Botschaft an die Bahá'í zu Politik und Wahlen vom 2. März 2013
DAS UNIVERSALE HAUS DER GERECHTIGKEIT
2. März 2013
An die Bahá’í im Iran
Liebe Freunde,
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seit schon dreieinhalb Jahrzehnten schlägt mit wechselnder Intensität eine Verfolgungswelle nach der anderen über Ihre schwer geprüfte tapfere Gemeinde herein, ein
Trommelfeuer, das jedoch nur das jüngste in einer vor mehr als einhundertsechzig Jahren entfesselten Abfolge ist. Doch entgegen den Erwartungen jener, die darauf aus sind, die Kraft der Gemeinde der Anhänger Bahá’u’lláhs in Seinem Geburtsland zu schwächen, haben diese Machenschaften letztlich ihr Fundament verstärkt und die Reihen der Gläubigen gefestigt. Immer mehr Ihrer Landsleute, selbst Opfer von Unterdrückung, sehen nicht nur deutlich die lange Spur der Ungerechtigkeiten, die den Bahá’í über die Jahre angetan wurden, sondern erkennen auch in Ihren ununterbrochenen selbstlosen Diensten am Gemeinwesen eine Kraft konstruktiven Wandels. So wie das Mitgefühl für Sie beständig wächst, so mehren sich auch die Stimmen, die fordern, die Hindernisse zu beseitigen, die Ihnen die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in all seinen Dimensionen verwehren. Es überrascht daher nicht, dass Fragen nach der allgemeinen Haltung der Bahá’í zu politischer Betätigung in den Augen Ihrer Mitbürger größere Bedeutung angenommen haben.
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Historisch gesehen befindet sich die iranische Bahá’í-Gemeinde diesbezüglich natürlich in einer besonderen Lage. Einerseits ist sie fälschlicherweise beschuldigt worden, poli
tisch motiviert zu sein und sich gegen das jeweilige Regime verschworen zu haben im Dienst jedweder ausländischen Macht, die dem Ankläger gerade seinen Zwecken dienlich schien. Andererseits wurde die unbeirrte Weigerung der Gemeindemitglieder, sich parteipolitisch zu betätigen, als Ausdruck der Gleichgültigkeit gegenüber den Geschicken des iranischen Volkes dargestellt. Nun, da die wahren Absichten Ihrer Unterdrücker offengelegt worden sind, sollten Sie eine Antwort finden auf das wachsende Interesse Ihrer Landsleute, die Einstellung der Bahá’í zu Politik zu verstehen, damit nicht etwa Missverständnisse die Bande der Freundschaft schwächen, die Sie zu so vielen Menschen geknüpft haben. Hierbei verdienen sie mehr als nur einige Erklärungen – gleich wie bedeutsam –, die Bilder von Liebe und Einheit hervorrufen. Um Sie dabei zu unterstützen, ihnen eine Vorstellung des Rahmens zu vermitteln, der die diesbezügliche Bahá’í-Einstellung ausmacht, geben wir Ihnen die nachfolgenden Ausführungen an die Hand.
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Die Sicht der Bahá’í auf Politik ist untrennbar verbunden mit einem bestimmten Verständnis der Geschichte, ihres Verlaufs und ihrer Richtung. Die Menschheit nähert sich heute nach der festen Überzeugung jedes Anhängers Bahá’u’lláhs dem krönenden Abschluss eines bereits Jahrtausende andauernden Prozesses, der sie von ihrer kollektiven Kindheit hin zur Schwelle der Reife gebracht hat – einem Stadium, in dem die Vereinigung der ganzen Menschheit Wirklichkeit wird. Ganz ähnlich wie beim Einzelnen, der die unruhige und doch verheißungsvolle Jugendzeit durchläuft, in der latente Kräfte und Fähigkeiten zum Vorschein kommen, befindet sich nun die Menschheit als Ganzes mitten in einer noch nie dagewesenen Übergangsphase. Oft stehen hinter den Turbulenzen und Erschütterungen im heutigen Leben die schubweisen Anläufe einer Menschheit, die darum ringt, zur Reife zu gelangen. Anerkannte Bräuche und Gepflogenheiten, hochgeschätzte Haltungen und Gewohnheiten erweisen sich nach und nach als überholt, je mehr die Anforderungen der Reife sich behaupten.
