Bahá'í-Wahlen - Gedanken zur Bundestagswahl
Liebe Freunde,
ich bin von Herrn ... gebeten worden, einige Gedanken zu den anstehenden Bundestagswahlen im September mit Ihnen zu teilen. Dabei möchte ich insbesondere auf das Bahá'í-Verhältnis zum System der politischen Parteien sowie auf die Besonderheiten des Bundestagswahlrechts eingehen. Die Bundesrepublik Deutschland ist, der Regierungsform nach, eine parlamentarische Demokratie. Das bedeutet, dass, wie 'Abdu'l-Bahá es umschreibt, „die Ausführung der nützlichen Maßnahmen, die vorgeschlagen wurden, ... in die Hände derjenigen Personen gelegt [ist], die in den Beratungsgremien arbeiten“. Das Parlament ist die Stimme der Bürger und zentrale Institution desStaates. Als solcher gilt ihm in diesem Fall der von den Bahá'í-Schriften geforderte „Gehorsam gegenüber den Gesetzen und der Regierung“. Für 'Abdu'l-Bahá bedeutet dies, da „die Staatsgewalt [Deutschlands] republikanisch verfasst ist“, dass „die Bürger an den Wahlen und am politischen Leben der Republik teilnehmen“ sollten.
Auf der anderen Seite ist den Bahá'í parteigebundene politische Aktivität jeder Art untersagt. So sollen die Bahá'í davon "Abstand nehmen, sei es durch Worte oder durch Taten, sich mit den politischen Zielen ihrer jeweiligen Länder, mit den politischen Bestrebungen ihrer Regierungen und den Machenschaften und Programmen von Parteien und Fraktionen zu assoziieren. Sie beschuldigen nicht, ergreifen niemandes Partei, unterstützen keine Pläne und identifizieren sich mit keinem System, das den besten Interessen des Glaubens zuwiderläuft..." Die genaue Bestimmung des Rahmens, in dem diese Prinzipien angewandt werden müssen, muss jedoch genauer bestimmt werden. Der Hüter erklärt in einem in seinem Auftrag geschriebenen Brief, dass „ein ergebener Gläubiger ... sich unter gar keinen Umständen an ein bestehendes politisches Programm oder eine Regierungslinie binden [sollte], die von einer politischen Partei formuliert und propagiert wird“.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit erläutert weitergehend, dass die „Intentifizierung mit einer Partei solche Handlungen wie den Beitritt zu sowie die Mitgliedschaft in einer politischen Partei sowie öffentliche Solidaritätsbekundungen für eine Partei umfasst“. Das bedeutet ganz allgemein, dass die Bahá'í jede öffentliche politische Äußerung unterlassen sollten, die als einseitige Stellungnahme für oder gegen eine bestimmte Partei, sei sie nun an der Regierung oder an der Opposition beteiligt, verstanden werden kann. Wahlempfehlungen und Warnungen vor der Wahl einer bestimmten Partei sind daher ebenso unzulässig wie das tragen sichtbarer Symbole (z.B. eines Buttons) einer bestimmten Partei. In diesem Sinne erklärt auch der Sekretär des Hüters, dass die Freunde „vorsichtig sein sollten, in ihren öffentlichen Äußerungen keinerlei politische Persönlichkeiten zu erwähnen und sich weder auf ihre Seite zu stellen noch sie zu verurteilen“.
Die politische Kultur in Deutschland jedoch lebt maßgeblich vom Wettbewerb der Parteien um die politische Macht. Daher ist jede Aussage über tagesaktuelle Themen in der Gefahr, eine parteipolitische Färbung zu bekommen, da sich nur die wenigsten Themen nicht zur Profilierung der Parteipolitiker eignen. Daher sollten die Bahá'í ihre Worte mit Bedacht wählen und darauf achten, sich im Falle gegensätzlicher politischer Positionen nicht auf eine einseitige Stellungnahme einzulassen, sondern Neutralität zu wahren. Das Universale Haus der Gerechtigkeit empfahl einem Sozialwissenschaftler in diesem Zusammenhang:
Ohne Zweifel sind Sie sich des allgemeinen Rates bewusst, der im Namen des Hüters geschrieben wurde, dass eine Möglichkeit, die soziale und politische Ordnung der Zeit zu kritisieren, ohne dabei für oder gegen ein bestehendes Regime zu sprechen, darin besteht, eine eingehendere Analyse auf der Ebene politischer Theorie anzubieten, ohne sich über die Praxis der Politik zu äußern. Ein anderer Weg könnte darin bestehen, mit Hilfe wissenschaftlicher Forschung die gegensätzlichen Standpunkte zu beleuchten, um ein gemeinsames Verständnis und effektive Lösungen zu finden, ohne dabei parteipolitischen Interessen und Verschleierung zu unterliegen.
