Wer schreibt die Zukunft? Nachdenken über das 20. Jahrhundert
Ein Statement der Bahá‘í International Community
Office for Public Information - New York 1999
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá‘í in Österreich - Wien 1999
Am 28. Mai 1992 trat die brasilianische Abgeordnetenkammer zu einer Sondersitzung zusammen, um des 100. Jahrestages des Hinscheidens Bahá’u’lláhs, dessen Einfluss zunehmend die gesellschaftliche und intellektuelle Landschaft der Welt formt, zu gedenken. Seine Botschaft der Einheit hat offensichtlich die brasilianischen Gesetzgeber in ihrem Innersten tief berührt. Während jener Sondersitzung zollten Sprecher aller in der Kammer vertretenen Parteien dem Respekt, was einer der Abgeordneten als „das umfassendste religiöse Werk aus der Feder eines einzelnen Menschen“ bezeichnete. Der Respekt der Abgeordneten galt damit auch einer Zukunftsvision für unseren Planeten, die — wie ein anderer Abgeordneter es ausdrückte — „materielle Grenzen überschreitet und sich an die ganze Menschheit wendet, ohne kleingeistige Unterschiede zwischen Nationen, Rassen, anderen Abgrenzungen oder Glaubensrichtungen zu machen.“1
Dieser Tribut beeindruckt um so mehr angesichts der Tatsache, dass die muslimische Geistlichkeit, die den Iran regiert, Bahá’u’lláhs Vermächtnis in seinem Geburtsland ungebrochen und unversöhnlich ächtet. Schon ihre Vorgänger waren für seine Verbannung und Gefangenschaft Mitte des 19. Jahrhunderts verantwortlich gewesen sowie für die Massaker an Tausenden von Menschen, die Bahá’u’lláhs Ideale eines Wandels im Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft teilten. Zur gleichen Zeit, als in Brasilia die Feierlichkeiten vonstatten gingen, brachte den im Iran lebenden 300.000 Bahá’í die Weigerung, Glaubensgrundsätze zu verneinen, die im größten Teil der Welt hohe Anerkennung gefunden haben, Verfolgung, Entbehrung und in nur zu vielen Fällen auch Verhaftung und Tod. Von ähnlicher Gegnerschaft waren auch die Einstellungen verschiedener totalitärer Rgime im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts geprägt.
Aber welches Gedankengut beinhalten diese Lehren, die solch stark auseinandergehende Reaktionen ausgelöst haben?
1. Die Hauptabsicht der Botschaft Bahá’u’lláhs ist die Erklärung der Wirklichkeit als etwas, was primär geistiger Natur ist, und die Darstellung der Gesetze, die das Funktionieren dieser Wirklichkeit beherrschen. Diese Darstellung betrachtet nicht nur den einzelnen Menschen als geistiges Wesen, als eine „mit Vernunft begabte Seele“, sondern betont nachdrücklich, dass das gesamte von uns als Zivilisation bezeichnete Unterfangen auch einen geistigen Prozess darstellt, einen Prozess, in dessen Verlauf der menschliche Verstand und die menschliche Seele zunehmend komplexere und effizientere Mittel entwickelt haben, um der ihnen innewohnenden moralischen und intellektuellen Fähigkeiten Ausdruck zu verleihen.
Bahá’u’lláh lehnt die herrschenden Dogmen des Materialismus ab und stellt diesen eine ganz entgegengesetzte Interpretation historischer Abläufe gegenüber. Die Menschheit — Pfeilspitze der Evolution des Bewusstseins — durchläuft Stadien, die mit den Entwicklungsphasen eines Säuglings, Kindes und Jugendlichen im Leben eines einzelnen Menschen vergleichbar sind. Diese Reise hat uns an die Schwelle unserer lange ersehnten Reife als geeinte Menschheit gebracht. Jene Kriege, die Ausbeutung und Vorurteile, welche für die Phasen der Unreife typisch waren, sollten uns nicht verzweifeln lassen, sondern ein Anreiz sein, die mit dem kollektiven Reifealter verbundene Verantwortung anzunehmen.
In seinen Sendschreiben an die politischen und religiösen Führer seiner Zeit schrieb Bahá’u’lláh, dass in den Völkern der Erde neue Fähigkeiten von unermesslicher Macht erwachten, die das Vorstellungsvermögen der damals lebenden Generation überstiegen und die bald danach das materielle Leben auf dem Planeten verändern würden. Er sagte, es sei unbedingt erforderlich, diese künftigen materiellen Fortschritte zur moralischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu nutzen. Wenn nationalistische und sektiererische Konflikte dies verhindern sollten, dann werde materieller Fortschritt nicht nur Vorteile, sondern bisher nie vorgestellte negative Konsequenzen haben. Einige der von Bahá’u’lláh formulierten Warnungen erinnern uns an finstere Ereignisse in unserem eigenen Zeitalter. „Seltsame, verblüffende Dinge gibt es in der Erde“, warnte er. „Diese Dinge sind imstande, die ganze Erdatmosphäre zu verwandeln, und eine Verseuchung mit ihnen wäre tödlich.“2
2. Die zentrale Frage, mit der sich alle Völker — egal, welcher Nation, Religion oder ethnischer Herkunft — auseinandersetzen müssen, sagt Bahá’u’lláh, ist die Schaffung der Grundlagen für eine globale Gesellschaft, die die Einheit der menschlichen Natur widerzuspiegeln vermag. Die Vereinigung der Bewohner der Erde ist weder eine weit entfernte utopische Vision, noch eine Angelegenheit, bei der wir überhaupt die Wahl haben. DieseVereinigung stellt die nächste unausweichliche Phase im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess dar, eine Phase, zu der alle Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart uns hindrängen. Erst wenn die Existenz dieser Tatsache erkannt und in Angriff genommen wird, können die unseren Planeten quälenden Probleme gelöst werden, denn alle wesentlichen Herausforderungen des Zeitalters, in das wir eingetreten sind, sind global und universell und nicht auf Einzelaspekte oder Regionen beschränkt.
