„Alles nur für Geld“ - Harald Leschs Ausführungen bei Weimarer Reden - 2016
„Wir verbrauchen den Raum und seine Inhalte und pressen aus der Zeit heraus, was irgendwie nur geht und technisch möglich ist - und alles nur für Geld.“
Astrophysiker Harald Lesch nutzte seine unterhaltsame Weimarer Rede für eine Generalkritik.
Weimar. Eine Rede ist ein Produkt von Raum und Zeit. Die Worte kommen nacheinander und die Schallwellen breiten sich im Raum aus. Überhaupt alles, was Menschen sind und tun, passiert in Raum und Zeit, vollzieht sich in einem Raum und wenn es nicht absolut gleichzeitig passiert, dann folgt das eine dem anderen. Wir Menschen allerdings leben nicht nur in der Zeit und im Raum, wir wissen als einzige Lebewesen auch, dass es sie überhaupt gibt: Raum und Zeit - und dass sie sogar miteinander so verwoben sind, dass es gar keine Gleichzeitigkeit für uns geben kann. Aber davon später mehr. Hier zu Beginn, also am zeitlichen Anfang der Rede, geht es um uns: Individuen, die sich vor allem deshalb für die Zeit interessieren, weil sie wissen, dass ihre Zeit einmal zu Ende gehen wird. Und seit einiger Zeit wissen wir, dass unser Raum auch begrenzt ist, nämlich auf unseren Planeten Erde. Wir wissen, wo wir in der Zeitlichkeit und wie wir in der Räumlichkeit der Welt beheimatet sind. Zeit und Raum sind Voraussetzungen für unser Hiersein und zugleich die innere und äußere Form unserer Anschauung, wie Immanuel Kant das genannt hat.
Unseren Raum, den Planeten Erde, eine Gesteinskugel von 12.000 Kilometern Durchmesser und einem Gewicht von 6 Billionen Billionen Kilogramm, dieser Planet, der sich mit einem halben Kilometer pro Sekunde um die eigene Achse wälzt und während einer Sekunde 30 Kilometer bei seiner Umkreisung der Sonne zurücklegt, ihn versuchen wir seit dem ersten Funken menschlichen Verstandes uns untertan zu machen. Denn unser Verstand macht uns schlau, aber er macht uns auch Angst, denn dank ihm können wir uns etwas vorstellen, etwas denken bevor es passiert. Und deshalb - um Gefahren für uns und unsere Lieben abzuwenden, ihnen und uns Zukunft zu geben - versuchen wir ständig, uns diese widerspenstige Welt gefügig zu machen, sie zu verändern und zu unserem Vorteil zu nutzen. Unser Raum, unser Planet, er ist für uns Quelle der Inspiration, der Ressourcen und leider eben auch (wo soll das Zeug denn sonst hin) Abfallhalde. Wir beuten die Erde aus und lassen die Reste liegen. Wir taten dies und tun es, in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich schnell und unterschiedlich intensiv. So entwickelten wir uns in zunächst vom Jäger und Sammler zum Landwirt, obwohl die Bauern den ganzen Tag arbeiten und die Jäger nur vier Stunden. Und als ob das nicht schon an Mühsal gereicht hätte, entwickelten wir Maschinen, die uns angeblich die Arbeit abnehmen. Dann stellen wir fest: Wir arbeiten noch mehr - wir wurden zum industriell Produzierenden. Und heute sind wir schließlich vom teil- und vollautomatisierten, globalisierten Dienstleister zum digital Vernetzten geworden. Und wer weiß, in gar nicht so ferner Zukunft, werden wir komplett durch Roboter und Computer ersetzt und damit überflüssig.
Wir beschleunigen die zeitlichen Entwicklungs- und Verwandlungsprozesse der Materie, indem wir die Zeit komprimieren und den Raum durchsetzen und vernetzen.
So wie wir unseren Raum, den Planeten, ausbeuten, ihm seine Rohstoffe - auf teils drastische Weise - aus seiner festen Hülle reißen, sie in den global ökonomischen Verdauungstrakt einführen, unsere Abfälle in die Atmosphäre ausstoßen und in Flüsse, Seen und Meere werfen, wie wir die Erde in allen ihren Elementen so verändern und missbrauchen, so manipulieren wir auch unsere Zeit. Wir machen sie zu Geld, wollen sie sparen und verwalten - das nennt man Zeitmanagement. Dabei hätte man sich doch einfach nur verhören müssen, damals bei Benjamin Franklin. Stellen Sie sich doch bitte mal vor, alle hätten statt „Time Is Money“, “Time Is Honey“ gehört. Die süße Zeit wäre uns besser, viel besser, bekommen. Aber leider hat sich niemand verhört, sondern wir pressen die Zeit zusammen, verdichten damit unser Leben und wollen zugleich möglichst lange leben - und, wenn überhaupt, am besten kerngesund sterben. „Klar müssen alle sterben, aber bei mir könnte man doch einmal eine Ausnahme machen!“
Wir wagen uns, in unserem Beschleunigungswahn, sogar an die höchstmögliche Wirkungstransportgeschwindigkeit heran. Denn mit der digitalen Technologie handeln und kommunizieren wir auf höchstmöglichem Niveau - schneller geht es nicht mehr. Die Börsencomputer dieser Welt „flashtraden“ mit halber Lichtgeschwindigkeit. Diese Geldmaschinen machen im Mikrosekundentakt Gewinne, scheinbar aus dem Nichts. Und diese nur scheinbar virtuelle Welt drückt auf die reale Welt, denn sie verlangt immer schnellere, immer höhere Renditen. Dafür ruinieren wir unseren Raum, unseren Planeten, unser Leben. In den Algorithmen der Flash Trader steht diese Gier als IF-Abfrage und die jungen, weißen Männer des Silicon Valley versprechen uns derweilen: „Es gibt für jedes Problem einen Algorithmus, eine App, ein Share, eine Cloud. Dafür gib uns dein Ich!