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Die Bahá’í sind aufgerufen, in den Umwälzungen, die in allen Bereichen des Lebens stattfinden, das Wechselspiel zweier fundamentaler Prozesse zu erkennen. Der eine ist destruktiv, während der andere integrativer Natur ist; beide dienen – jeder auf seine Weise – dazu, die Menschheit auf dem Pfad zu ihrer vollen Reife voranzubringen. Das Walten des einen Prozesses ist allseits offensichtlich: in den Wechselfällen, die altehrwürdige Institutionen befallen haben; in der Unfähigkeit führender Köpfe auf allen Ebenen, die Risse zu kitten, die sich in den Strukturen der Gesellschaft auftun; im Abbau moralischer Normen, die lange Zeit imstande waren, unziemliche Leidenschaften unter Kontrolle zu halten; und in der Mutlosigkeit und Gleichgültigkeit, die nicht nur von Einzelnen, sondern von ganzen Gesellschaften an den Tag gelegt werden, die jeden Sinn für ihre Bestimmung verloren haben. Wenngleich zerstörerisch in ihren Wirkungen, tendieren die Kräfte des Zerfalls dazu, Hindernisse hinwegzufegen, die dem Fortschritt der Menschheit im Weg stehen, und schaffen so Raum, damit der Prozess der Integration unterschiedliche Menschengruppen zusammenführt und neue Möglichkeiten der Kooperation und Mitwirkung eröffnet. Die Bahá’í sind selbstverständlich bestrebt, als Einzelne und gemeinsam sich Kräften anzuschließen, die mit dem Integrationsprozess verbunden sind, und die – darauf vertrauen sie – zunehmend an Stärke gewinnen werden, ganz gleich wie düster die unmittelbare Zukunft auch erscheinen mag. Das menschliche Zusammenleben wird von Grund auf neu geordnet und eine Ära universellen Friedens eingeläutet werden.
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Solcherart ist das Geschichtsverständnis, das allen von der Bahá’í-Gemeinde unternommenen Anstrengungen zugrunde liegt.
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Wie Sie aus Ihrem Studium der Bahá’í-Schriften wissen, ist das Prinzip, das alle Facetten organisierten Lebens auf diesem Planeten durchdringt, die Einheit der Menschheit, das Kennzeichen des Zeitalters der Reife. Dass die Menschheit ein einziges Volk bildet, ist eine Wahrheit, die, einst mit Skepsis betrachtet, heute breite Anerkennung findet. Die Zurückweisung tief verwurzelter Vorurteile und ein zunehmender Sinn für Weltbürgertum gehören zu den Anzeichen dieses höheren Bewusstseins. Wie vielversprechend ein wachsendes kollektives Bewusstsein auch sein mag, sollte es lediglich als ein erster Schritt in einem Prozess gesehen werden, dessen Entfaltung Jahrzehnte, nein, vielmehr Jahrhunderte dauern wird. Denn das Prinzip der Einheit der Menschheit, wie von Bahá’u‘lláh verkündet, verlangt nicht nur eine Kooperation unter Menschen und Nationen. Es erfordert einen völligen Neuentwurf der Beziehungen, die die Gesellschaft aufrechterhalten. Die sich verstärkende Umweltkrise, angetrieben von einem System, das die rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen billigt, nur um einen unstillbaren Durst nach mehr zu befriedigen, zeigt, wie gänzlich unzureichend das gegenwärtige Verständnis vom Verhältnis der Menschheit zur Natur ist; die damit einhergehende Verschlechterung des häuslichen Umfelds, mit der weltweit zunehmenden systematischen Ausbeutung von Frauen und Kindern, verdeutlicht, wie sehr sich völlig falsche Vorstellungen über die inneren Beziehungen der Familiengemeinschaft ausgebreitet haben; fortbestehender Despotismus einerseits und die zunehmende Missachtung von Autorität andererseits zeigen, wie unerfreulich für eine heranreifende Menschheit die gegenwärtige Beziehung zwischen dem Einzelnen und den Institutionen der Gesellschaft ist; die Konzentration materiellen Reichtums in den Händen einer Minderheit der Weltbevölkerung ist ein Indiz dafür, wie fundamental schlecht die Beziehungen zwischen den vielen Bereichen der jetzt entstehenden globalen Gemeinschaft konzipiert sind. Das Prinzip der Einheit der Menschheit umfasst somit einen organischen Wandel der Grundstrukturen der Gesellschaft.