Auch wenn dieser Rat konkret einem Wissenschaftler erteilt wurde, kann natürlich jeder Freund im Rahmen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten versuchen, seine öffentlichen Äußerungen neutralgestalten und entweder eine vermittelnde Position einzunehmen oder die Hintergründe einer konkreten Situation zu beleuchten, ohne diese mit einer bestimmten Partei in Verbindungbringen.
Das Wahlsystem in Deutschland wird verständlicherweise ebenfalls von den Parteien bestimmt und geprägt. Sein wesentliches Merkmal ist die Trennung in zwei verschiedene Aspekte, denen durch zwei unterschiedliche Stimmen Ausdruck verliehen wird, die getrennt voneinander, aber auf demselben Stimmzettel abgegeben werden. Die sogenannte Erststimme wird für einen einzelnen Kandidaten im eigenen Wahlkreis abgegeben, die Zweitstimme für die Liste einer Partei. Durch die Erststimme wird der Bundestagsabgeordnete im Wahlkreis direkt gewählt, während durch die Zweitstimme das prozentuale Kräfteverhältnis der Parteien im Bundestag bestimmt wird. Hier greifen also zwei verschiedene Teile des Wahlrechts, die unterschiedlich bewertet werden müssen.
Für die Erststimme sind, da es sich hier um eine Personenwahl handelt, insbesondere die persönlichen Qualitäten der Kandidaten entscheidend. 'Abdu'l-Bahá erläutert in Das Geheimnis göttlicher Kultur, dass die Abgeordneten eines Parlaments „redlich, gottesfürchtig, hochgesinnt und unbestechlich sein“ sollten. Außerdem sollten sie „über die obersten Grundsätze des Rechts Bescheid wissen, in den Verfahrensregeln für innere Angelegenheiten und für auswärtige Beziehungen beschlagen und in den nutzbringenden Künsten und Wissenschaften bewandert sein“ und sich zuguterletzt „mit ihren rechtmäßigen Einkünften zufrieden geben“. Eingedenk dieser Voraussetzungen bleibt es, in den Worten des Hüters, „dem Einzelnen überlassen, sein Wahlrechtauszuüben, dass er der Parteipolitik fernbleibt und sich bewusst ist, dass er einen Kandidaten seiner persönlichen Qualifikation wegen wählt, und nicht, weil er der einen oder der anderen Partei angehört“. Dabei schließt das Verbot der parteipolitischen Betätigung ausdrücklich nicht aus, den Kandidaten einer Partei zu wählen, wie auch das Universale Haus der Gerechtigkeit betont:
Bezüglich der Frage, ob es einem Bahá'í ausschließlich gestattet sei, für unabhängige Kandidaten zu stimmen. Im Grundsatz sind die Gläubigen nicht daran gehindert, für Kandidaten zu stimmen, die einer politischen Partei zugehören, solange "sie sich bewusst sind, dass sie einen Kandidaten seiner persönlichen Qualifikation wegen wählen, und nicht, weil er der einen oder der anderen Partei angehört".
Die Abgabe der Erststimme ist also weitgehend unproblematisch und nicht vom Verbot parteipolitischer Betätigung umfasst. Die Bahá'í sollten sich aber immer dessen bewusst sein, dass auch wenn „keine Hinweise auf bestimmte Persönlichkeiten im Zusammenhang mit den Bahá'í-Wahlen gemacht werden sollten“ nichts dagegen spricht, „die Erfordernisse und notwendigen Voraussetzungen der Mitgliedschaft in der zu wählenden Institution [zu] erörtern“. Denn „mit geschärftem Bewusstsein für die Aufgaben der zu wählenden Körperschaft“ könne der Wähler, wie das Haus der Gerechtigkeit betont, „besser beurteilen, für wen er seine Stimme abgeben sollte“. Daher sollte der Wähler „seine Wahl nach gründlicher Überlegung über einen längeren Zeitraum hinweg vor der eigentlichen Wahl treffen“. Shoghi Effendi macht es jedem Bahá'í zur „Pflicht, ein kluger, gut unterrichteter, verantwortungsbewusster Wähler zu werden“. Was konkret für die Bahá'í-Wahlen gilt, lässt sich selbstverständlich auch auf die Bundestagswahlen anwenden.
