugung, daß die Kraft umfassender Wahrheit hinter der Bewegung zur Weltordnung und zum Frieden steht, daß jede Gegenwehr ihrem Wesen nach negativ ist und letzten Endes überwunden werden wird, einerlei, ob die unmittelbare Zukunft hell oder düster ist. Nur bewußter Glaube kann zwischen den Waagschalen der Evolution und der Revolution, der Ordnung und des Chaos den Ausschlag geben.
Die Grundsätze Bahá´u´lláhs
Bahá´u´lláh ist die Quelle diese bewussten Glaubens. Seine Lehren verwandeln politische und wirtschaftliche Probleme in Bewährungsproben für menschliche Tugenden und Liebe. Eine Zusammenfassung dieser Lehren lässt folgende Grundwahrheiten hervortreten:
Es gibt organische Kreisläufe in der Menschheitsentwicklung, die durch die Lebensdauer einer Religion abgegrenzt sind und ungefähr einen Zeitraum von tausend Jahren umfassen. Ein gesellschaftlicher Zyklus beginnt mit dem Auftreten eines prophetischen Religionsstifters, dessen Einfluss und dessen Lehren das Seelenleben des Menschen erneuern und eine Woge des Fortschritts entfesseln. Jeder Zyklus zerstört die überholten Glaubensgrundsätze und Einrichtungen des vorhergehenden und schafft eine Kultur auf der Grundlage von Überzeugungen, die den menschlichen Bedürfnissen der Zeit besser entsprechen. Im Verlauf der Jahrhunderte zerfällt diese Kultur, weil menschliche Lehrsätze die vom Offenbarer gelehrte Wirklichkeit zurückdrängen; die alte Kultur muss deshalb einem neuen Gottesbegriff Platz machen.
In der Vergangenheit war der Einfluss jedes Religionsstifters durch die räumliche Trennung der Rasse und Nationen auf eine bestimmte Rasse oder Weltreligion begrenzt. Der gegenwärtige Zyklus hat zum ersten mal weltweiten Einfluss und umfassende Bedeutung. Er betont den Glauben an die geistige Einheit der Menschheit und wird eine organische Weltordnung ins Leben rufen. Bah´ú´lláh ist der geistige Beweis für den Anspruch eines allumfassenden Zyklus; der Aufschwung der Wissenschaft und Technik ist der intellektuelle Beweis. Dieser Aufschwung der Wissenschaft macht den Bruch zwischen dem Zeitalter des Wettkampfes und dem Zeitalter der Zusammenarbeit deutlich. Die Wissenschaft hat den Menschen seiner stofflichen Hilflosigkeit der Natur gegenüber enthoben, seine Kräfte vervielfacht und ihm zugleich ein völlig neues Ausmaß sittlicher Verantwortung zugeschoben. Wenn primitive Stammesmoral fortbesteht, wird sich die Wissenschaft als zerstörerisch erweisen. Ihre Kräfte können nur von einer geeinten Menschheit, die nach weltweitem Wohlergehen und Wohlstand strebt, gezähmt werden.
Sektiererische Kirchen werden aufgegeben und durch ein geistiges Zentrum in jeder Gemeinde ersetzt, das der Andacht und dem Gebet gewidmet ist und keines Berufspriestertums mehr bedarf. Religiöse Vorstellungen und Praktiken, die der Wissenschaft widersprechen, sind Aberglauben und können nicht überleben. Nicht das Ritual, nicht der Katechismus, sondern die unmittelbare Inspiration aus dem Leben und der Botschaft des Offenbarers ist die Grundlage der Religion. In dem Maße, wie die Wissenschaft weiter fortschreitet, werden die Menschen neu erkennen, dass sie allezeit von der Vision der Liebe und Brüderlichkeit abhängig waren, die die Offenbarer Gottes immer wieder in der Geschichte zum Ausdruck brachten, und dass sie als einzige Lebewesen die Aufgabe haben, durch die bewusste Erkenntnis des Willen Gottes ihr Leben auf immer höhere Fähigkeiten hin zu vergeistigen. Der Offenbarer ist demnach der Brennpunkt der menschlichen Entwicklung.