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Hier muss ganz deutlich gesagt werden, dass die Bahá’í nicht glauben, dass der für die Zukunft geschaute Wandel ausschließlich durch ihr Bemühen herbeigeführt werden wird. Auch versuchen sie nicht, eine Bewegung zu bilden, die danach strebt, der Gesellschaft ihre Zukunftsvision aufzuzwingen. Jede Nation, jede Gruppe, ja jeder Einzelne wird, in stärkerem oder geringerem Maße, zum Entstehen der Weltzivilisation beitragen, auf die sich die Menschheit unaufhaltsam zubewegt. Die Einheit wird, wie ‘Abdu’l-Bahá andeutete, nach und nach in verschiedenen Bereichen menschlichen Zusammenlebens verwirklicht werden, so etwa die „Einheit im politischen Bereich“, die „Einheit des Denkens in weltweiten Unternehmungen“, die „Einheit der Rassen“ und die „Einheit der Nationen“. Während dies verwirklicht wird, nehmen die Strukturen einer politisch geeinten Welt, die die volle kulturelle Vielfalt achtet und Ausdrucksmöglichkeiten für Würde und Ehre bietet, allmählich Form an.
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Die Frage, die die weltweite Bahá’í-Gemeinde beschäftigt, ist daher, wie sie mit wachsenden Ressourcen am besten zum Prozess der Zivilisationsbildung beitragen kann. Sie sieht zwei Dimensionen in ihrem Beitrag. Die erste bezieht sich auf ihr eigenes Wachstum und die eigene Entwicklung, und die zweite auf ihr gesamtgesellschaftliches Engagement.
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Bezüglich der ersten bemühen sich die Bahá’í rund um den Globus, im Rahmen äußerst bescheidener Gegebenheiten, ein Handlungsmuster mit den dazu gehörigen Verwaltungsstrukturen aufzubauen, die das Prinzip der Einheit der Menschheit verkörpern und die Grundüberzeugungen, von denen es getragen wird; davon sollen hier nur einige zur Verdeutlichung genannt werden: dass die vernunftbegabte Seele weder Geschlecht, Rasse, Volkszugehörigkeit noch sozialen Status hat, eine Tatsache, die Vorurteile jeder Art unhaltbar macht, nicht zuletzt jene, die Frauen daran hindern, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen und sich Schulter an Schulter mit den Männern auf unterschiedlichen Gebieten zu engagieren; dass die Wurzel für Vorurteile in der Unwissenheit liegt, die ausgemerzt werden kann durch Bildungsprozesse, die der gesamten Menschheit Wissen zugänglich machen, und die sicherstellen, dass es nicht einigen wenigen Privilegierten vorbehalten bleibt; dass Wissenschaft und Religion zwei komplementäre Wissens- und Handlungssysteme bilden, dank derer der Mensch seine Umwelt verstehen lernt und die Zivilisation voranschreitet; dass Religion ohne Wissenschaft schnell in Aberglauben und Fanatismus entartet, während Wissenschaft ohne Religion zum Werkzeug eines rücksichtslosen Materialismus wird; dass wahrer Wohlstand, die Frucht eines dynamischen Zusammenhangs zwischen den materiellen und den geistigen Bedürfnissen des Lebens, immer unerreichbarer wird, solange Konsumdenken weiterhin als Opium für die menschliche Seele fungiert; dass Gerechtigkeitsempfinden – eine Fähigkeit der Seele – dem Einzelnen ermöglicht, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden und das Erforschen der Wirklichkeit leitet, das so unabdingbar ist, wenn Aberglaube und veraltete Traditionen, die der Einheit im Wege stehen, ausgerottet werden sollen; dass Gerechtigkeit, angemessen auf gesellschaftliche Probleme angewandt, das mit Abstand bedeutsamste Instrument zur Verwirklichung von Einheit ist; dass Arbeit, verrichtet im Geiste des Dienstes an seinen Mitmenschen, eine Form des Gebetes ist, eine Möglichkeit des Gottesdienstes. Ideale wie diese in die Wirklichkeit zu übertragen, eine umfassende Wandlung beim Einzelnen zu bewirken und das Fundament für geeignete gesellschaftliche Strukturen zu legen, ist ganz gewiss keine leichte Aufgabe. Die Bahá’í-Gemeinde widmet sich jedoch dem langfristigen Lernprozess, den diese Aufgabe mit sich bringt – einem Unterfangen, zu dem immer mehr Menschen aus allen sozialen Schichten und aus jeglicher menschlicher Gemeinschaft eingeladen sind teilzunehmen.