Die Veränderungen der globalen Wirtschaft quetschen überall auf dem Globus das Letzte aus der Oberfläche des Planeten, aber auch aus den Menschen. Hier bei uns in macht sich das in überbeschleunigten Schul- und Universitätssystemen bemerkbar. Offenbar geplant, und ziemlich gut organisiert, wird Bildung als Persönlichkeitsentwicklung abgeschafft. Wir spüren es am eigenen Leib, durch den ständigem Zugriff mittels Online-Geräten, der Sofort- Bereitschaft und vor allem: einem dramatischen Effizienzdruck und Selbstoptimierungsdrang. Und seit Kurzem durch das ganz nahe am Körper zu tragende digitale Überwachungsgerät , den elektronischen Blockwart am Arm. Wahrscheinlich am rechten Arm! Organisierter Psychoterror im Zeichen des Wachstums. Zeitdruck fressen Seele auf. Die Beschleunigung frisst ihre Kinder und der rasende Stillstand ist längst zum Normalzustand geworden.
In anderen Teilen der Welt ruiniert der ökonomische Geld- und damit Zeitdruck die Menschen in ihren traditionellen Lebensumständen. Und nur deshalb machen die sich auf und versuchen die Wohlstands- und Sicherheitsoasen Europas zu erreichen - zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Die Geldgier der globalen Kapitalströme (sie wissen ja, während sie selbst schlafen, arbeitet ihr Geld) hat den Planeten schon so sehr erwärmt, dass die Meere steigen, die Gletscher schmelzen und das Klima kippt. Und genau deshalb, weil wir dem ökonomischen Imperativ global huldigen, werden sich überall, vor allem in , in den nächsten Jahrzehnten Menschen aufmachen um unseren Kontinent zu erreichen - koste es, was es wolle. Denn wir haben ihre ökologischen, kulturellen und klimatischen Kreisläufe durch unseren äußerst kurzfristigen und kurzsichtigen Lebensstil zerstört. Unser Ressourcenverbrauch ist so hoch, dass wir eigentlich schon längst mehr als nur einen Planeten bräuchten.
Wir verbrauchen den Raum und seine Inhalte und pressen aus der Zeit heraus, was irgendwie nur geht und technisch möglich ist - und alles nur für Geld. Man bedenke: Die Fossilien unter den Rohstoffen, Kohle, Öl und Gas, sind uralte Vergangenheit, mehrere hundert Millionen Jahre alt. Entstanden in einer Welt aus Farnen, Schachtelhalmen und Sauriern. Wir setzen zurzeit pro Jahr so viel Kohlenstoff in die Atmosphäre frei, wie die Erde in einer Million Jahre im Boden versenkt hat.
Die Spekulationen der Finanzwelt entziehen der Zukunft ihren Boden. Die Zukunft, das Reich des noch Möglichen wird ins Jetzt geholt. Das „es könnte werden“, wird zum „es muss so werden“. Die Renditeerwartungen von heute legen auch die Zukunft fest. Die Spielräume unserer Kinder und Kindeskinder werden immer kleiner. Denn was weg ist, ist weg. Wir sind in einem absolutistischen System angekommen - dem uneingeschränkten Primat des Jetzt. Diese Diktatur der Gegenwart macht aus uns allen Gefangene des Sofort, des Unmittelbaren. Für dieses Jetzt sind wir bereit, Zukunft und Vergangenheit zu instrumentalisieren, zu nutzen, zu missbrauchen. Aus der Verantwortung, die wir aus der Geschichte, dem Vergangenen, hätten lernen können, ist nichts geworden, außer einem „immer weiter so“. Es lebe, wie gesagt, der rasende Stillstand. Das wahrzunehmen, gar zu hinterfragen oder vielleicht sogar zu ändern - dazu fehlt uns die Zeit. Übrigens nicht zuletzt auch, weil die Kreuzfahrtschiffe auf uns warten, die Rund-um-die-Welt-Flüge, die Fünf-Sterne-Hotels in der Wüste (bei angenehmen 20 Grad Innentemperatur) und dem All-Inklusiv-Urlaub am geographischen . Ja, es gibt ein Hotel dort. Für 25.000 Euro können Sie eine Woche am südlichsten Punkt unseres Planeten verbringen. Ein spezieller Punkt im Raum - südlicher geht es nicht. Da sind sie ganz unten angekommen.
Lassen Sie mich, bevor ich Ihnen, als Physiker und Philosoph, etwas über Raum und Zeit erzähle, noch eine kleine Geschichte zum Besten geben, die uns aufgeklärte Mitteleuropäer entlarvt. Ich bin mal, anlässlich einer Kinderuniversität, von einem siebenjährigen Jungen gefragt worden, warum wir eigentlich so gefährliche Anlagen wie Kernkraftwerke mitten in unser Land gestellt haben. Ich habe ihm erklärt, wie so ein Kraftwerk funktioniert, wie Atomkerne gespalten werden und dass wir so elektrische Energie daraus machen. Und er fragte nach, wie das genau geht. Ich sagte dann: „Naja, die Energie, die bei der Spaltung frei wird, damit machen wir Wasser heiß“. Der Junge fing an zu lachen. „Wirklich“, sagte er, „nur um Wasser heiß zu machen setzen wir uns der Gefahr einer Katastrophe aus?“ „Ja“, sagte ich. „Ihr seid verrückt!“, waren seine Worte, dann ging er kopfschüttelnd davon.
Wie konnte es nur dazu kommen?