Das Verhältnis zur parteigebundenen Zweitstimme ist deutlich komplexer, denn hier geht es nicht darum, eine Einzelperson in ein Amt zu wählen, sondern aktiv über das Kräfteverhältnis der verschiedenen politischen Parteien zu entscheiden. Insofern ist es für den Wähler unvermeidlich, sich mit den „Programmen von Parteien und Fraktionen zu assoziieren“, da er im Endeffekt für ein Wahlprogramm stimmt, das im Zweifel nach der Wahl umgesetzt werden wird. Auch das Verfahren der Listenaufstellung und die Fraktionsbildung im Bundestag sind Aspekte der Zweitstimme, die von den Bahá'í kritisch betrachtet werden müssen. Ein im Auftrag des Hüters geschriebener Brief erläutert:
Das Verfahren des Wahlvorschlags, das so nachteilig für die Atmosphäre einer ruhigen, gebetserfüllten Wahl ist, wird mit Misstrauen betrachtet, weil es der Mehrheit einer Gruppe, die unter den heutigen Gegebenheiten oft selbst eine Minderheit aus allen gewählten Abgeordneten darstellt, das Recht gibt, jedem Wähler das von Gott gegebene Recht abzusprechen, nur zugunsten jener zu stimmen, von denen er gewissenhaft überzeugt ist, dass sie die würdigsten Kandidaten sind.
Auch das Universale Haus der Gerechtigkeit kritisiert diese „dem Parteiensystem eigene eingeschränkte Wahlfreiheit“:
Der grundlegende Unterschied zwischen dem Kandidatur- und dem Bahá'í-System ist, dass im ersteren Einzelpersonen oder jene, die sie aufstellen, beschließen, dass diese Personen in Machtpositionen eingesetzt werden und sich in den Vordergrund stellen sollen, um dafür Stimmen zu gewinnen. Im Bahá'í-System wird die Entscheidung von der Wählermehrheit getroffen.
Die Aufstellung einer Parteiliste für die Zweitstimme wird also als Beschränkung der Wahlfreiheit des Wählers verstanden und somit auch als Einschränkung des demokratischen Prinzips. Daraus zu folgern, die Zweitstimme nicht abzugeben, wäre sicherlich zulässig und gut begründet. Das deutsche Wahlrecht lässt dem Wähler die Freiheit, wahlweise beide, nur eine oder keine seiner zur Verfügung stehenden Stimmen abzugeben. Es wäre also absolut im Bereich des Möglichen, die Zweitstimme auf dem Stimmzettel ungekennzeichnet zu lassen. Möglich – aber überflüssig – ist es auch, die Zweitstimme ungültig zu machen. Auf die Zusammensetzung des Bundestages hat dies allerdings keine Auswirkung, sondern wird wie eine ungültige Stimme aus der Gesamtrechnung herausgenommen. Eine weitere Möglichkeit, die Zweitstimme nicht für eine Partei einzusetzen, besteht bei manchen Wahlen darin, ein Aktionsbündnis zu wählen, das Stimmen, die für keine Partei abgegeben werden sollen, bündelt.
Es ist jedoch auch möglich, mit der Zweitstimme eine der herkömmlichen Parteien zu wählen. Denn das Universale Haus der Gerechtigkeit schreibt, dass ein Bahá'í sich nicht an einer Wahl beteiligen sollte, „sofern er, um dies tun zu können, seine Mitgliedschaft in, seine Verbundenheit mit oder seine Unterstützung für eine einzelne politische Partei erklären müsste. Ist der Wahlzettel jedoch geheim, steht es einem Bahá'í frei, sich an jeder politischen Wahl zu beteiligen, solange er sich dadurch nicht mit irgendeiner politischen Partei identifiziert...“ In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Erläuterung des Hauses der Gerechtigkeit verwiesen:
Herr ... fragt, was mit dem Begriff "identifizieren" gemeint ist. Eine aufmerksame Lektüre der Abschnitte 861 bis 864 in Lights of Guidance wird deutlich machen, dass Intentifizierung mit einer Partei solche Handlungen wie den Beitritt zu sowie die Mitgliedschaft in einer politischen Partei sowie öffentliche Solidaritätsbekundungen für eine Partei umfasst.