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Natürlich muss der Lernprozess, der jetzt in allen Teilen der Welt im Gange ist, zahlreiche Fragen angehen: Wie können Menschen verschiedener Herkunft in einer Umgebung zusammengebracht werden, die sie ermutigt, ohne ständig drohenden Streit und ausgezeichnet durch ihren Andachtscharakter, das Trennende des Parteidenkens beiseitezulegen, die einen höheren Grad der Einheit im Denken und Handeln fördert und rückhaltlose Teilnahme hervorruft; wie können die Angelegenheiten einer Gemeinde verwaltet werden, in der es keine herrschende Klasse mit klerikalen Funktionen gibt, die Auszeichnung oder Privilegien beanspruchen kann; wie können Scharen von Männern und Frauen befähigt werden, sich aus den Fesseln der Passivität und den Ketten der Unterdrückung zu befreien, um sich für etwas zu engagieren, was ihrer geistigen, sozialen und intellektuellen Entwicklung dient; wie kann man Jugendlichen helfen, durch eine der entscheidendsten Phasen in ihrem Leben hindurch zu manövrieren und fähig zu werden, ihre Energien auf den Fortschritt der Zivilisation zu konzentrieren; wie kann im familiären Umfeld eine Dynamik geschaffen werden, die zu materiellem und geistigem Wohlergehen führt, ohne den heranwachsenden Generationen Gefühle der Entfremdung gegenüber einem scheinbar „Anderen“ anzuerziehen oder in ihnen die Neigung zu fördern, die in eine solche Kategorie Verwiesenen auszubeuten; wie kann erreicht werden, dass eine Entscheidungsfindung von unterschiedlichen Perspektiven innerhalb eines Beratungsprozesses profitiert, der, verstanden als gemeinsames Erforschen der Wirklichkeit, die Loslösung von persönlichen Sichtweisen fördert, gesicherten Erfahrungswerten angemessene Bedeutung beimisst, nicht bloße Meinungen zu Tatsachen stilisiert, oder Wahrheit als Kompromiss zwischen gegensätzlichen Interessengruppen definiert. Um sich mit Fragen wie diesen und vielen weiteren, die sicherlich daraus folgen, auseinanderzusetzen, hat die Bahá’í-Gemeinde einen Arbeitsmodus angenommen, der gekennzeichnet ist durch Handeln, Reflektieren, Beraten und Studieren – ein Studium, das nicht nur den ständigen Rückgriff auf das Bahá'í-Schrifttum einschließt, sondern auch die wissenschaftliche Analyse sich abzeichnender Muster. In der Tat: Wie kann man ein solches Verfahren des Lernens im Handeln aufrechterhalten, wie kann sichergestellt werden, dass immer mehr Menschen daran teilnehmen, sachdienliches Wissen zu generieren und anzuwenden und wie können Strukturen für die Systematisierung der wachsenden, weltweiten Erfahrungen erarbeitet und das Gelernte allen in gleicher Weise zugänglich gemacht werden – all dies ist selbst Gegenstand regelmäßiger Untersuchung.
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Die Gesamtrichtung des Lernprozesses, den die Bahá’í-Gemeinde verfolgt, wird durch eine Reihe globaler Pläne bestimmt, deren Vorkehrungen das Universale Haus der Gerechtigkeit festlegt. Kompetenzerwerb ist der Schlüsselbegriff dieser Pläne: Sie zielen darauf ab, die Protagonisten gemeinsamer Bemühungen in die Lage zu versetzen, die geistigen Grundlagen von Dörfern und Nachbarschaften zu stärken, gewisse gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedürfnisse anzugehen, und einen Beitrag zu den vorherrschenden gesellschaftlichen Diskursen zu leisten – und bei all dem das nötige Zusammenspiel von Verfahrensweisen und Denkansätzen zu wahren.