Wie alles angefangen hat - von der Mutter aller Anfänge, dem Beginn von Raum und Zeit
Wieso können Lebewesen, die erst seit vergleichsweise kurzer Zeit auf dem Planeten Erde leben und, seit noch viel kürzerer Zeit, diesen Planeten und das Universum mit empirisch-wissenschaftlichen Methoden unter ihre Objektive genommen haben, wieso können diese, sich ihres Selbst bewussten Wesen, etwas Sinnvolles über den Anfang von allem sagen? Das klingt eigentlich nach intellektueller Hochstapelei. Schauen wir deshalb bei Felix Krull nach, Thomas Manns Hochstapler. Er sitzt im Zug nach und vernimmt, als Marquis de Venosta, die Worte von Professor Kuckuck:
„Ohne Zweifel, sagte er, sei nicht nur das Leben auf Erden eine verhältnismäßig rasch vorübergehende Episode, das Sein selbst sei eine solche - zwischen Nichts und Nichts. Es habe das Sein nicht immer gegeben und werde es nicht immer geben. Es habe einen Anfang gehabt und werde ein Ende haben, mit ihm aber Raum und Zeit, denn die seien nur durch das Sein und durch dieses aneinander gebunden. Raum, sagte er, sei nichts weiter als die Ordnung und Beziehung materieller Dinge untereinander. Ohne Dinge, die ihn einnähmen, gäbe es keinen Raum und auch keine Zeit, denn Zeit sei nur eine durch das Vorhandensein von Körpern ermöglichte Ordnung von Ereignissen, das Produkt der Bewegung, von Ursache und Wirkung, deren Abfolge der Zeit Richtung verleihe, ohne welche es die Zeit nicht gebe. Raum- und Zeitlosigkeit aber, das sei die Bestimmung des Nichts.
Während bei Immanuel Kant Raum und Zeit noch äußere und innere Formen der Anschauung sind, also absolut notwendige Bedingungen für die Möglichkeit von Erkenntnis, nimmt Thomas Mann einen ganz anderen Blick ein. Bei ihm sind, ganz in der Tradition der modernen Physik, Raum und Zeit unmittelbar miteinander verbunden und man muss Ursachen von Wirkungen unterscheiden können. Für den Physiker ist ganz offensichtlich, es kann nur von Messbarem gesprochen werden. Empirische Erkenntnis über Raum und Zeit muss - unabhängig von den beteiligten Subjekten, deren traditionellen, kulturellen oder ganz persönlichen Hintergründen - objektiv über Messapparate zu kommunizieren sein. Empirische Aussagen über Raum und Zeit betreffen nicht die Individuen, die danach fragen, sondern sie geben an, was unabhängig von den beteiligten Personen gültig ist.
Oder: Höchstwahrscheinlich gewesen ist, wenn wir wieder an den Anfang von allem gehen, an den Beginn des Universums, an den Tag ohne Gestern, zurück zur Ursache, die keine Ursache hatte, denn da war ja niemand dabei. Da war nur Energie, das verraten uns immer genauere Beobachtungen der ersten wenigen 100.000 Jahre kosmischer Entwicklung.
Wie kommt man zu einer solchen Aussage? Ganz einfach: Man nimmt an, dass die Naturgesetze, die wir auf der Erde in unseren Laboratorien aus dem Buch der Natur herausgelesen haben, überall und immer im Universum gültig sind. In mathematischer Form liefern diese Gesetzmäßigkeiten das Regelwerk für das, was sich - laut Aristoteles - „selber macht“, nämlich die Natur. Und diese Natur ist ein Ganzes, ohne „Harry-Potter-Inseln“, auf denen gänzlich andere Gesetze gelten als sonst.
Stimmt diese Annahme, dann ist unser wunderbarer, blauer Planet eben auch kein besonders ausgezeichneter Platz im Kosmos, sondern schlicht das Ergebnis des Wechselspiels komplizierter und komplexer Netzwerke und Kreisläufe. Allerdings sind die Zusammenhänge in der Natur so verschlüsselt und verknotet, so wunderbar, so fein gegliedert und aufeinander abgestimmt, dass sie unmittelbar zum allertiefsten Erstaunen auffordern. Das wusste auch Aristoteles schon, als er seine erste Philosophie, die Metaphysik mit eben diesem Erstaunen des Menschen beginnen ließ.
Die Annahme, dass die Naturgesetze überall im Universum und schon immer gültig sind, geht auf Giordano Bruno zurück, der dafür in einem grausigen Akt, auf dem Campo di Fiori in Rom, mit seinem Leben bezahlte. Bruno steht am Beginn der empirischen Erforschung des Universums, bis hin zum ultimativen Beginn von allem. Seit 1929 wissen wir, dass der Kosmos sich ausdehnt, dass sich die Raum-Zeit - eigentlich ein vierdimensionaler mathematischer Begriff aus der Allgemeinen Relativitätstheorie - dass sich dieses mysteriöse Gebilde ausbreitet. Eingebettet in diesen Raum-Zeit-Teig treiben die Galaxien und Galaxienhaufen seit Ewigkeiten auseinander und werden getrennt von Abgründen an Raum und Zeit.
Und natürlich kann unser Verstand, dieses messerscharfe Instrument der Vernunft sich der Frage nicht entziehen: Wie hat das alles angefangen? Zumal die auseinandertreibende, riesige Größe des Universums, in einem gedanklichen Umschwung ins immer Kleinere, natürlich an einen Anfang kommen muss. Wie klein war das Universum zu Beginn? Um es gleich vorneweg zu sagen: ehr klein, nämlich 20 Größenordnungen kleiner als ein Atomkern - und der ist schon sehr winzig. Wäre ein Atom so groß wie ein Fußballstadion, dann wäre der Atomkern, der 99 Prozent der Masse des Atoms beinhaltet, so groß wie ein Reiskorn in der Mitte des Anstoßkreises. Diese kleinste Einheit des Raumes wird berechnet aus der Forderung nach nachweisbarer Kausalität, also nach der, zumindest prinzipiellen, Messbarkeit des Unterschiedes zwischen Ursache und Wirkung. Was sich „darunter“ befindet, wird uns für immer verschlossen bleiben. Man ahnt schon, wie trickreich sich die Physik hier aus der Affäre zieht, sie verweist einfach auf die Unmessbarkeit. Was man nicht messen kann, das gibt es nicht. Genauso gehen wir auch mit der Zeit um, auch sie ist nicht bei null am Anfang, sondern sie muss schon begonnen haben, sonst wäre sie nicht messbar in ihrer Wirkung, bzw. in ihrer Funktion als Botschafterin von Veränderung.