Die vielen Textstellen in den Schriften Bahá’u’lláhs, in denen es um das Erreichen des Reifealters der Menschheit geht, sind durchdrungen von der von ihm verwandten Lichtmetaphorik, die die verwandelnde Kraft der Einheit ausdrückt: „So mächtig ist das Licht der Einheit, dass es die ganze Erde erleuchten kann.“3 Diese Aussage rückt die gegenwärtige Geschichte in eine Perspektive, die sich stark von der am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts vorherrschenden Sichtweise unterscheidet. Diese Feststellung drängt uns dazu, in all dem Leid und dem Zerfall unserer Zeit das Wirken von Kräften zu erkennen, die das menschliche Bewusstsein für eine neue Phase seiner Evolution frei machen. Sie ruft uns dazu auf, die Ereignisse der vergangenen hundert Jahre zu überdenken sowie die Wirkung, die diese Entwicklungen auf die sie erlebenden unterschiedlichen Völker, Rassen, Nationen und Gemeinschaften hatten.
Wenn, wie Bahá’u’lláh betont, „die Wohlfahrt der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit unerreichbar (sind), wenn und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist“4, dann ist verständlich, warum die Bahá’í das zwanzigste Jahrhundert — mit all seinen Katastrophen — als „das Jahrhundert des Lichts“5 betrachten. Denn diese hundert Jahre waren Zeuge eines Wandels sowohl der Art und Weise, wie die Erdbewohner unsere gemeinsame Zukunft zu planen begannen, als auch der Art und Weise, wie wir beginnen, uns gegenseitig zu betrachten. Das Kennzeichen beider Prozesse ist eine Entwicklung zur Vereinigung hin gewesen. Umwälzungen, die jenseits der Kontrolle existierender Institutionen lagen, haben die Führungskräfte der Welt dazu gezwungen, neue Systeme globaler Organisation zu initiieren, die zu Beginn des Jahrhunderts noch undenkbar gewesen wären. Während dies geschah, wurden Gewohnheiten und Einstellungen untergraben, die Menschen und Nationen während ungezählter konfliktbeladener Jahrhunderte getrennt hatten und deren Fortbestand man für selbstverständlich gehalten hatte.
Mitte des Jahrhunderts führten diese zwei Entwicklungen zu einem Durchbruch, dessen historische Bedeutung erst zukünftige Generationen voll und ganz verstehen und schätzen werden. Während der lähmenden Nachwehen des Zweiten Weltkrieges konnten weitschauende Persönlichkeiten endlich beginnen, durch die Organisation der Vereinten Nationen die Grundlagen einer Weltordnung zu schaffen und zu festigen. Das lange von fortschrittlichen Denkern ersehnte System internationaler Abkommen und damit verbundener Institutionen war nun mit entscheidenden Befugnissen ausgestattet, die dem gescheiterten Völkerbund tragischerweise verwehrt geblieben waren. Im Laufe des Jahrhunderts gewann das System im Bereich der Friedenssicherung immer größere Wirksamkeit auf eine Art und Weise, die überzeugend zeigte, was erreicht werden kann. Gleichzeitig entstanden in der ganzen Welt immer mehr demokratische Regierungsformen. Die praktischen Auswirkungen mögen noch enttäuschen, aber dies vermindert nicht die Tragweite des historischen und unumkehrbaren Richtungswechsels, der in der Organisation menschlicher Angelegenheiten stattgefunden hat.
Wie im Falle der Weltordnung steht es auch mit den Rechten der Völker der Welt. Die Enthüllung der schrecklichen Leiden, die die Opfer menschlicher Perversion im Laufe des Krieges heimsuchten, löste eine weltweite Schockreaktion aus — und etwas, das man nur als tiefste Schamgefühle bezeichnen kann Aus diesem Trauma heraus entstand eine neue Art des moralischen Verantwortungsbewusstseins, das offiziell in der Arbeit der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen institutionalisiert wurde — eine Entwicklung, die den von Bahá’u’lláh im neunzehnten Jahrhundert diesbezüglich angeschriebenen Herrschern unvorstellbar erschienen wäre. So mit Macht ausgestattet, haben sich eine wachsende Anzahl nichtstaatlicher Organisationen das Ziel gesetzt, dafür Sorge zu tragen, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als die Grundlage normativer internationaler Standards gilt und dementsprechend durchgesetzt wird.
Eine parallel dazu verlaufende Entwicklung fand im Wirtschaftsleben statt. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts verabschiedeten viele Regierungen als Folge des durch die wirtschaftliche Krise verursachten Chaos Gesetze zur Schaffung von Sozialhilfeprogrammen und Systemen zur Finanzkontrolle, sowie Reservefonds und Handelsabkommen mit dem Ziel, ihre Gesellschaft vor der Wiederholung solcher Verwüstung zu bewahren. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu der Einrichtung von Institutionen, die weltweit arbeiten: des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, des Allgemeinen Zoll– und Handelsabkommens und eines Netzwerkes von Entwicklungsorganisationen, die sich der Förderung und der Weiterentwicklung des materiellen Wohlstands auf dem Planeten widmen. Am Ende des Jahrhunderts hat die Menschheit gezeigt bekommen, dass, egal wie die Absichten und wie primitiv die Methoden sind, die Nutzung des Reichtums der Erde grundlegend umorganisiert werden kann, um einer ganz neuen Vorstellung von Bedürfnissen gerecht zu werden.
Die Auswirkungen dieser Entwicklungen wurden enorm verstärkt durch den zunehmend schnelleren Ausbau von Bildungsmöglichkeiten für die Massen. Neben der Bereitschaft nationaler Regierungen und örtlicher Gemeindeverwaltungen, diesem Bereich sehr viel mehr Mittel zuzuteilen, und der Fähigkeit der Gesellschaft, Armeen an professionellen Lehrern auszubilden, waren zwei weitere Fortschritte im 20. Jahrhundert auf der internationalen Ebene besonders einflussreich. Der erste war eine Serie von Entwicklungsplänen, die sich auf Bildungsbedürfnisse konzentrierten und massiv von Einrichtungen wie der Weltbank, von Regierungsbehörden, großen Stiftungen und verschiedenen Zweigen des UN–Systems finanziert wurden. Der zweite war die explosionsartige Entwicklung der Informationstechnologie, die aus allen Erdenbürgern potentielle Nutznießer des gesamten Wissens der Menschheit gemacht hat.
Diese strukturelle Neuorganisierung auf globaler Ebene wurde von einem tief greifenden Bewusstseinswandel belebt und verstärkt. Ganze Bevölkerungen sahen sich plötzlich mit dem Preis eingefahrener Denkgewohnheiten, die zu Konflikten führen, konfrontiert, und zwar im grellen Licht der weltweiten Verurteilung einst akzeptierter Praktiken und Einstellungen. Dies regte revolutionäre Veränderungen in der Art und Weise, wie Menschen einander sehen, an.