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Im Mittelpunkt des Lernprozesses steht die Untersuchung der Natur der Beziehungen, die den Einzelnen, die Gemeinde und die gesellschaftlichen Institutionen miteinander verbinden, die Akteure auf der Bühne der Geschichte, die zu allen Zeiten in ein Ringen um Macht verstrickt gewesen sind. Die diesbezügliche Auffassung, ihr Verhältnis zueinander müsse unweigerlich den Zwängen eines Konkurrenzkampfes unterliegen – ein Verständnis, das das außerordentliche Potenzial des menschlichen Geistes ignoriert – ist zugunsten der glaubhafteren Prämisse beiseitegelegt worden, dass ihr harmonisches Zusammenwirken eine Kultur fördern kann, die einer mündigen Menschheit angemessen ist. Belebt werden die Bemühungen der Bahá’í, die Natur eines neuen Beziehungsgeflechts zwischen diesen drei Akteuren zu entdecken, durch die Vision einer zukünftigen Gesellschaft, die von einer Analogie Bahá’u’lláhs in einem vor annähernd eineinhalb Jahrhunderten verfassten Sendschreiben inspiriert ist, in dem Er die Welt mit dem menschlichen Körper vergleicht. Zusammenarbeit ist das Grundprinzip, das die Funktionsweise jenes Systems regelt. Gerade so wie das Erscheinen der vernunftbegabten Seele in diesem Reich des Seins möglich wird durch den komplexen Zusammenschluss zahlloser Zellen, deren Organisation in Gewebe und Organe das Hervortreten bestimmter Fähigkeiten erlaubt, kann Zivilisation angesehen werden als das Ergebnis einer Reihe von Wechselwirkungen zwischen verschiedenen eng verbundenen Komponenten, die über den begrenzten Zweck, sich nur um das eigene Wohl zu kümmern, hinausgewachsen sind. Und so wie die Lebensfähigkeit jeder Zelle und jedes Organs von der Gesundheit des Körpers als Ganzes abhängt, sollte auch das Wohlergehen jedes Einzelnen, jeder Familie und jedes Volkes im Wohl der gesamten Menschheit gesucht werden. In Übereinstimmung mit solch einer Vision sind Institutionen, die die Notwendigkeit für abgestimmtes, auf gedeihliche Ziele gerichtetes Handeln anerkennen, nicht auf Herrschaft aus, sondern auf die Förderung und Führung des Einzelnen, der seinerseits bereitwillig Führung annimmt – nicht in blindem Gehorsam, sondern mit auf bewusstem Wissen gegründetem Vertrauen. Die Gemeinde stellt sich unterdessen der Herausforderung, ein Umfeld aufrechtzuerhalten, in dem die Kräfte von Einzelnen, die ihre Selbstentfaltung verantwortungsvoll in Einklang mit dem Gemeinwohl und den Plänen der Institutionen zum Ausdruck bringen möchten, in geeintem Handeln um ein Vielfaches wachsen.
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Wenn das oben angesprochene Beziehungsgeflecht Gestalt annehmen und daraus ein Lebensmuster erwachsen soll, das durch die Wahrung des Prinzips der Einheit der Menschheit gekennzeichnet ist, müssen einige grundlegende Konzepte geprüft werden. Das wichtigste unter ihnen ist das Konzept der Macht. Zweifellos muss das Konzept von Macht als Instrument der Herrschaft, verbunden mit Begriffen wie Kampf, Streit, Spaltung und Überlegenheit, ein für alle Mal verworfen werden. Damit soll nicht das Wirken von Macht in Abrede gestellt werden; denn schließlich ist selbst dort, wo gesellschaftliche Institutionen ihr Mandat durch die Zustimmung des Volkes erhalten haben, bei der Ausübung von Autorität Macht im Spiel. Jedoch sollten politische Prozesse, wie auch andere Prozesse im Leben, nicht von jener Macht des menschlichen Geistes unberührt bleiben, die der Bahá’í-Glaube – und eigentlich alle großen religiösen Traditionen, die im Laufe der Zeitalter erschienen sind – zu erschließen sucht: die Macht der Einheit, der Liebe, des demütigen Dienens, der reinen Taten. Mit Macht in diesem Sinne stehen Begriffe in Zusammenhang wie „freisetzen“, „ermutigen“, „kanalisieren“, „führen“ und „befähigen“. Macht ist kein umgrenztes Gebilde, das „zu ergreifen“ oder „eifersüchtig zu hüten“ wäre; sie stellt eine unbegrenzte Fähigkeit zur Wandlung dar, die der Menschheit als einem Organismus innewohnt.