Um es dann doch noch auf den Punkt zu bringen, das alles muss vor 13,82 Milliarden Jahren stattgefunden haben. Was davor war, entzieht sich genauso unserer prinzipiellen Erkenntnismöglichkeit, wie das Außerhalb, in das das Universum sich hinein entwickelt. Und alle Vorhersagen, die das Modell vom heißen, sehr dichten und sehr kompakten Anfang gemacht hat, sind bestätigt worden. Diese Bestätigungen sind nicht nur inhaltlich sehr bedeutsam, sondern sie gelten auch als einer der größten Erfolge der Methodik empirischer Wissenschaft. Hier geht es nämlich nicht um Interpretationen von möglichen Entwicklungsmodellen und Phänomenen, sondern es geht schlicht um die Möglichkeit eindeutige Entscheidungen aufgrund von Experimenten und Beobachtungen zu führen.
Der methodische Hintergrund der Naturwissenschaften ist die Forderung des kritischen Rationalismus: Jede empirische Hypothese muss an der Erfahrung scheitern können. Vorhersagen müssen per Experiment oder Beobachtung möglichst genau zu überprüfen sein. Trifft die Vorhersage nicht ein, ist die Hypothese falsch; trifft sie ein, dann ist sie nicht falsch. Wir falsifizieren in Physik und Astronomie, von Wahrheit wissen wir nichts zu sagen, obwohl wir sie natürlich anstreben. Unser Erkenntnisgewinn besteht eben darin, immer genauer sagen zu können, was nicht der Fall ist. Allerdings sind die Messmethoden der Überprüfungsexperimente für die Quantenmechanik und Relativitätstheorie inzwischen so präzise, dass wir bereits im Bereich von über 20 Stellen hinter dem Komma genau messen können. Also wenn diese Theorien falsch sind, dann sind sie verdammt gut falsch.
Die Quantenmechanik beschreibt den Aufbau der Materie und ihre Wechselwirkung mit elektromagnetischer Strahlung. Sie erklärt den Aufbau des Periodensystems und warum sich Atome zu Molekülen verbinden. Sie erklärt aber vor allem die Stabilität und Veränderbarkeit der Materie. Diese Theorie ist die Grundlage für alles, was wir mit und aus den uns gegebenen Stoffen machen können - vom Smartphone bis zur Manipulation unseres Erbgutes.
Die Allgemeine Relativitätstheorie hingegen erklärt die Bedeutung von Raum und Zeit und deren Verbindung mit Massen. Sie lässt verstehen, warum die Planeten die Sonne umkreisen, warum es schwarze Löcher gibt und sogar wieso sich unser ganzes Universum so entwickelt hat.
Wie unglaublich gut diese Theorie ist, wissen wir seit dem 11. Februar um 16.30 Mitteleuropäischer Zeit. Es wurden Gravitationswellen entdeckt, von zwei miteinander verschmelzenden schwarzen Löchern. Mit einer hirnerweichenden Präzision! Man vermisst mit kilometerlangen Laser-Armen eine Längendifferenz von einem tausendstel Protonendurchmesser. Man hat die, sich im Raum mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitenden, Oszillationen der RaumZeit gemessen, an deren Form und Verlauf man ablesen kann, dass das eine Schwarze Loch 29 Sonnenmassen gehabt haben muss und das andere schwarze Loch 36 Sonnenmassen. Das resultierende schwarze Loch war allerdings leichter als 65 Sonnenmassen, weil die Masse von drei Sonnen in die Energie der Gravitationswellen gesteckt wurde. Das geschah vor rund 1,3 Milliarden Jahren. Solange brauchten die Wellen um zur Erde zu kommen. Zwei Anlagen haben diese Signale gemessen und sogar die Verzögerung in der Messung zwischen dem Staate Washington und Lousianna wurde exakt nachgewiesen. Eine Präzision, die es erlaubt - auf der Länge von vier Lichtjahren - noch die Dicke eines Haares zu messen. Das ist des Wahnsinns fette Beute, eine technologische Großtat, die sicher, mit dem Nobelpreis belohnt, zu den ganz großen Entdeckungen gehört. Wenn man bedenkt, dass - rund 40 Jahre nach Beginn der Gravitationswellenforschung - jetzt endlich ein direkter Nachweis gelungen ist, dann ist das für das empirische Credo natürlich der Triumph überhaupt.
Aber zurück zu unseren beiden Theorien: Sie enthalten, beschreiben und erklären, sozusagen als Quintessenz, das, worum es in den Naturwissenschaften geht: Raum, Zeit und Materie. Und die Genauigkeit ihrer Aussagen machte es eben möglich, sie auch in etwas umzuwandeln, was überhaupt nichts mehr mit der Natur zu tun hat. Aus der sich selbstorganisierenden Natur macht der Mensch, der Homo Faber, Technik und verändert die Welt, transformiert Raum in Zeit und Zeit in Geld.
Die Tragik und der Triumph der Physik
Die Physik macht selbst die Grenzbereiche der erkennbaren Wirklichkeit, insoweit sie messbar sind, zum Gegenstand ihrer Forschung und deshalb eben auch den Anfang des Universums. Bei genauerer Betrachtung fallen Kosmologie, die Wissenschaft vom ganzen Universum und Elementarteilchenphysik, die Kenntnis vom allerkleinsten Elementaren, zusammen.
Man könnte sich mit Cusanus behelfen, der zum Zusammenfall aller Widersprüche (Coincidentia oppositorum) als letztes Ziel aller Erkenntnisbemühungen aufrief. Man suche nach dem einen schöpferischen Urgrund des Werdens, der zugleich Ausgangspunkt und Bestimmung alles Werdens sei. Das war über 400 Jahre vor Einstein, Planck und Heisenberg. Aber an diesem Beispiel zeigt sich eben die Vielfältigkeit unserer Erkenntnispotentiale. Cusanus dachte theologisch über den Anfang nach, im Vertrauen auf Gott, der für ihn Grund und Bestimmung des Universums ausmacht. Er brauchte „religio“, also Rückbindung an etwas Absolutes, er brauchte dazu Werte, aber keine Messwerte.