Zum Beispiel schien im Laufe der Menschheitsgeschichte die Erfahrung zu zeigen — und religiöse Lehren schienen dies zu bestätigen — dass Frauen vom Wesen her Männern unterlegen wären. Wenn man die gesamte Geschichte als Zeitrahmen nimmt, begann geradezu über Nacht der plötzliche und allgegenwärtige Rückzug dieser vorherrschenden Sichtweise. Wie lange und leidvoll der Prozess auch sein mag, bis Bahá’u’lláhs Erklärung, dass Frauen und Männer in jeglicher Hinsicht gleichwertig sind, voll verwirklicht wird — die intellektuelle und emotionelle Unterstützung für dieser Erklärung entgegengesetzte Auffassungen verringert sich ständig.
Ein weiterer Fixpunkt im Selbstverständnis der Menschheit während dieses Jahrtausends war die Verherrlichung ethnischer Unterschiede, die sich in den letzten Jahrhunderten zu verschiedenen Formen rassistischer Wahnvorstellungen verhärtete. Mit einer Geschwindigkeit, die im Gesamtzusammenhang der Menschheitsgeschichte verblüfft, erlebte das zwanzigste Jahrhundert, wie sich die Einheit der Menschheit zu einem führenden Prinzip in internationalen Beziehungen etablierte. Heute werden die ethnischen Streitigkeiten, die auch weiterhin in vielen Teilen der Welt verheerende Folgen haben, nicht als natürliche Erscheinungen in den Beziehungen zwischen unterschiedlichen Völkern betrachtet, sondern als willkürlich herbeigeführte Verirrungen, die unter wirkungsvolle internationale Kontrolle gebracht werden müssen.
Während der gesamten langen Kindheit der Menschheit nahm man auch an — erneut mit der vollen Unterstützung religiöser Institutionen — dass Armut ein ewig andauerndes und unausweichliches Merkmal der Gesellschaftsordnung sei. Heute wird jedoch diese Einstellung, die die Prioritäten aller in der Welt je bekannten Wirtschaftssysteme geprägt hatte, allgemein abgelehnt. Zumindest in der Theorie wird allerorts eine Regierung im Wesentlichen als ein Treuhänder verstanden, dessen Verantwortung es ist, das Wohlergehen aller Mitglieder der Gesellschaft zu sichern.
Besonders bedeutend war, aufgrund seiner engen Verbindung zu den Wurzeln menschlicher Beweggründe, die Lockerung des festen Griffs religiöser Vorurteile. Bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts erweckte das „Parlament der Religionen“ großes Interesse. Und diese Entwicklung des interreligiösen Dialogs und der Zusammenarbeit verstärkte die Auswirkungen des Säkularismus, indem sie die einst uneinnehmbaren Mauern der Autorität Geistlicher untergrub. In Anbetracht der Wandlung religiöser Vorstellungen während der vergangenen hundert Jahre wird man vielleicht im Nachhinein sogar die derzeitigen Ausbrüche fundamentalistischer Reaktionen als lediglich verzweifelte Aktionen einer Nachhut verstehen, die sich gegen die unvermeidliche Auflösung der durch sektiererische Gruppen ausgeübten Kontrolle aufbäumt. Wie Bahá’u’lláh schreibt: „Ohne Zweifel verdanken die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören, ihre Erleuchtung derselben himmlischen Quelle und sind einem einzigen Gott untertan.“6
Während dieser entscheidenden Jahrzehnte erlebte der menschliche Geist auch grundlegende Veränderungen in seinem Verständnis des materiellen Universums. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts entstanden neue Theorien über Relativität und Quantenmechanik, die beide eng mit der Natur und Funktionsweise des Lichtes verbunden sind. Diese Theorien revolutionierten die Physik und veränderten die gesamte Wissenschaftsentwicklung.
Es wurde offensichtlich, dass die klassische Physik nur einen begrenzten Bereich von Naturphänomenen erklären konnte. Plötzlich hatte sich eine neue Tür in der Untersuchung sowohl der kleinsten Bestandteile des Universums als auch der großen Systeme des Kosmos geöffnet, eine Veränderung, die weit über die Physik hinaus Wirkungen zeigte und die Grundlagen eines jahrhundertelang gültigen Denkens der Wissenschaften erschütterte. Für immer verloren waren die Idee eines mechanischen Universums, das einem Uhrwerk ähnelt, sowie die damals angenommene Trennung von Beobachter und Beobachtetem, von Geist und Materie. Vor dem Hintergrund der dadurch ermöglichten weitreichenden Forschungsarbeiten beginnt die theoretische Naturwissenschaft heute damit, die Möglichkeit zu erwägen, dass tatsächlich der Natur und der Funktionsweise des Universums Zweck und Verstand innewohnen.
Im Sog dieser konzeptionellen Veränderungen trat die Menschheit dann in ein Zeitalter ein, in dem die Zusammenarbeit der Naturwissenschaften — der Physik, Chemie, Biologie sowie der noch jungen Ökologie — atemberaubende Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensbedingungen eröffnete. Die positiven Auswirkungen wurden auf dramatische Weise deutlich in so lebenswichtigen Problembereichen wie Landwirtschaft und Medizin sowie in Bereichen, die aus den Erfolgen in der Nutzung neuer Energiequellen entstanden. Gleichzeitig begann das neue Forschungsgebiet der Werkstoffkunde eine Vielzahl spezialisierter Materialien wie Kunststoffe, Glasfasern und Kohlenstofffasern zur Verfügung zu stellen, die man zu Beginn des Jahrhunderts noch nicht gekannt hatte.
Solche Fortschritte in Wissenschaft und Technologie befruchteten sich gegenseitig. Sandkörner, das niedrigste und anscheinend wertloseste aller Materialien, verwandelten sich in Silikonplättchen und optisch reines Glas und ermöglichten so die Schaffung weltweiter Kommunikationsnetze. Diese Tatsache sowie der Einsatz von immer komplizierteren Satellitensystemen beginnen für Menschen allerorts und ohne Unterschied Zugang zum gesamten Wissen der ganzen Menschheit zu eröffnen. Es ist offensichtlich, dass die vor uns liegenden Jahrzehnte die Verbindung von Telefon–, Fernseh– und Computertechnologie zu einem einzigen, vereinheitlichten System erleben werden, dessen preisgünstige Geräte in großen Mengen erhältlich sein werden. Es wäre schwierig, die psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu übertreiben, die entstehen, wenn das Durcheinander an Währungssystemen — die für manche die letzte Bastion nationalistischen Stolzes darstellen — durch eine einzige Weltwährung, die größtenteils elektronisch funktioniert, ersetzt werden wird.