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Die Bahá’í-Gemeinde räumt bereitwillig ein, dass sie noch eine beachtliche Strecke zu durchmessen hat, bevor ihre wachsende Erfahrung die notwendigen Einsichten in die Arbeitsweisen des angestrebten Beziehungsgeflechts liefert. Sie erhebt keine Ansprüche auf Vollkommenheit. Hohe Ideale aufrechtzuhalten oder sie zu verkörpern ist keinesfalls das Gleiche. Myriaden von Herausforderungen liegen vor uns und vieles muss noch gelernt werden. Der flüchtige Betrachter mag die Anstrengungen der Gemeinde, diese Herausforderungen zu meistern, sehr wohl als „idealistisch“ etikettieren. Es wäre jedoch sicherlich nicht gerechtfertigt, die Bahá’í als gleichgültig gegenüber den Belangen ihres jeweiligen Landes darzustellen, und noch viel weniger als unpatriotisch. Wie idealistisch das Unterfangen der Bahá’í manchen auch erscheinen mag, ihr fest verwurzeltes Interesse am Wohle der Mensch heit kann nicht ignoriert werden. Und da keine der gegenwärtigen Einrichtungen der Welt in der Lage zu sein scheint, die Menschheit aus dem Morast von Konflikt und Streit herauszuziehen und ihr Glück zu sichern, warum sollte da eine Regierung etwas dagegen haben, wenn eine Gruppe von Menschen sich bemüht, ihr Verständnis jener zentralen lebensnotwendigen Beziehungen zu vertiefen, die zu der gemeinsamen Zukunft gehören, zu der die Menschheit unaufhaltsam hingezogen wird. Was kann daran Schlimmes sein?
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Innerhalb des Rahmens, der durch die oben beschriebenen Ideen skizziert wird, kann
jetzt die zweite Dimension der Bemühungen der Bahá’í-Gemeinde, zum Fortschritt der Zivi-
lisation beizutragen, betrachtet werden: ihre Mitwirkung in der gesamten Gesellschaft. Si-
cherlich kann das, was die Bahá’í als den einen Aspekt ihres Beitrags sehen, nicht im Wider-
spruch zu dem anderen stehen. Sie können nicht einerseits danach streben, Denk- und Hand-
lungsmuster aufzubauen, die dem Prinzip der Einheit in ihrer eigenen Gemeinde Ausdruck
verleihen, jedoch in einem anderen Zusammenhang Tätigkeiten unterstützen, die, in wel-
chem Ausmaß auch immer, einer völlig entgegengesetzten Reihe von Prämissen über gesell-
schaftliches Zusammenleben Vorschub leisten. Um eine solche Dualität zu vermeiden, hat
die Bahá’í-Gemeinde auf der Grundlage der Lehren des Glaubens die Hauptmerkmale ihrer
Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nach und nach verfeinert. Zuerst und vor allem be-
mühen sich Bahá’í, ob als Einzelne oder als Gemeinde, dieses Gebot Bahá’u’lláhs umzuset-
zen: „Wer aufrichtig und getreu ist, sollte sich in strahlender Freude mit allen Völkern und
Geschlechtern der Erde verbinden, da der Verkehr mit anderen Menschen Einheit und Ein-
tracht schafft, was wiederum zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Welt und zur Neu-
geburt der Nationen führt.“ Durch „freundschaftlichen Umgang und gemeinsame Treffen“,
hat ‘Abdu’l-Bahá weiter erklärt, „finden wir Glück und Entwicklung, einzeln und gemein-
schaftlich.“ „... alles, was der Vereinigung, Anziehung und Einheit unter den Menschenkin-
dern dient“, hat Er in diesem Zusammenhang geschrieben, ist „Mittel zum Lebenserhalt für
die Menschenwelt; alles, was Teilung, Abneigung und Entfremdung bewirkt, führt die
Menschheit in den Tod.“ Selbst im Falle der Religion hat Er klargestellt, dass sie „die Ursa-
che von Liebe und Kameradschaft sein muss. Sollte Religion zur Ursache von Zwietracht
und Feindseligkeit werden, wäre ihre Abwesenheit vorzuziehen.“ Und so tun Bahá’í stets ihr
Äußerstes, diesem Rat Bahá’u’lláhs Folge zu leisten: „Schließt eure Augen vor Entfremdung;
sodann richtet euren Blick auf die Einheit.“ „Der ist wirklich ein Mensch“, ermahnt Er Seine
Anhänger, „der sich heute dem Dienst an der gesamten Menschheit hingibt.“ „Sorgt euch