Ganz anders die Wissenschaft der Moderne, sie fußt auf der Aufklärung, vor allem auch auf der Methode des Zweifels. Begründete Skepsis vor allem gegenüber dem Individuum und seiner inneren Welt. Dieses ist, als komplexes Produkt der biologischen Evolution, der persönlichen Sozialisation und der jeweiligen gesellschaftlich-geschichtlichen Umstände, viel zu unsicher und vielfältig. Deshalb wurde und wird das es Individuum wissenschaftlich so objektiv wie möglich untersucht. Kein Wunder also, dass der Mensch in den Wissenschaften nur als Untersuchungsobjekt vorkommt, aber kaum als wichtige Erkenntnisquelle. Obwohl es doch der Mensch ist, der die Fragen stellt, enthält ein, rein auf empirische Wissenschaft gestütztes Weltbild, den Menschen nicht in seiner vollen Dimension. Und genau das ist die Tragik der Physik.
Denn es sind ja nun mal die Menschen, die in Raum und Zeit agieren. Und seit wir aus den harten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Physik - vor allem der mikroskopischen Welt, d.h. der Struktur der Materie - Technologien entwickeln, formen und über die ganze Welt verteilen mittels einer ausgeklügelten Kommunikations- und Transportinfrastruktur, ist die Geschichte der Menschheit eine immerwährende Geschwindigkeitssteigerung, ist sie globale Beschleunigung. Mittels der so genau überprüften Theorien über den Aufbau der Materie und ihrer Wechselwirkung mit elektromagnetischer Strahlung, haben wir nicht nur die Massenvernichtungswaffen der Moderne geschaffen, sondern, wie bereits erwähnt, heute eine unseren globalen Alltag dominierende Technik, die mit der höchsten Wirkungstransportgeschwindigkeit funktioniert die es gibt, nämlich mit der Lichtgeschwindigkeit. Und damit tritt eine RaumZeit-Welt in unsere Wirklichkeit, auf die wir in keiner Weise vorbereitet sind und möglicherweise auch nie vorbereitet sein werden. Denn ohne technische Hilfe gehen wir fünf Kilometer in der Stunde, können uns nur wenig wirklich genau merken und sind eben Meter-Sekunde und Kilogramm-Lebewesen. Wir gehören zu einer Welt, die im mittleren Bereich liegt, nicht im Winzigen und nicht im Gigantischen. Unsere Vorstellungskraft ist seit Generationen an dieser mittleren Welt geschult und getestet.
Die unglaublich präzise und detailreiche Inventur der Natur im Allergrößten und Allerkleinsten aber, der Triumph der Physik, führt uns in Möglichkeitsräume, für die wir gar keine Vorstellungen haben. Denn mit der Physik haben wir eine Methode entwickelt, die uns erlaubt etwas zu tun. Aber wissen wir, was wir tun? Ohne Anschauung fehlen uns die Normen, ohne Normen fehlt uns der Maßstab des Handelns.
Die moderne Physik verbindet die beiden Welten sogar und zwar im Urknall, dem Beginn von Raum, Zeit und Materie. Auf der Suche nach den ewigen, stabilen Gesetzen der Natur ist der Physik allerdings eine tragische Unterlassungssünde passiert. Sie hat vor lauter Substanzen, Teilchen und Materialien die Prozesse und Systeme vergessen. Erst seit kurzem verändert sich die Physik.
Alles, was in Quantenmechanik und Relativitätstheorie so unglaublich genau beschrieben und berechnet werden kann, betrifft das Sein so wie es ist. Selbst die jüngst entdeckten Gravitationswellen sind nur Ausdruck von bereits toten Sternen in einem - sich zwar drastisch verändernden - Gravitationsfeld, aber sie sind keine Zeichen für evolutionäre, d.h. sich entwickelnde Möglichkeiten physikalischer Systeme. Im Gegenteil, schwarze Löcher sind Sternleichen, deren Sog, ab einem bestimmten Radius, mit dramatischer Wirkung alles, für immer und ewig einfängt, aber die Dinger sind extrem primitiv, d.h. einfach. Sie haben Masse, Drehimpuls und Ladung - und das war es.
War bis jetzt das Sein der Natur, ihre raumzeitliche Struktur - innerhalb der sich Materie und Strahlung verhält - das Thema der Physik, so wird die Zukunft eine ganz andere Art von empirischer Naturforschung erfordern. Da wird es um das Werden gehen, um Entstehung und Entwicklung von einzelnen, makroskopischen Systemen und deren komplexen Vernetzung und Verflechtung zu dem, was wir Wirklichkeit nennen. Denn die Tragik der so erfolgreichen Physik der Materie und des Kosmos besteht darin, dass man lange Zeit geglaubt hat, Ziel der Physik sei eine möglichst vollständige Inventur allen Seins und die Bestimmung dessen, was berechnet werden kann und damit für alle möglichen technischen Anwendungen und Verwendungen zur Verfügung steht und vollständig kontrolliert und für die Zukunft extrapoliert werden kann. Ein fürchterlicher Irrtum, wie wir heute wissen.
Von interessanter zu relevanter Physik
Obwohl, es ist ja wirklich ungeheuerlich, was da an Neuigkeiten aus der Teilchenphysik und Astrophysik über das Internet an unsere Ohren dringt. Das Higgs-Teilchen und die Gravitationswellen, die sehr genaue Vermessung der Welt an ihren Rändern. Beide Entdeckungen sind Nachrichten aus einer Welt weit weg von jeder menschlichen Anschauung. Man hört es, alle Medien bemühen sich um Analogien und Bilder, so dass auch der Laie einen Hauch davon versteht und letztlich versteht man es doch nicht. Wie auch, ein Verständnis beider Entdeckungen setzt eine jahrelange, teilweise sehr anstrengende, Ausbildung in theoretischer Physik voraus. Und schließlich verlangen wir, als Besucher eines Konzertes eines berühmten Pianisten, ja auch nicht, dass wir auch nur annähernd so virtuos auf dem Flügel spielen können wie er.