Wie die Ortsgemeinde von der nationalen Gemeinde abhängt, so ist die Nation von der Gemeinschaft aller Nationen abhängig. Die Theorie nationaler Souveränität ist durch die Tatsache allseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit ad absurdum geführt; sie muss in der politischen Praxis aufgegeben werden. Alle Staatsmänner sind ihrem Schöpfer für den Schutz des Volkes verantwortlich. Sie müssen Schritte unternehmen, um ein Weltgemeinwesen zu schaffen, dem allein umfassende Souveränität zuerkannt werden kann. Wesentlicher als die Tatsache, dass Rohstoffe und Fertigwaren über die Kontrolle irgendeiner Nation hinaus weltweit ausgetauscht werden, ist die Tatsache, dass die Menschheit ein einheitlicher Organismus ist, der ein einheitliches Recht und eine starke Exekutive braucht. Die geordneten Arbeitsabläufe einer Weltregierung leistet Gewähr dafür, dass sich gesellschaftliche Sittlichkeit in einer Loyalität der ganzen Menschheit gegenüber erfüllt.
Das Naturgesetz vom Daseinskampf gilt für den Menschen nicht mehr, wenn er sich seiner verständlichen und geistigen Kräfte bewusst geworden ist. Es wird vom höheren Gesetz der Zusammenarbeit abgelöst. Unter diesem höheren Gesetz wird der einzelne Mensch eine viel größere Rechtsfreiheit als diejenigen eines politischen passiven Bürgerrechts genießen. Seine organisch strukturierten Menschenrechte werden umfassende Erziehung und den täglichen Lebensunterhalt einschließen. Die Ortsgemeinden werden so organisiert werden, dass sie dieser Rechtsfreiheit Gestalt verleihen. Die öffentliche Verwaltung wird vom Volksbetrug der Parteipolitik auf diejenigen übergehen, die ihr Amt als geheiligte Treuhandschaft im Dienst an den göttlichen Prinzipien der Weisheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit zu erleben fähig sind. Einkommensteuern sind an die Ortsgemeinden abzuführen, nicht an den Nationalstaat, der seinerseits der Gemeinde eine sichere materielle Grundlage gibt und sie in den Stand setzt, die notwendigen Vorkehrungen für die Wohlfahrt und den Schutz des Volkes zu treffen. Das nationale Schatzamt wird seine Einnahmen von den Ortsgemeinden, nicht von den einzelnen Bürgern beziehen. Die Betonung wird auf die Ortsgemeinde zurückverlegt, weil dort die Lebensfragen zuerst auftreten und zuerst gelöst werden müssen. Im Zeitalter der Kriegsführung entwickelt der gegenwärtige Nationalstaat viele Tätigkeitsbereiche und Machtmittel, die durch die Errichtung eines Weltstaats überflüssig werden. Der Weltstaat wird die Rechtsgrundlage für weltweite Ordnung und Entwicklung schaffen.
Wirtschaftliche Stabilität hängt von gesitteter Solidarität und von der Erkenntnis ab, daß Wohlstand ein Mittel zum Zweck und nicht der Sinn des Lebens ist. Diese Erkenntnis ist wichtiger als die durch Bildung ausgeklügelter sozialreformischer oder gar kommunistischer Planungen. Der springende Punkt ist der Durchbruch zu einem neuen Bewusstsein, einem neuen Geist der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Hilfe, nicht die allseitige Hörigkeit gegenüber einem starren System, das jede sittliche Verantwortung des einzelnen abwürgt. Unter den Verhältnissen der Zusammenarbeit und des Friedens kann die Geißel der Unterbeschäftigung in die Gelegenheit zur Freizeitgestaltung, zum Kulturfortschritt und zur persönlichen Entwicklung verwandelt werden. Den Arbeitnehmern steht nicht nur der Lohn, sondern auch ein fest vereinbarter Anteil am Gewinn ihres Unternehmens als dessen Teilhaber zu. Die Grundlage des Gewerbefleißes ist die Landwirtschaft; wer auf dem Lande lebt und arbeitet, verdient besondere Anteilnahme. Die Industrie wird einfacher gestaltet sein in dem Maße, wie die Menschen ihre Existenz und Tätigkeit ins Gleichgewicht bringen. Bahá´u´lláh offenbarte auch ein Erbschaftssystem, das die Möglichkeit bietet, die Übertragung großer Vermögen der Gemeinde als Ganzem nutzbar zu machen, ohne daß der einzelne eines gewissen Maßes an Freiheit verlustig geht. Nach dieser Methode wird die Erbschaft in verhältnisgerechte Teile für die überlebenden Verwandten und, ,höchst bedeutsam, für den Lehrer gegliedert; die Lehrer haben ja zur Charakterbildung und Entwicklung des Verstorbenen beigetragen und erhalten deshalb ihren Teil an seinem Erbe.
