Bahá'í - Personenkult und Meriokratie
Die Frage ist: Gibt es bei uns einen „Personenkult?“ Oder gibt es bei uns eine Meritokratie
Sören.Rekel-Bludau, am 22. Dez 2016, 20:34:
Lieber ...,
ich denke man muss bei der Beantwortung dieser Frage unterscheiden zwischen den Zentralgestalten, dem Hüter, den Mitgliedern der Institutionen und dem einzelnen Gläubigen.
In meinem Verständnis gibt es schon eine Art Personenkult um die Zentralgestalten, allerdings sehe ich darin kein Problem, sondern eine logische Konsequenz unseres Glaubens. Der Báb und Bahá'u'lláh sind jeweils Träger einer Gottesoffenbarung und in dieser Eigentschaft auch die Träger der Eigenschaften Gottes, mithin der einzige Weg, Gott, sein Wesen und seinen Willen in der Gestalt eines Menschen und dessen Lebenswandel erfassen zu können. Gleiches lässt sich auch über Jesus oder jeden anderen Offenbarer aussagen. Insofern stehen die Offenbarer und ihre Schriften ganz selbstverständlich im Mittelpunkt unseres Glaubens, so wie Jesus im Mittelpunkt des Glaubens eines jeden Christen steht. Als eine Überhöhung kann man das aber natürlich nur betrachten, wenn man der Grundprämisse des Bahá'í-Glaubens, dass es einen Gott gibt, der durch seine Offenbarer in die welt hineinwirkt, nicht oder nur eingeschränkt zustimmen kann. Außerdem habe ich nicht den Eindruck, dass die Offenbarer als Menschen ins Übermaß stilisiert werden, sondern vielmehr ihre Botschaft zentraler Anknüpfungspunkt ist.
Etwas anders ist das bei 'Abdu'l-Bahá, der ja ganz konkret durch seinen Lebenswandel und sein persönliches Vorbild wirkt und somit viel mehr als Mensch, als nachahmenswertes Vorbild, im Mittelpunkt steht, als die Offenbarer selbst. Es ist gerade sein Zusammensein mit anderen Menschen, die Beziehungsebene, die seine Bedeutung ausmacht. Insofern ist die Bedeutung 'Abdu'l-Bahás in diesem konkreten Punkt sicher eher mit Jesus und seiner Bedeutung (als Vorbild "What would Jesus do?" vs. "What would 'Abdu'l-Bahá do?") für den einzelnen Christen vergleichbar, als diejenige Bahá'u'lláhs. Und ja, natürlich kann auch das, verbunden damit, das so ziemlich jeder Bahá'í mindestens ein Foto von Ihm in seiner Wohnung hängen oder stehen hat, in gewisser Hinsicht als Personenkult gedeutet werden. Nichtsdestotrotz hat 'Abdu'l-Bahá sich ja allein schon mit seiner Namenswahl immer als Diener und Boten betrachtet und sich selbst niemals in den Mittelpunkt gedrängt, der ihm angesichts seiner Funktion als "Mittelpunkt des Bundes" zugestanden hätte.
Beim Hüter haben wir es schließlich mit einem Charakter zu tun, der sehr bewusst darauf bedacht war, nur innerhalb seines Amtes und niemals als Privatmensch in Erscheinung zu treten. Dafür sprechen auch solche Befunde wie dass er in der kürzest-möglichen Form heiratete und den Freunden weltweit verbot, seinen Geburtstag oder später seinen Todestag besonders zu begehen. Über sein Privatleben ist wenig bekannt und das war auch Absicht. Er hat es darüber hinaus auch zu vermeiden gewusst, fotografiert oder gefilmt zu werden. Es gibt nur ein einziges Foto, das ihn nicht als jungen Mann kurz vor oder kurz nach Amtsantritt zeigt. Diese Bescheidenheit sollte uns sicherlich lehren, dem Amt mehr Aufmerksamkeit zu schenken als seinem Träger. Wenn jemand Personenkult vehement ablehnte, dann Shoghi Effendi.
Bei den Händen der Sache kommt es mir manchmal tatsächlich so vor, als würden sie von einigen mehr gehyped werden, als das ihrer Rolle entsprechen würde. Manchmal erlebe ich es, dass Vorträge der Hände statt der Schriften als Beleg für wesentliche Bahá'í-Lehren zitiert werden. Aber da mag mich der partikulare Eindruck von Facebook auch trügen...