Da werden wir also mit Informationen beregnet, die letztlich für uns so verständlich sind wie ein Text in ägyptischen Hieroglyphen. Hier begegnen wir der kulturellen Grenzleistung der hochtechnisierten, komplexen Grundlagenforschung am Rand der erkennbaren Wirklichkeit. Aber wir spüren, die Entdeckung muss wichtig sein. Schließlich ist nicht nur die mediale Kommunikation intensiv, sondern man merkt es auch den Menschen an, die die Experimente durchgeführt haben. Die sind total begeistert von ihren exotischen Ergebnissen, die sie mittels riesiger Beschleunigeranlagen im Schweizer Untergrund oder kilometerlanger Laserstrahlen, die sie mit einer Genauigkeit von einem trilliardstel Meter zusammenführen können, gemessen haben. Hier feiern die Faszination und scheinbare Grenzenlosigkeit der Naturforschung ein großartiges Fest. Alle sind begeistert: Der Präsident der USA, alle Kommentatoren und sogar alle Mitglieder des amerikanischen Senats und des Repräsentantenhauses.
Wenn sich aber der Dunst der Feier ein wenig gelegt hat, wenn die Messinstrumente weiter messen und die Nachrichten der wirklichen Welt, außerhalb der Laboratorien, von ganz anderem Inhalt sind, dann spüren wir auch, wie irrelevant solche Forschungsergebnisse für unser alltägliches Leben sind.
Klar - für die Wissenschaft stellen sie sicher, wie präzise wir inzwischen die Gesetze der Natur überprüfen können. Aber wenn aus eben diesen Naturgesetzen, die wir so genau kennen, die Ergebnisse dieses Messens und Rechnens in unser Leben eindringen und vordringen, dann wollen wir von den Ergebnissen nichts mehr wissen. Gravitationswellenskeptiker gibt es keinen einzigen, Klimaskeptiker aber schon, warum? Die Geheimnisse des Urknalls werden gefeiert, die klipp und klaren Ergebnisse der Klimaforschung und der Energietechnik werden verteufelt.
Warum kann uns die Physik einerseits so begeistern, ja enthusiastisch jubeln lassen und andererseits - die gleiche Physik, mit den gleichen experimentellen Methoden und mathematischen Verfahren - solche Skepsis hervorrufen? Kein amerikanischer Senator käme auf den Gedanken die Allgemeine Relativitätstheorie zu kritisieren, aber die ja sehr viel anschaulicheren Szenarien der Klimaforschung werden als unsinnig, ja sogar verlogen abgetan. Und das, obwohl die Kritiker, zumeist gut finanziert von Ölkonzernen und Energieunternehmen, oft überhaupt keine Ahnung von den Forschungsinhalten und Forschungsmethoden haben. Wie der Fisch vom Fahrrad reden sie über empirisch einwandfrei nachgewiesene Effekte als Lügenmärchen. Unglaublich, warum glauben wir eher an dunkle Materie und schwarze Löcher als an globale Erwärmung, Treibhauseffekt und Gletscherschmelze? Wobei die letzteren Phänomene für unseren gesunden Menschenverstand wirklich offensichtlich sind. Dafür braucht man kein Studium in kovariant formulierten, vierdimensionalen Metriken wie der Allgemeinen Relativitätstheorie.
Meine These: Wir glauben, über Naturgesetze könnte man genauso diskutieren, wie über Gesetzesvorhaben in Parlamenten. Wir haben völlig vergessen, dass wir nur ein Teil des Teils sind, das anfangs alles war. Mit der Natur kann man nicht diskutieren, da gibt es keine Abstimmungen oder Verhandlungen. Die Physik hat, gerade wegen ihrem hohen Grad an Objektivität, eine sehr unmenschliche Seite. Und nur deshalb, weil wir bis jetzt eben fast nur Inventur der Natur gemacht haben und die Ergebnisse sich so wunderbar in Technik und Wohlstand verwandeln ließen, glauben wir, das ginge einfach immer so weiter. Wir haben nicht begriffen, dass aus der Tatsache, dass die Physik die Welt in ihren Einzelheiten so gut beschreibt, sich nicht ergibt, dass damit die Welt erklärt wird. Die Welt, die natürliche Welt, hat noch ganz andere Dimensionen, die Dimensionen der Komplexität, der Vernetzung und der intensiven nichtlinearen, rückgekoppelten Wechselwirkungen.
Mit anderen Worten: Wir gehen von einer ewigen Stabilität dessen aus, was da ist. Instabilitäten, Veränderungen, Neuigkeiten und der Verlauf der Naturgeschichte haben uns bis heute kalt gelassen.
Wir sind vom Allerkleinsten bis zum Allergrößten vorgestoßen, haben es mit Experimenten und Beobachtungen durchdrungen. Wir messen Wirkungen, deren Ursachen Milliarden Lichtjahre von uns entfernt ihren Ursprung haben und hier auf der Erde allerwinzigste Längenänderungen vom Tausendstel eines Protonendurchmessers ausmachen. Zugleich dringen wir mit dem Large Hadron Collider in Energiebereiche vor, die uns in die Zeit, nur wenige trillionstel Sekunden nach dem Urknall befördern. Und das mit einer Präzision, die so hoch ist, dass zwei lichtschnelle Nähnadeln, die eine aus New York kommend, die andere aus Lissabon, sich über dem Atlantik mit fast 100-prozentiger Genauigkeit treffen würden. Und bei diesen Zusammenstößen entstehen die Selbstanregungen eines Feldes, das homogen das ganze Universum durchdringt und allen Elementarteilchen die Masse verleiht.
Diese Art von hochinteressanter Grundlagenforschung folgt seit Galileo Galilei der Annahme, dass die Welt stabil ist. Dass es in der Welt stabile Naturgesetze gibt, die alle Wechselwirkungen eindeutig definieren. Daraus folgt auch das Paradigma empirischer Forschung, deren Ziel es immer ist, objektiv nachvollziehbare Experimente durchzuführen, die unter den gleichen Bedingungen immer die gleichen, eben vollständig reproduzierbaren Ergebnisse hervorbringen. Diese metaphysische Grundforderung an die uneingeschränkte Stabilität der Welt ist zugleich die notwendige Bedingung für die Möglichkeit Technik zu entwickeln. Technik will automatisieren, vollständig determinierte, wiederholbare Vorgänge sollen durch Automaten und Maschinen realisiert werden.