In der Tat sind die Einheit schaffenden Auswirkungen der Umwälzungen des zwanzigsten Jahrhunderts nirgends so einfach ersichtlich wie in den Folgen der Veränderungen in der Naturwissenschaft und in der Technologie. Am offensichtlichsten ist, dass die Menschheit nun mit den Mitteln ausgestattet ist, die zur Verwirklichung der visionären Ziele nötig sind, welche ein ständig reifer werdendes Bewusstsein sich gesetzt hat. Bei tieferer Betrachtung zeigt sich, dass diese vielfältigen Möglichkeiten potentiell allen Erdenbewohnern ungeachtet der Rasse, der Kultur oder der Nation zur Verfügung stehen. Bahá’u’lláh sah voraus: „Neues Leben durchpulst in dieser Zeit alle Völker der Erde, und doch hat keiner seine Ursache entdeckt und seinen Grund erkannt.“7 Heute, mehr als hundert Jahre nach der Niederschrift dieser Worte, wird nachdenkenden Gemütern die Tragweite des seitdem Geschehenen langsam deutlich.
3. Die Wandlungen, die durch die jetzt endende Zeitperiode bewirkt wurden, zu würdigen, bedeutet nicht, die sie begleitenden Schatten zu verleugnen, die den Errungenschaften scharfe Konturen verleihen: die zielgerichtete Vernichtung von Millionen hilfloser Menschen; die Erfindung und der Gebrauch neuer Zerstörungswaffen, die ganze Bevölkerungen auszulöschen vermögen; die Entstehung von Ideologien, die das geistige und intellektuelle Leben ganzer Nationen erstickten; Umweltzerstörung auf globaler Ebene in einem so großen Ausmaß, dass es Jahrhunderte dauern kann, diese rückgängig zu machen; und der unermesslich größere Schaden, der Generationen von Kindern angetan wurde, indem man sie lehrte, dass Gewalt, Unanständigkeit und Selbstsucht Triumphe persönlicher Freiheit seien. Dies sind nur die offensichtlichsten Beispiele aus einem Katalog von Übeln, die in der Geschichte ihresgleichen suchen und deren Lektionen unser Zeitalter zur Erziehung der gepeinigten zukünftigen Generationen als Erbe hinterlassen wird.
Die Dunkelheit ist jedoch kein Phänomen, dem irgendeine Form der Existenz, geschweige denn der Autonomie innewohnt. Sie löscht das Licht nicht aus, noch verringert sie das Licht, aber sie markiert diejenigen Regionen, die das Licht noch nicht erreicht oder angemessen erleuchtet hat. So werden zweifelsohne die Historiker eines reiferen und objektiveren Zeitalters die Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts beurteilen. Die Grausamkeit der tierischen Natur, die unkontrolliert in jenen kritischen Jahren wütete und manchmal das nackte Überleben der Gesellschaft zu bedrohen schien, konnte tatsächlich nicht die fortlaufende Entfaltung der schöpferischen Potentiale, mit denen das menschliche Bewusstsein ausgestattet ist, verhindern. Im Gegenteil — je mehr das Jahrhundert voranschritt, desto mehr Menschen erkannten, wie leer die Treueschwüre und wie gegenstandslos die Ängste waren, von denen sie nur wenige Jahre zuvor gefangengehalten worden waren.
„Unvergleichlich ist dieser Tag“, betont Bahá’u’lláh, „denn er ist wie das Auge für vergangene Zeitalter und Jahrhunderte und wie ein Licht in der Finsternis der Zeiten.“8 Aus dieser Perspektive ist nicht die Dunkelheit, die die Fortschritte der nun endenden außergewöhnlichen hundert Jahre verlangsamt und überschattet hat, das Problem. Die Frage ist vielmehr, wieviel Leid und Zerstörung die Menschheit noch ertragen muss, bis sie von ganzem Herzen die geistige Natur annimmt, die sie zu einem einzigen Volk macht, und bis sie genug Mut hat, ihre Zukunft im Lichte des so schmerzlich Erlernten zu planen.
4. Die in den Schriften Bahá’u’lláhs dargelegte Vorstellung von der künftigen Entwicklung der menschlichen Kultur stellt vieles, was sich in unserer heutigen Welt als normativ und unveränderlich darstellt, in Frage. Die während des Jahrhunderts des Lichts erzielten Durchbrüche haben einer neuen Art von Welt Tür und Tor geöffnet. Wenn die gesellschaftliche und intellektuelle Entwicklung tatsächlich eine Reaktion auf eine allem Existierenden innewohnende moralische Intelligenz ist, dann beinhalten viele der Theorien, die zeitgenössische Entscheidungsmethoden bestimmen, schwerwiegende Fehler. Wenn das menschliche Bewusstsein von seinem Wesen her geistig ist — eine Tatsache, der sich die große Mehrheit der Menschen intuitiv immer bewusst gewesen ist —, dann kann ein Wirklichkeitsverständnis, das dogmatisch auf dem Gegenteil beharrt, die Entwicklungsbedürfnisse dieses Bewusstseins weder begreifen noch ihnen dienlich sein.
Kein Teilbereich der heutigen Zivilisation wird von Bahá’u’lláhs Zukunftsvorstellung auf direktere Weise in Frage gestellt als der vorherrschende Kult des Individualismus, der sich in beinahe der ganzen Welt verbreitet hat. Von kulturellen Einflüssen wie politischer Ideologie, akademischem Elitedenken und einer konsumorientierten Wirtschaft genährt, hat das „Streben nach individuellem Glück“ ein aggressives und beinahe grenzenloses Bewusstsein für die Ansprüche des Einzelnen gefördert. Die moralischen Folgen sind zersetzend für das Individuum wie die Gesellschaft und verheerend, was die Verbreitung ansteckender Krankheiten, den Drogenmissbrauch und andere allzu vertraute Übel unseres ausgehenden Jahrhunderts angeht. Die Aufgabe, die Menschheit von einem so grundlegenden und alles durchdringenden Missverständnis zu befreien, wird einige der eingefahrensten Vorstellungen des zwanzigsten Jahrhunderts von Recht und Unrecht in Frage stellen.