um die Nöte eurer Zeit“, ist Seine Ermahnung, „und konzentriert Euch auf ihre Bedürfnis-
se.“ „Was die Menschheit am dringendsten braucht, ist Zusammenarbeit und Wechselseitig-
keit“, hat ‘Abdu’l-Bahá aufgezeigt. „Je stärker die Bande der Kameradschaft und Solidarität
unter den Menschen sind, desto größer wird die Kraft des Aufbaus und der Errungenschaf-
ten auf allen Ebenen menschlichen Handelns sein.“ „So machtvoll ist das Licht der Einheit“,
erklärt Bahá’u’lláh, „dass es die ganze Erde erleuchten kann.“
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Mit solchen Gedanken im Sinn beginnen Bahá’í, soweit es ihre Ressourcen erlauben, eine Zusammenarbeit mit einer wachsenden Zahl von Bewegungen, Organisationen, Gruppen und Einzelnen, etablieren Partnerschaften, die sich um gesellschaftlichen Wandel bemühen, die Sache der Einheit vorantragen, sich für menschliche Wohlfahrt einsetzen und zu weltweiter Solidarität beitragen. Tatsächlich wird die Bahá’í-Gemeinde durch den in solchen Passagen gesetzten Standard dazu inspiriert, sich so vielfältig im heutigen Leben zu engagieren, wie dies nur möglich ist. Bei der Wahl von Bereichen der Zusammenarbeit müssen Bahá’í sich aber das in ihren Lehren verankerte Prinzip vor Augen halten, dass Mittel und Zweck im richtigen Verhältnis zueinander stehen sollten; hehre Ziele können nicht mit unlauteren Mitteln erreicht werden. Insbesondere kann dauerhafte Einheit nicht durch Bestrebungen erreicht werden, die zwangsläufig auf Streit beruhen oder unterstellen, dass ein innewohnender Interessenkonflikt, wie subtil auch immer, allen menschlichen Interaktionen zugrunde liegt. Es sollte hier festgehalten werden, dass die Gemeinde, trotz der Einschränkungen, die ihnen durch dieses Prinzip auferlegt sind, nicht die Erfahrung gemacht hat, dass es ihr an Gelegenheiten zur Zusammenarbeit fehlen würde; so viele Menschen arbeiten heute weltweit intensiv für das eine oder andere Ziel, das auch die Bahá’í anstreben. Diesbezüglich sind sie auch darauf bedacht, bestimmte Grenzen ihren Kollegen und Mitarbeitern gegenüber nicht zu überschreiten. So dürfen sie kein gemeinsames Unternehmen als Gelegenheit betrachten, Glaubensüberzeugungen aufzudrängen. Selbstgerechtigkeit und andere unselige Ausdrucksformen von Glaubenseifer müssen gänzlich vermieden werden. Bahá’í bieten jedoch ihren Mitarbeitern bereitwillig ihre eigenen Lernerfahrungen an, genauso wie sie auch gerne die aus solcher Zusammenarbeit gewonnenen Einsichten in ihre eigenen Bemühungen um Gemeindebildung einbeziehen.
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Dies bringt uns schließlich zu der spezifischen Frage nach politischer Betätigung. Die Überzeugung der Bahá’í-Gemeinde, dass die Menschheit, nachdem sie frühere Stadien gesellschaftlicher Entwicklung durchlaufen hat, an der Schwelle ihrer kollektiven Reife steht; ihr Glaube, dass das Prinzip der Einheit der Menschheit, das Kennzeichen des Zeitalters der Reife, einen grundlegenden Wandel in den Strukturen der Gesellschaft mit sich bringen muss; ihre Hingabe an einen Lernprozess, der – beseelt durch dieses Prinzip – die Arbeitsweisen eines neuen Beziehungsgeflechts zwischen dem Einzelnen, der Gemeinschaft und den Institutionen der Gesellschaft, den drei Protagonisten des Fortschritts der Zivilisation, erforscht; ihr Vertrauen, dass ein neu überdachtes Konzept der Macht – befreit vom Begriff der Herrschaft mit den damit verbundenen Vorstellungen von Kampf, Streit, Spaltung und Überlegenheit – dem angestrebten Beziehungsgeflecht zugrunde liegt; ihre Hingabe an die Vision einer Welt, der die reiche kulturelle Vielfalt der Menschheit zu Gute kommt und die keine Trennlinien erträgt – all dies sind die grundlegenden Elemente des Rahmens, der den Bahá’í-Ansatz bezüglich Politik formt, wie nachfolgend kurz beschrieben wird.