Diese, durch die Annahme einer völlig stabilen Natur, untereinander eng vernetzte, Wissenschaft-Technik-Kombination ist das erfolgreichste Duo menschlicher Phantasie. Es hat in zahllosen Variationen und Formen die moderne Technologie in allen ihren Facetten hervorgebracht. Da ist eben kein tappendes Versuchen mehr, sondern gezielte, auf Effizienz und Optimierung konvergierende, hochkomplexe Technologie geschaffen worden, die uns zum herausgehobenen Lebewesen auf der Erde gemacht hat - allerdings mit dem Resultat globaler Krisen und Katastrophen, die sich, im statisch-stabilen Bild der modernen Naturwissenschaft und Technik, nicht mehr lösen lassen. Wir brauchen eine nachmoderne Physik, die das Werden und Wechselwirken in vernetzten Systemen anerkennt, die sich von Anfang an der Nichtlinearität und damit spontanen Instabilität der Welt zuwendet und sie in ihren Forschungsprojekten genauso reflektiert, wie bei der Entwicklung von neuen Technologien. Man könnte auch davon sprechen, eine nachdenklichere Wissenschaft, die das Ende einer Entwicklung oder Entdeckung mit bedenkt.
Ich will, an einem einfachen Beispiel, die Dimension der notwendigen Veränderung des naturwissenschaftlichen Paradigmas verdeutlichen: Man gibt Ihnen sechs Streichhölzer und sie sollen damit vier gleichseitige Dreiecke zusammenbauen.
Es fällt sofort auf, dass das nicht klappen kann. Viel zu wenige Hölzer. Man schiebt die Streichhölzer auf dem Tisch hin und her, es klappt nicht. Die einen sind ratlos, die anderen fragen immer wieder nach ob das auch wirklich geht. Bis - ja, bis einer auf die richtige Idee kommt: Von zwei auf drei Dimensionen. Und schon wird es ganz einfach.
Der Wechsel in eine neue Dimension macht die Lösung einfach, zumindest in diesem Beispiel. Grundsätzlich geht es aber eher darum, dass Lösungen überhaupt erst möglich werden durch die neue Dimension.
Raum und Zeit in der Zukunft
Wir brauchen eine Physik des Werdens, die den Gesamtzusammenhang der Natur in den Blick nimmt, die die Erkenntnisse der Inventur-Physik natürlich zur Kenntnis nimmt als Physik des Seins und die deshalb weiß, dass alles mit allem zusammenhängt. Daraus ist als Credo ein Forschungsprogramm zu entwickeln, das die Vergangenheit, die Entstehung und historische Entwicklung von natürlichen Systemen genauso untersucht, wie die zukünftigen Optionen der möglichen Entwicklungswege. Eine Physik, die strukturell von einer Natur ausgeht, in der es zu spontanen Ereignissen kommen kann, die a priori nicht erkennbar waren, deren Bedingungen sich erst entwickeln mussten, bis sie kritisch wurden. Erscheinungen, die als Kipp-Punkte in der Natur unsere allergrößte Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollten, werden hier zu einem zentralen Forschungsgegenstand. „Risikofolgenabschätzung“, so nennt man diese Art des wissenschaftlichen Umgangs mit Nichtwissen und mit instabilem Wissen, dessen Inhalte sich zwar nicht grundsätzlich, aber in Nuancen so verändern können, dass traditionelle Einschätzungen für Folgen und Rückwirkungen nicht mehr gültig sind. Die klassischen Beispiele für eine solche neue Art von systemischer, nachmoderner Physik betreffen in unserem Alltag die großen Bereiche Energiewende, Klimawandel und technische Voraussetzung und Methoden der ökonomischen Globalisierung bzw. der globalisierten, digitalen Kommunikationsnetze und Informationssysteme. Hier gilt es also vorauszudenken, sich vorzustellen welche Konsequenzen bestimmte Entwicklungen haben könnten. Und zwar gilt es im Popperschen Sinne kühn zu denken, sich an den Rand der gerade noch erkennbaren Zukunft heranzuwagen. Und das in Kombination mit der ständigen Überprüfung dessen, was eigentlich, also ursprünglich mit der Einführung oder Weiterentwicklung von Technologien erreicht werden sollte und dem was erreicht wurde. Damit einhergehend wird aus dem Raum und der guten alten Zeit eben viel mehr als nur die gemessenen Längen oder Veränderungen. In einer Physik des Werdens wird aus der Zeit Entwicklungspotential und aus dem Raum, unserer Umwelt wird Mitwelt. Und damit wären wir wieder am Anfang.
Würden wir heute, in voller Kenntnis der Müllproblematik, nachdem wir jahrzehntelang Milliarden an Subventionen in die Spaltung von Atomkernen gesteckt haben um damit Wasser heiß zu machen, würden wir das, politisch angetrieben, noch einmal machen? Das Handelsblatt hat im Dezember 2015 die Entscheidung der Bundesrepublik für die Kernenergie als die wirtschaftlich schlechteste Entscheidung ihrer Geschichte bezeichnet. Interessant, was hat man da unterschlagen? Klar, die Folgen.
Wir haben Wissenschaft und Technik viel zu lange machen lassen, wir lassen sie immer noch machen. Weil wir in dieser technologisch-rationalen Komfortzone aufgewachsen sind, dass alles immer wächst, es immer besser wird, es immer bequemer wird und dass Wissenschaft und Technik uns dabei helfen, ein glückliches, wenn möglicherweise auch sinnfreies Leben zu führen. Heute sind es vor allem diese so verlockenden, kleinen digitalen Flachbildschirme, direkt angedockt ans Internet, die uns vorgaukeln informiert zu sein: Über das, was sich im Raum und in der Zeit auf unserem Planeten oder im Universum so tut. Dabei lenken sie uns ständig ab, die Konzentration auf unsere unmittelbare Umgebung und Gegenwart sinkt. Wer kann noch zuhören, ohne zugleich mit einem Auge aufs Smartphone zu schielen? Also sie sind zwar hier und zwar jetzt, aber doch nicht so ganz und eigentlich denken sie schon an das, was kommt.