Welche Denkweisen fallen in diese Kategorie der ungeprüften Ideen? Das offensichtlichste Beispiel ist die Überzeugung, dass Einheit ein entferntes, beinahe unerreichbares Ideal ist, das erst dann in Angriff genommen werden kann, wenn eine große Anzahl politischer Konflikte irgendwie gelöst, materielle Bedürfnisse irgendwie befriedigt und Ungerechtigkeiten irgendwie ausgemerzt worden sind. Bahá’u’lláh betont, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Hauptkrankheit, die die Gesellschaft peinigt und die Leiden hervorbringt, die die Gesellschaft lähmen, sagt er, ist die Zwietracht innerhalb der Menschheit, die sich durch ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit auszeichnet und deren Fortschritt bis heute von dem Ausmaß an gemeinsamem Handeln abhing, das zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Gesellschaften erreicht wurde. Sich an die Vorstellung zu klammern, dass Konfliktbereitschaft eine Grundeigenschaft der menschlichen Natur sei, statt eine Mischung aus erlernten Gewohnheiten und Einstellungen, bedeutet, einem neuen Jahrhundert einen Irrtum aufzuladen, der mehr als jeder andere Faktor auf tragische Weise die Vergangenheit der Menschheit beeinträchtigt hat. „Betrachtet die Welt“, riet Bahá’u’lláh gewählten Regierenden, „wie einen menschlichen Körper: Obwohl er bei seiner Erschaffung gesund und vollkommen war, ist er aus verschiedenen Ursachen von schweren Störungen und Krankheiten befallen worden.“9
Eng verknüpft mit der Problematik der Einheit ist die zweite moralische Herausforderung, die das vergangene Jahrhundert mit zunehmend größerer Dringlichkeit gestellt hat. In Gottes Augen ist, wie Bahá’u’lláh betont, die Gerechtigkeit „von allem das Meistgeliebte“.10 Sie befähigt den Einzelnen, die Realität mit seinen eigenen Augen und nicht durch die Augen anderer wahrzunehmen, und stattet kollektive Entscheidungsfindung mit einer Autorität aus, die allein die Einheit im Denken und Handeln sicherstellen kann. Egal wie zufriedenstellend das aus den schrecklichen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts entstandene System internationaler Ordnung sein mag — sein anhaltender Einfluss wird von der allgemeinen Annahme der ihm innewohnenden moralischen Prinzipien abhängen.
Wenn die gesamte Menschheit „wahrhaftig eins und unteilbar“ ist, dann entspricht die von ihren Führungseinrichtungen ausgeübte Amtsgewalt im Wesentlichen der einer Treuhänderschaft. Jede einzelne Person kommt als der Gemeinschaft anvertrautes Gut zur Welt; und dieses Merkmal menschlichen Daseins ist die wahre Grundlage gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Rechte, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen und den damit verbundenen Dokumenten Ausdruck finden. Gerechtigkeit und Einheit stehen in einer Wechselbeziehung. „Der Zweck der Gerechtigkeit“, schrieb Bahá’u’lláh, „ist das Zustandekommen von Einheit unter den Menschen. Das Meer göttlicher Weisheit wogt in diesem erhabenen Wort und alle Bücher der Welt können seine innere Bedeutung nicht fassen.“11
Während sich die Gesellschaft, egal wie zögerlich und ängstlich, diesen und ähnlichen moralischen Prinzipien verpflichtet, wird sie dem Einzelnen als bedeutungsvollste Rolle die des Dienstes bieten. Eines der Paradoxe menschlichen Lebens ist, dass sich das Selbst hauptsächlich durch die Hingabe an größere Ziele entwickelt, wobei sich das Selbst — wenn auch nur zeitweilig — vergisst. In einem Zeitalter, das den Menschen in allen Lebenslagen die Möglichkeit eröffnet, auf wirksame Art und Weise an der Gestaltung der Gesellschaftsordnung teilzuhaben, erhält das Ideal des Dienstes an anderen eine ganz neue Bedeutung. Wenn man Ziele wie persönliche Bereicherung und Selbstbestätigung zum Lebensziel erklärt, dann fördert man nur die tierische Seite der menschlichen Natur. Genauso wenig können simple Botschaften individueller Erlösung die Sehnsüchte derjenigen Generationen erfüllen, die mit tiefer Gewissheit gelernt haben, dass wahre Erfüllung eine Angelegenheit sowohl dieser als auch der nächsten Welt ist.
„Befasst euch gründlich mit den Nöten der Zeit, in der ihr lebt“, rät Bahá’u’lláh, „und legt den Schwerpunkt eurer Überlegungen auf ihre Bedürfnisse und Forderungen.“12
Solche Gesichtspunkte haben tiefgreifende Auswirkungen auf den Umgang mit den Angelegenheiten der Menschheit. Zum Beispiel ist es offensichtlich, dass, je länger der Nationalstaat die wichtigste Rolle in der Entwicklung des Schicksals der Menschheit spielt, trotz seiner in der Vergangenheit erbrachten Leistungen — die Erreichung des Weltfriedens verzögert und die Leiden der Erdbevölkerung vergrößert werden. Im Wirtschaftsleben der Menschheit ist augenscheinlich, dass die Globalisierung trotz ihrer Segnungen auch noch nie dagewesene Konzentrationen autokratischer Macht geschaffen hat, die unter internationale demokratische Kontrolle gebracht werden muss, damit sie nicht für ungezählte Millionen von Menschen Armut und Verzweiflung erzeugt. Ähnlich ist es mit dem historischen Durchbruch in der Informations– und Kommunikationstechnologie, die ein so machtvolles Mittel zur Förderung sozialer Entwicklung und zur Vertiefung des Gefühls des gemeinsamen Menschseins ist; diese Technologie ist jedoch mit derselben Stoßkraft dazu in der Lage, die dem Vereinigungsprozess förderlichen und für ihn nötigen, lebenswichtigen Impulse umzulenken und zu entstellen.