Ein weiteres, mit allem Nachdruck niedergelegtes Prinzip besagt, dass Loyalität gegenüber einer gerechten, verfassungsmäßigen Regierung zu den Grundbedingungen einer religiösen Einstellung zum Gesellschaftlichen gehört. Es gibt keine Rechtfertigung für die Ansicht, kirchliche Dogmen und Willensäußerungen hätten größeren Anspruch auf Gehorsam als der "weltliche" Staat. Gewiss kann der Glaube an Gott nicht vom Staat kontrolliert werden; auch kann der Staat nicht vom Bürger verlangen, dass er seiner geistigen Überzeugung untreu wird. Aber abgesehen hiervon, stehen alle Fragen von öffentlichen Interesse uneingeschränkt unter der Hoheit der Regierung.
Weder die Demokratie noch die Aristokratie allein bieten die richtige Grundlage der Gesellschaft. Die Demokratie ist hilflos gegen innere Zwietracht; die Aristokratie stützt sich auf systemfremde Gewalt. Notwendig ist es, beide Prinzipien zu vereinen: Verwaltung und Herrschaft durch die Elite der Menschheit, die in allgemeiner Wahl ermittelt und von einer Weltverfassung, die Grundsätze von sittlicher Wirklichkeit verkörpert, kontrolliert wird.
Die geistige Grundlage der Menschheit ist die umfassende Erziehung. Sie vermittelt den Einzelmenschen wirtschaftliche mit kulturellen Werten, sie koordiniert Verstand und Gemüt, sie belebt Seelenkräfte durch die Erkenntnis der Ziele wahrer Religion. "Die Quelle alles Wissens" sagt Bahá ´u ´lláh, "ist die Erkenntnis Gottes". Das erste gesellschaftliche Prinzip ist, wie Bahá ´u ´lláh nachdrücklich bestätigt, das Gesetz der Beratung. Er erklärt, die Lösung aller Probleme hänge von der aufrichtigen Bereitschaft aller Beteiligten ab, zur Diskussion der Fragen zusammenzukommen und die dabei getroffenen Entscheidungen zu achten. Der Funke der aufeinanderprallenden Meinungen offenbart nach Ábdu´l Bahá die Wahrheit. Heutzutage wird die "Wahrheit" in praktisch jeder Situation von Vorurteilen und handfesten Interessen überschattet. Von einem menschlichen Standpunkt her muss die Wahrheit alle Parteien umschließen. Der neue gesellschaftliche Organismus kann nicht in allen Einzelheiten vorherbestimmt werden; er muss heranwachsen.
In gegenwärtigen Übergang vom alten Zeitalter des Wettkampfes zum neuen Zeitalter der Zusammenarbeit ist das Leben der Menschheit in großer Gefahr. Es handelt sich um einen Mutationssprung, einen neuen Abschnitt der Weltgeschichte, einen Wendepunkt in der Entwicklung der Menschheit. Inmitten von geistiger Unwissenheit, nationalistischen Machtinteressen, Klassenkämpfen, wirtschaftlichem Ungleichgewicht, Neid und Begehrlichkeit stehen unermessliche Kräfte für neue, immer fatalere internationale Konflikte bereit. Nur eine gottgesandte Kraft, die Macht der Vorsehung, ein Impuls wie derjenige, den Christus vor 2000 Jahren in die Geschichte trug, kann die schlimmste Katastrophe abwenden. Dringend braucht die Welt das Bewusstsein der Verwandtschaft und Solidarität, der Zusammenarbeit und wechselseitigen Abhängigkeit; unumgänglich sind allgemeingültige Grundsätze und ein klar umrissenes Programm, das sie voll anerkannten Werte der Religion mit den Zielen und Zwecken der Gesellschaftspolitik vereint.
Wir haben den Menschen verboten, den Einbildungen ihres Herzens zu folgen, damit sie befähigt würden, Ihn, den höchsten Ursprung und Gegenstand aller Erkenntnis, zu erkennen und anerkennen möchten, was Ihm zu offenbaren beliebt. Sieh, wie sie sich in ihren leeren Einbildungen und eitlen Vorstellungen verfangen haben!
Bahá´u´lláh, Ährenlese