Ich kann mir gut vorstellen, dass sie sich die Rede eines Astrophysikers über Raum und Zeit so nicht vorgestellt haben. „Der bringt sicher was von dunkler Materie, schwarzen Löchern, den Außerirdischen und so was. Vielleicht was von Zeitreisen, Wurmlöchern und Roten Riesen“. Ich habe die jetzt alle mal erwähnt, aber für eine Rede vor öffentlichem Publikum sind mir diese so hochinteressanten astronomischen Objekte einfach zu primitiv. Die Welt da droben ist so anders als unsere Welt, dass sie uns kaum etwas sagt. Die Abgründe an Raum und Zeit so ungeheuer, dass sie geheimnisvoll und magisch wirken, in Wirklichkeit aber einfach nur leer sind - und zwar fast völlig. Das Universum ist zwar die kosmische Bühne, die Bedingung der Möglichkeit, dass sich ein Planet bildet, aber ansonsten schweigt es. Fragen Sie Astro-, Kosmo- oder Taikonauten. Dort draußen ist es maximal lebensfeindlich.
Hier, auf unserem Planeten, ist es maximal lebensfreundlich, die Bedingungen sind wirklich optimal. Unser Planet hat alles, was man zum Leben braucht. So viel wissen wir heute und zwar ganz sicher. Im Wissen ist die Gattung Homo Sapiens wirklich gut, sie weiß unter anderem, dass sie nicht weiß; aber selbst aus dem Nichtwissen könnte man eine Wissenschaft machen.
Leider ist diese Gattung im Können so viel stärker als im Sollen. Sie hat ihre Normen leider verdrängt, hoffentlich noch nicht vergessen. Sie hat sich, im Überschwang der wissenschaftlich-technischen Triumphzüge der letzten Jahrhunderte, aufgeschwungen zum Herrn über Leben und Tod, leider ohne die dafür nötige ethische Reflexion. Die unmittelbare Gegenwart ist für unser Handeln so viel wichtiger geworden, als aus der Vergangenheit etwas für die Zukunft zu lernen. Dreimonatsberichte sind etwas ganz anderes als die Dauer einer Generation. Wer immer nur kurzfristig denkt, wird kognitiv kurzatmig. Soviel zum Thema Zeit.
Und der Raum? Na, dann sind wir inzwischen ja wieder auf dem Weg zum Biedermann: Daheim ist daheim, wir sind wir und unsere landsmannschaftliche Verbundenheit ist wichtiger als alles andere. Urlaub machen wir überall auf der Welt, aber am schönsten ist es eben doch zuhause. Dagegen ist auch nichts zu sagen, nur unser Zuhause ist unser ganzer Planet.
Am 21. Dezember 1968 startete Apollo 8 zum Mond. Drei Tage später kamen die drei Astronauten Anders, Borman und Lovell, bei unserem Trabanten an. Und sie sahen den vermutlich schönsten Planeten der Milchstraße über dem kahlen Horizont des Mondes aufgehen. Alle drei hatten Tränen in den Augen, so schön war dieses Bild. Offenbar muss man weit reisen um zu verstehen von welchem Paradies man kommt.
„Wo vorher intellektuelle Suche gewesen war, regte sich plötzlich ein tiefes Gefühl in mir, etwas sei ganz anders geworden. Dieses Gefühl ist aus dem Blick auf die Erde erwachsen, diesem blauweißen, dahingleitenden Planeten, von dem wir wissen, dass er seine Bahn um die Sonne zieht. Es erwuchs aus dem Anblick der Sonne vor dem samtig tiefschwarzen Kosmos, der nicht nur ahnen lässt, sondern die Gewissheit vermittelt, dass im Strom von Energie, Zeit und Raum im Weltall etwas Zweckvolles liegt, dass dies menschliches Verstehen übersteigt und dass sich dem Verstehen ein nichtrationaler Weg erschließt, der mir in meiner bisherigen Erfahrungswelt unzugänglich geblieben war.
Während der Heimkehr staunte ich über 400.000 Kilometer hinweg die Sterne und den Planeten an, von dem ich gekommen war. Da spürte ich mit einem Male die Intelligenz, die Liebe und die Harmonie im Universum.
Als Techniker fuhren wir zum Mond; als von Zuneigung für alles Humane erfüllte Menschen kehrten wir zurück.“
(Edgar Mitchell)
Für alle, die nicht zum Mond reisen können, hier ein Vorschlag: Machen Sie ihr Zuhause größer und denken Sie an mehr als nur morgen. Werden Sie sich bewusst, dass Sie auf einem runden Planeten leben, der mit 100.000 Kilometern in der Stunde um die Sonne rast und sich am Äquator mit 1.600 Kilometern in der Stunde dreht und dadurch Tag und Nacht aufeinander folgen lässt. Denken Sie an unsere Sonne, die sich mit mehr als 800.000 Kilometern in der Stunde in der Milchstraße bewegt. Erleben Sie unsere ganze Galaxis, wie sie - mit einer mir unbekannten Geschwindigkeit - durch ein sich ständig expandierendes Universum rast, das von Milliarden anderen Galaxien erfüllt ist und sich bis in die Ewigkeit erstreckt.
Ich glaube, dieses Gefühl, welch großes Wunder unser Universum ist, und das Staunen darüber, dass wir in einem winzigen Teil davon leben, ist wichtig für unser Selbstgefühl und vielleicht sogar für unser Überleben.
Verflucht! Zur rechten Zeit fällt einem nie was ein, und was man Gutes denkt, kommt einem meistens hintendrein
(Goethe, Die Mitschuldigen, entst. 1768/9; Erstdruck dieser Fassung 1909. 3. Aufzug, 1. Szene, Wirt)