5. Bahá’u’lláh spricht von einer neuen Beziehung zwischen Gott und der Menschheit, einer Beziehung, die mit der heranbrechenden Reife der Menschheit in Einklang steht. Die höchste Wirklichkeit, die das Universum geschaffen hat und es am Leben hält, wird immer außerhalb der Reichweite des menschlichen Geistes und Verstandes bleiben. Die bewusste Beziehung, die die Menschheit mit dieser göttlichen Realität geknüpft hat, ist das Ergebnis des Einflusses der großen Religionsstifter gewesen: Moses, Zarathustra, Buddha, Jesus, Muhammad und früherer Stifter, deren Namen größtenteils der Vergessenheit anheim gefallen sind. Indem sie auf diese göttlichen Impulse reagierten, haben die Völker der Erde zunehmend die geistigen, intellektuellen und moralischen Fähigkeiten entwickelt, die gemeinsam den menschlichen Charakter zivilisiert haben. Diese aufeinander aufbauende, jahrtausendelange Entwicklung hat nun eine Phase erreicht, die typisch ist für alle entscheidenden Wendepunkte einer Evolution, eine Phase, in der vorher unerkannte Möglichkeiten sich plötzlich auftun: „Dies ist der Tag“, bekräftigt Bahá’u’lláh, „da Gottes erhabenste Segnungen den Menschen zugeströmt sind, der Tag, da alles Erschaffene mit Seiner mächtigsten Gnade erfüllt wurde.“13
Aus Bahá’u’lláhs Perspektive gesehen hat die Geschichte der Stämme, Völker und Nationen tatsächlich ihren Abschluss gefunden. Was wir heute miterleben, ist der Anfang der menschenwürdigen Geschichte der Menschheit, der Geschichte einer Menschheit, die sich ihrer eigenen Einheit bewusst ist. An diesem Wendepunkt in der Entwicklung menschlicher Kultur bieten Bahá’u’lláhs Schriften eine Neubestimmung des Wesens und der Entwicklungsprozesse der Zivilisation und eine Neuordnung ihrer Prioritäten. Ihr Ziel ist es, uns zu geistiger Bewusstheit und Verantwortung zurückzurufen.
Man wird in den Schriften Bahá’u’lláhs nichts finden, das zu der Illusion ermutigt, dass die prophezeiten Veränderungen auf einfache Art und Weise realisiert werden. Ganz im Gegenteil. Wie die Ereignisse im zwanzigsten Jahrhundert schon zeigten, werden Gewohnheits– und Einstellungsmuster, die seit Tausenden von Jahren fest verwurzelt sind, weder spontan noch als einfache Reaktion auf Bildung oder Gesetzgebungen abgelegt. Sowohl im Leben des Einzelnen als auch der Gesellschaft passieren tiefgreifende Veränderungen meistens als Antwort auf intensives Leiden und unerträgliche Schwierigkeiten, die anderweitig nicht zu überwinden wären. Genau eine solche große Prüfung, warnte Bahá’u’lláh, ist notwendig, um die verschiedenen Völker der Erde zu einem einzigen Volk zusammenzuschmieden.
Geistige und materialistische Vorstellungen vom Wesen der Realität sind miteinander unvereinbar und führen in entgegengesetzte Richtungen. Während das neue Jahrhundert seinen Anfang nimmt, hat die von der materialistischen Vorstellung gesetzte Zielrichtung eine unglückliche Menschheit bereits weit über den Punkt hinausgebracht, an dem die Illusion der Rationalität und erst recht die des menschlichen Wohlergehens aufrechterhalten werden konnte. Mit jedem Tag, der verstreicht, mehren sich die Zeichen dafür, dass sich viele Menschen allerorts dieser Erkenntnis bewusst werden.
Trotz der weithin vorherrschenden Gegenmeinung ist die Menschheit keine leere Schrifttafel, auf der privilegierte Schiedsrichter menschlicher Angelegenheiten freizügig ihre eigenen Wünsche eintragen können. Die Quellen des Geistes sprudeln wie und wo sie wollen. Sie werden nicht auf unbestimmte Zeit durch das Geröll der zeitgenössischen Gesellschaft unterdrückt werden. Es bedarf keiner prophetischen Fähigkeiten mehr um zu erkennen, dass die Anfangsjahre des neuen Jahrhunderts Zeuge eines Freiwerdens von Energien und Zielsetzungen sein werden, die unermesslich stärker sein werden als die gesammelten Gewohnheiten, trügerischen Irrtümer und Abhängigkeiten, die so lange die Umsetzung jener Energien verhinderten.
Wie groß der Aufruhr auch sein wird — die Zeitperiode, auf die sich die Menschheit derzeit zubewegt, wird jedem Individuum, jeder Institution und jeder Gemeinschaft dieser Erde bisher nicht dagewesene Möglichkeiten eröffnen, die Zukunft des Planeten mitzugestalten. „Bald“, so verspricht Bahá’u’lláh voller Zuversicht, „wird die heutige Ordnung aufgerollt und eine neue an ihrer Statt entfaltet werden.“14
Quellenangaben
1 Äußerungen der Abgeordneten Luis Gushiken und Rita Gamata, Brasilia, 28. Mai 1992
2 Bahá’u’lláh, Botschaften ans ‘Akká, Bahá’í–Verlag 1982, 6:32
3 Bahá’u’lláh, Brief an den Sohn des Wolfes, Bahá’í–Verlag 1988, S. 29
4 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 131:2
5 ‘Abdu’l–Bahá, The Promulgation of Universal Peace, 6 Wilmette: Bahá’í Publishing Trust, 1982, S. 74 und 126
6 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 111:1
7 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 96:2
8 Bahá’u’lláh, zitiert in: Shoghi Effendi, Das Kommen Göttlicher Gerechtigkeit, Bahá’í–Verlag 1969, S. 124
9 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 120:1
10 Bahá’u’lláh, Verborgene Worte, arab. 2, Bahá’í–Verlag 1997
11 Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‘Akká, Bahá’í–Verlag 1982, 6:26
12 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 106:1
13 Bahá’u’lláh. Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 4:1
14 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 4:2
Botschaft des amerikanischen NGR an einen lokalen Geistigen Rat im Januar 2017
DER NATIONALE GEISTIGE RAT
DER BAHÁ'Í DER VEREINIGTEN STAATEN
BÜRO FÜR ÖFFENTLICHKEITSARBEIT
13. Januar 2017
[an einen örtlichen Geistigen Rat]
Liebe Bahá'í-Freunde,
Vielen Dank für Ihre Nachricht vom 12. Januar im Auftrag des Geistigen Rates der Bahá'í von ...
bezüglich des Wunsches einiger Mitglieder Ihrer Gemeinde, an dem kommenden Frauenmarsch in Washington D.C. am 21. Januar, dem Tag nach der Amtseinführung des Präsidenten, teilzunehmen. Wie Sie vielleicht wissen, hat der Nationale Geistige Rat, obwohl der Protest nicht unsere bevorzugte Reaktion auf kontrovers diskutierte Fragen ist, darauf hingewiesen, dass die Gläubigen an angemeldeten Demonstrationen und anderen öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen können, die mit ihren Ansichten übereinstimmen, vorausgesetzt, dass sie dies als Einzelpersonen tun und nicht als Vertreter des Glaubens. Darüber hinaus sollten sie sich des Unterschieds zwischen der Unterstützung einer Sache, die sie für gerecht halten, und der Unterstützung parteiischer Positionen, im Klaren sein.