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Bahá’í streben nicht nach politischer Macht. Sie werden unter ihrer jeweiligen Regierung, unabhängig vom jeweils herrschenden System, keine politischen Ämter annehmen, sie werden jedoch durchaus Aufgaben, die sie als rein verwaltungstechnisch erachten, übernehmen. Sie werden sich keiner politischen Partei anschließen, sich nicht in parteipolitische Konflikte verwickeln lassen oder an Programmen beteiligt sein, die mit den spaltenden Programmen irgendeiner Gruppe oder Fraktion verknüpft sind. Zugleich respektieren die Bahá’í jene, die sich, aus dem aufrichtigen Wunsch heraus ihrem Land zu dienen, dazu entscheiden politische Bestrebungen zu verfolgen oder politischen Tätigkeiten nachzugehen. Der von der Bahá’í-Gemeinde angenommene Ansatz der Nichteinmischung in solche Tätigkeiten ist nicht als eine grundsätzliche Ablehnung oder Verurteilung von Politik in ihrem wahren Sinne gemeint; denn die Menschheit organisiert sich in der Tat durch politisches Handeln. Bahá’í nehmen an bürgerlichen Wahlen teil, sofern sie sich dafür nicht mit irgendeiner Partei identifizieren müssen. In diesem Zusammenhang betrachten sie Regierungen als Systeme, die die Wohlfahrt und den geordneten Fortschritt der Gesellschaft sicherstellen, und sie sind allesamt darauf bedacht, die Gesetze des Landes, in dem sie leben, zu befolgen, ohne jedoch zuzulassen, dass ihre inneren Glaubensüberzeugungen verletzt werden. Bahá’í werden sich an keinerlei Anstiftung zum Sturz einer Regierung beteiligen. Auch werden sie sich nicht in politische Beziehungen zwischen den Regierungen unterschiedlicher Nationen einmischen. Dies bedeutet nicht, dass sie naiv sind bezüglich politischer Prozesse in der heutigen Welt und nicht zwischen gerechter und tyrannischer Herrschaft unterscheiden. Die Herrscher auf Erden müssen ihren heiligen Verpflichtungen gegenüber ihrem Volk nachkommen, das als kostbarster Schatz jeder Nation gesehen werden sollte. Wo immer sie leben, streben Bahá’í danach, den Standard der Gerechtigkeit hochzuhalten, und werden gegen Unrecht, das ihnen selbst oder anderen angetan wird, vorgehen – jedoch nur im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden gesetzlichen Möglichkeiten und unter Vermeidung jeder Form gewaltsamen Protests. Überdies widerspricht die Liebe zur Menschheit, die sie in ihrem Herzen tragen, nicht der von ihnen empfundenen Pflicht, ihre Kräfte im Dienst für ihr jeweiliges Land einzusetzen.
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Der Ansatz, oder wenn Sie wollen, die Strategie mit der Reihe einfacher Leitlinien, die wir im vorherigen Absatz umrissen haben, ermöglicht es der Gemeinde, in einer Welt, in der Nationen und Stämme gegeneinander aufgestellt und Menschen durch gesellschaftliche Strukturen voneinander getrennt sind, ihren Zusammenhalt und ihre Integrität als weltweites Ganzes aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass die Tätigkeiten der Bahá’í in einem Land nicht das Leben jener in einem anderen Land gefährden. Geschützt vor Interessenskonflikten einzelner Nationen und politischer Parteien, ist die Bahá’í-Gemeinde so imstande, ihre Fähigkeiten auszubauen, zu Prozessen, die Frieden und Einheit fördern, beizutragen.
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Liebe Freunde, wir sind uns darüber im Klaren, dass das Beschreiten dieses Pfads, das Ihnen seit Jahrzehnten so gut gelingt, nicht frei von Herausforderungen ist. Es verlangt eine Integrität, die nicht erschüttert werden kann, rechtschaffenes Verhalten, das nicht untergraben werden kann, klares Denken, das nicht vernebelt werden kann, eine Liebe für Ihr Land, die nicht manipulierbar ist. Nun, da Ihre Landsleute Ihre Notlage verstehen und sich Ihnen zweifellos Möglichkeiten zu noch weitergehender gesellschaftlicher Teilnahme eröffnen, beten wir, dass Ihnen Beistand aus der Höhe zuteil werde, wenn Sie Ihren Freunden und Landsleuten den auf diesen Seiten zum Ausdruck gebrachten Rahmen erläutern, so dass Sie, in Zusammenarbeit mit ihnen, zunehmend Gelegenheit finden werden, für das Wohl Ihres Volkes zu arbeiten, ohne in irgendeiner Weise Ihre Identität als Anhänger Dessen, Der die Menschheit vor mehr als einem Jahrhundert zu einer neuen Weltordnung gerufen hat, zu kompromittieren.
[gez. Das Universale Haus der Gerechtigkeit]