Solange also die Bahá'í nicht öffentlich für eine Partei oder ein Programm werben, keinen Kandidaten öffentlich unterstützen oder angreifen und nicht mit Anderen über ihre Wahlentscheidung sprechen, ist die Abgabe der Zweitstimme für eine Partei möglich. Dabei sollten sie sich bewusst sein, dass sie „zuallererst Unterstützer der von Bahá'u'lláh verkündeten Prinzipien“ sind, mit denen „das Programm keiner Partei vollkommen in Übereinstimmung ist“ und dass daher „kein Wahlakt“ die „Akzeptanz des ganzen Programms irgendeiner politischen Partei durch den Wähler“ andeuten sollte. Insofern muss ein Bahá'í, der überlegt, seine Zweitstimme abzugeben, wie jeder andere Wähler auch, eine Abwägung durchführen, ob und welche Teile des Programms einer politischen Partei mit den Bahá'í-Prinzipien übereinstimmen und welche Projekte und Vorhaben, die im Wahlprogramm angestrebt werden, von den Bahá'í unterstützt werden können.
Wie sehr sich die Freunde auch davor hüten müssen, den Anschein zu erwecken, dass sie oder der Glaube sich mit irgendeiner politischen Partei identifizieren, müssen sie sich doch auch vor dem anderen Extrem hüten, nämlich niemals mit anderen fortschrittlichen Gruppen bei Konferenzen oder Komitees zusammenzuarbeiten, welche die eine oder andere Aktivität fördern, die völlig im Einklang ist mit unseren Lehren.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit nennt konkrete Beispiele für Themenbereiche, in denen die Bahá'í guten Gewissens politische Pläne unterstützen können:
Zwar werden Bahá'í sich zurückhalten, wenn es darum geht, Vorgehensweisen zu diskutieren, die sich auf politische Beziehungen zwischen Ländern beziehen oder auf parteipolitische Angelegenheiten innerhalb eines Landes; sie werden jedoch zweifellos ihren Teil beitragen zu der Formulierung und Umsetzung von politischen Entscheidungen, die sich mit bestimmten gesellschaftlichen Sorgen befassen. Beispiele solcher Anliegen sind die Wahrung der Rechte der Frauen, umfassende und effektive Bildung für alle Kinder, das Unterbinden der Verbreitung von ansteckenden Krankheiten, Schutz der Umwelt und Ausmerzung der Extreme von Armut und Reichtum.
Es gibt daher durchaus Möglichkeiten, zu entscheiden, welches Wahlprogramm in welchen Punkten mit den Bahá'í-Lehren übereinstimmt. Wichtig ist jedoch, sich immer bewusst zu bleiben, dass die Bahá'í-Lehren nicht mit einem politischen Programm identifiziert oder zur Gänze mit ihm als in Übereinstimmung stehend betrachtet werden können.
All diese Ausführungen können jedoch nicht als absolute Aussagen betrachtet werden. Niemand hat das Recht, sich in die persönliche Wahlentscheidung eines Mitgläubigen einzumischen, denn der Hüter stellt unmissverständlich klar:
Das Grundprinzip ist, wie Sie wissen, dass die Freunde so lange davon Abstand nehmen sollten, an irgendeiner allgemeinen Wahl teilzunehmen, bis sie sicherstellen können, dass sie sich durch ihre Stimmabgabe nicht mit irgendeiner politischen Partei oder Organisation und nicht mit irgendeinem politischen Programm identifizieren. Die gesamte Frage hängt an der Identifikation, nicht am Wählen an sich.
Der Hüter hat die Anwendung dieses Prinzips den einzelnen Gläubigen überlassen, die aufgefordert sind, sich mit ihren Fragen und Zweifeln mit der Bitte um Führung an ihre Räte zu wenden. Ich wünsche Ihnen eine bereichernde Beratung und gute Ergebnisse!
Mit liebevollen Bahá'í-Grüßen
Sören Rekel-Bludau