Im vorliegenden Fall sind die Umstände extrem ungewöhnlich, womöglich beispiellos. Auf der einen Seite ist der offizielle Zweck des Marsches, wie er auf dessen Webseite beschrieben wird, „an ihrem ersten Tag im Amt ein kraftvolles Signal an unsere neue Regierung und an die Welt zu senden, dass Frauenrechte Menschenrechte sind.“ Später werden auf derselben Seite fünf leitende Prinzipien der Organisatoren aufgeführt. Sie rufen zu Gewaltlosigkeit auf, setzen sich für eine versöhnte Welt ein, in der die Gerechtigkeit die Oberhand behält, bekennen sich dazu, negative Entwicklungen statt negativer Handlungen einzelner Personen anzuprangern, Leid ohne Rachegedanken zu ertragen und auf seelische Gewalt zu verzichten. Dies alles sind Prinzipien, denen wir als Bahá'í unumwunden zustimmen können. Auf der anderen Seite findet sich aber auch folgende Aussage in der ersten Zeile des Aufrufs zu diesem Marsch: „Die Rhetorik des vergangenen Wahlkampfs hat viele von uns beleidigt, verteufelt oder bedroht – Einwanderer aller Kategorien, Muslime und Menschen anderer Religionszugehörigkeit, Menschen, die sich als LSBTTIA verstehen, Indianer, Schwarze, Behinderte, Vergewaltigungsopfer – und unsere Gemeinschaften sind verletzt und verängstigt.“ Obwohl die Organisatoren es vermieden haben, den neugewählten Präsidenten namentlich zu erwähnen, fällt es schwer, sich vorzustellen, wie der Hinweis auf die „ Rhetorik des vergangenen Wahlkampfs“ nicht auf die Aussagen des neugewählten Präsidenten beziehen könnte. In der Tat ist es so, dass einige der Teilnehmer, obwohl die Organisatoren nicht direkt dazu aufrufen, den Marsch mehr als Protest gegen die Amtseinführung von Donald Trump verstehen denn als Marsch für Frauenrechte, besonders wenn man bedenkt, dass er am Tag nach der Amtseinführung stattfindet.
Daher ist es klar, dass verschiedene Teilnehmer und Gruppen den Marsch und ihre Beteiligung daran auf unterschiedliche Weise verstehen werden. Jeder Bahá'í, der am Marsch teilnimmt, sollte dies im Blick behalten, umso mehr, bedenkt man die folgende Aussage Shoghi Effendis: „Der Hüter wünscht, dass ich die Freunde durch Sie darauf aufmerksam mache, dass sie vorsichtig sein sollten, in ihren öffentlichen Äußerungen keinerlei politische Persönlichkeiten zu erwähnen und sich weder auf ihre Seite zu stellen noch sie zu verurteilen. Anderenfalls werden sie die Freunde in politische Debatten hineinziehen, was enorm gefährlich für die Sache wäre.“ (Aus einem Brief im Auftrag des Hüters an den Nationalen Geistigen Rat der Bahá'í in den Vereinigten Staaten und Kanada, 12. Januar 1933)
Daher sollte sich jeder Bahá'í, der plant, an dem Marsch teilzunehmen, über sein Motiv im Klaren sein. Wenn das Motiv wäre, gegen die Amtseinführung von Herrn Trump zu protestieren, sollte er der Veranstaltung lieber fernbleiben. Wenn das Motiv wäre, die Rechte der Frauen zu stärken, wäre die Teilnahme gestattet, vorausgesetzt, dass bestimmte Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden. Wie angesprochen werden verschiedene Redner und Gruppen den Marsch vermutlich auf sehr unterschiedliche Weise verstehen. Sollte sich herausstellen, dass der Marsch von einer Unterstützung der Rechte der Frauen in eine Verurteilung von Herrn Trump abgleiten würde, wäre ein Bahá'í offensichtlich gehalten, seine Teilnahme zu beenden. Es ist wichtig, bei dieser Beurteilung aufmerksam und aufrichtig zu sein.
Ein weiterer Hinweis: Bahá'í sollten in solchen Kontexten sehr vorsichtig mit Interviews durch die Medien sein, da der Hinweis, dass man Bahá'í ist, zu dem irrtümlichen Schluss führen könnte, man sei ein offizieller Vertreter des Glaubens. Außerdem könnten die Aussagen, die ein Einzelner tätigt, ungerechtfertigterweise verallgemeinert oder der Bahá'í-Gemeinde als Ganzer zugeschrieben werden. Auch wenn dies nicht die Absicht sein mag, ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Bahá'í-Gemeinde zu diesem Zeitpunkt noch eine verhältnismäßig kleine Minderheit bildet, die oft falsch verstanden wird. Daher müssen wir darauf achten, keine Missverständnisse oder falschen Eindrücke zu verursachen. ...
Vielen Dank, dass Sie das Büro für Öffentlichkeitsarbeit kontaktiert haben. Bitte lassen Sie uns
wisse, ob wir Ihnen darüber hinaus in irgendeiner Weise behilflich sein können.
Mit liebevollen Bahá'í-Grüßen,
Der Beauftragte für Öffentlichkeitsarbeit
Büro für Öffentlichkeitsarbeit
Nationaler Geistiger Rat der Bahá'í der Vereinigten Staaten
* Eigene, vorläufige Übersetzung aus dem Englischen
Leitgedanken für die Arbeitsweise im Geistigen Rat
Wir müssen mit anderen Geduld haben, unendliche Geduld, aber auch mit unserem eigenen armseligen Ich und daran denken, dass sogar die Propheten Gottes manchmal müde wurden und vor Verzweiflung aufschrien!...