Spätestens danach gibt es eigentlich keine Einzelpersonen mehr, um die sich ein Personenkult entwickeln könnte. Das Haus der Gerechtigkeit ist eine Institution, die nur als Rat irgendeine besondere Rolle in der Gemeindeordnung hat. Die Einzelperson spielt dabei keine Rolle und steht nicht höher als jeder andere Gläubige auch. Zwar mag man ihnen sicherlich zu Recht ein besonderes Maß an Einblick in die Zusammenhänge der Gemeindestruktur und der Schriften zubilligen, da sie sich ja eigentlich während ihrer fünf Dienstjahre mit nichts anderem beschäftigen, aber trotzdem ist jedes Mitglied des Hauses allein genauso fehlbar und unvollkommen wie jeder von uns.
Wo ich tatsächlich in Ansätzen eine Gefahr sehe, dass die Rolle bestimmter Amtsträger von den Gläubigen überbewertet werden könnte, das sind die Hilfsamtsmitglieder und Berater. Wie der Name schon sagt, haben sie in unserer Gemeindeordnung beratende Funktionen und keinerlei Entscheidungsgewalt, dennoch kann es vorkommen, dass die Meinung eines Hilfsamtsmitglieds oder dessen Interpretation der Schriften unhinterfragt hingenommen werden und sie somit faktisch in einen Status einrücken, der ihnen schlicht nicht zusteht. Wenn du das Priestertum angesprochen hast, bei dem ja einer von Bahá'u'lláhs wesentlichen Kritikpunkten die (angemaßte) autoritative Auslegung der Schriften ist, halte ich es nicht für unmöglich, dass auch die Entwicklung in der christlichen Kirche ursprünglich einmal damit angefangen hat, dass die Gläubigen aufhörten, die Worte ihrer Priester selbst zu überprüfen. Wenn wir die Verantwortung für unser eigenes Schriftverständnis auf andere abwälzen, dann werden diese womöglich in eine Situation gedrängt, die sie so gar nich wollten, die sich aber mit der Zeit negativ verfestigt.
Soviel zu der Frage nach dem Personenkult.
Was die Meritokratie, also die "Herrschaft durch die Verdienstvollen" angeht, würde ich mir sehr wünschen, dass dies immer und bei jeder Bahá'í-Wahl auch tatsächlich der Fall wäre. Damit meine ich nicht, dass man, mal überspitzt gesagt, nur noch Freunde in Ämter wählen sollte, die mindestens Ruhi 1-8 vollständig durchhgearbeitet haben. Das betrachte ich ehrlicherweise nicht einmal als besonderen Verdienst. Was ich damit meine ist, dass Meschen im Ämter gewählt werden, die sich durch ihre moralische Integrität, ihre Ehrbarkeit und ein vertieftes, differenziertes Verständnis der Schriften sowie der "Nöte der Zeit" auszeichnen und dadurch die Gewähr für gute Beratungen und bestmögliche Entscheidungen bieten. Wie man das im Einzelfall bewertet, ist natürlich in demokratischer Manier immer dem einzelnen Wähler überlassen, aber ich glaube schon, dass es helfen würde, sich bei der Wahl (auch der weltlichen) von bestimmten allgemeinen Eignungskriterien leiten zu lassen.
Vielleicht in einem gewissen Maße an Vorverdienste geknüpft ist häufig die Wahl der Mitglieder des Hauses der Gerechtigkeit, denn seit vielen Jahren ist es so, dass eigentlich jedes neugewählte Hausmitglied vorher im Internationalen Lehrzentrum gedient hat. Das ist aber sicherlich auch der Gemeindestruktur zuzuschreiben und dem Umstand, dass natürlich nur diejenigen Freunde so weit international bekannt sind, um genug Stimmen zu erhalten, die vorher auch auf internationaler Ebene schon "erlebbar" waren. Trotzdem kann man diese Entwicklung natürlich kritisch sehen, da sich, wenn man so wollte, das Haus der Gerechtigkeit im Lehrzentrum "seinen eigenen Nachwuchs heranzüchtet".
Ob und wie man dieser Situation Abhilfe schaffen könnte, dafür gibt es bestimmt gute Ideen. Eine, die ich gehört habe, ist, das Lehrzentrum ausschließlich mit Frauen zu besetzen, damit dessen Mitglieder per definitionem nicht mehr ins Haus wählbar sind. Diese Idee hat, wie ich persönlich finde, einiges an Charme. Eine andere Möglichkeit wäre, dass in der Zukunft weitere Nebeninstitutionen wie das Internationale Lehrzentrum in Haifa entstehen und somit die "Auswahl" der Wähler größer wird.