Er bittet Sie eindringlich weiterzuarbeiten und auf das Erreichte zu sehen, anstatt bei der dunklen Seite der Dinge zu verweilen. Jedes Menschenleben hat sowohl eine dunkle als auch eine helle Seite. Der Meister sagte:“ Wende deinen Rücken der Dunkelheit und dein Angesicht Mir zu.“
Aus einem Brief im Auftrag von Shoghi Effendi
Diesen Geistigen Räten...steht der Geist Gottes bei. Ihr Schirmherr ist Abdu´l-Bahá. Er breitet Seine Flügel über sie. Was gibt es für eine größere Gnade als diese?...
Die Geistigen Räte sind leuchtende Lampen und himmlische Gärten, aus denen die Düfte der Heiligkeit über alle Lande wehen, und die Strahlen der Erkenntnis sich über alle erschaffenen Dinge ergießen. Von ihnen geht nach allen Seiten der Odem des Lebens aus.
Sie sind wahrlich zu allen Zeiten und unter allen Umständen die starken Quellen für den menschlichen Fortschritt.
Zitat aus „Gott geht vorüber“ Abdu´l-Bahá
Bin ich bewaffnet mit der Macht Deines Namens, so kann nichts mich verwunden,
und mit Deiner Liebe im Herzen können Trübsale dieser Welt mich nicht schrecken.
Aus Bahá ú´lláh „Gebete und Meditationen“
Die nachstehenden Texte und Zitate sind dem Leitfaden „Der Geistige Rat, Bedeutung, Stufe und Aufgaben“ entnommen.
Die Qualität eines Geistigen Rates lässt sich daran messen, inwieweit diese Institution die Fähigkeit zum Dienen in jedem einzelnen Gläubigen erhöht und mutiges Handeln fördert. Das Ziel eines jeden Geistigen Rates muss es sein, ein lebendig pulsierendes Gemeindeleben zu schaffen.Vielfalt und Toleranz, Liebe und gegenseitige Unterstützung, sowie individuelle Initiative sind dabei wichtige Merkmale.Eine solche ist auf Wachstum ausgerichtet, und es besteht eine enge, ja innige Beziehung zwischen Geistigem Rat, der Gemeinde und dem Einzelnen.
Geistige Räte sind „Kanäle der göttlichen Führung, Planer der Lehrarbeit, Entwickler der menschlichen Fähigkeiten, Erbauer von Gemeinden, liebevolle Hirten der Menschen.
...von Männern und Frauen gleichermaßen, direkt gewählt und besitzen eine Amtsgewalt, die sie zu Handlungen und Entscheidungen befugt,ohne sich vor ihren Wählern verantworten zu müssen.Sie sind feierlich verpflichtet, unter allen Umständen den Geboten der „Größten Gerechtigkeit“ zu folgen,die allein den Weg zum Reich des „Größten Friedens“ weisen können,den Bahá ú´lláh verkündet hat und letztendlich errichten muss. Sie haben die Pflicht, jederzeit das Wohl der ihnen unterstellten Gemeinden zu fördern, sie mit ihren Plänen und Arbeiten vertraut zu machen und sie aufzufordern, in jedem von diesen Gemeinden gewünschten Umfang Anregungen vorzubringen...
Die Verwalter des Gottesglaubens müssen wie Hirten sein. Ihr Ziel sollte es sein, alle Zweifel, Missverständnisse und schädliche Differenzen zu zerstreuen, die in der Gemeinschaft der Gläubigen aufkommen mögen. Dies können sie im rechten Umfang erreichen, sofern sie erfüllt sind von einem wahren Sinn der Liebe zu ihren Brüdern, verbunden mit dem festen Entschluss, in allen Fällen, die ihnen unterbreitet werden, mit Gerechtigkeit zu handeln.
Wer immer seine Augen auf das Ziel richtet, das Wohlgefallen Gottes zu erlangen, wird mit Freude und strahlender Zustimmung jede Arbeit oder Stufe annehmen, die ihm in der Sache Gottes zugeteilt wird und Ihm mit Freuden unter allen Umständen dienen.
Nur wenn die einzelnen Mitglieder des Örtlichen Geistigen Rates sich selbst in den grundlegenden Wahrheiten des Glaubens und in der richtigen Anwendung der Prinzipien, die die Tätigkeit des Rates bestimmen, vertiefen, wird diese Institution wachsen und ihr volles Potential entwickeln.
Wenn er Mitglied eines Rates ist, lasst ihn seinen Rat ermutigen, bei jeder seiner Sitzungen einen bestimmten Teil der Zeit der ernsten und von Gebeten getragenen Erwägung solcher Wege und Mittel zu widmen, die den Lehrfeldzug fördern oder verfügbare Hilfsquellen, gleich welcher Art, für seinen Fortschritt, seine Ausdehnung und Festigung erschließen können.
Dass es Wahlen gibt, ist ein hinreichendes Merkmal dafür,dass Ratsmitglieder zwar Teile einer göttlichen, vollkommenen Institution, aber dennoch selbst unvollkommen sind. Dies besagt jedoch nicht unbedingt,dass ihr Urteil mangelhaft ist.
Mit der wachsenden öffentlichen Aufmerksamkeit, die sich auf die Sache Gottes richtet, wird es für Bahá´i-Institutionen zwingend notwendig, ihre Arbeitsweise zu verbessern durch eine engere Anbindung an die grundlegenden Wahrheiten des Glaubens, durch größere Übereinstimmung mit dem Geist und der Form der Bahá´í-Administration und durch ein geschärftes Vertrauen in die wohltuende Wirkung richtiger Beratung, damit die von ihnen geführten Gemeinden ein Lebensmodell widerspiegeln, das den enttäuschten Mitgliedern der Gesellschaft Hoffnung bietet.
Beratung verleiht tiefere Kenntnis und wandelt Vermutung in Gewissheit. Sie ist ein strahlendes Licht, welches in einer dunklen Welt den Weg weist und Führung gibt.
Sprich: Der Mensch kann seine wahre Stufe nicht erlangen,es sei denn durch seine Gerechtigkeit. Keine Macht kann bestehen, es sei denn durch Einheit. Keine Wohlfahrt und kein Wohlergehen kann erreicht werden, es sei denn durch Beratung.
Die Haupterfordernisse für jene, die miteinander beraten, sind Reinheit des Beweggrundes, strahlender Geist, Loslösung von allem außer Gott, Hingezogensein zu Seinen göttlichen Düften, Bescheidenheit und Demut vor Seinen Geliebten, Geduld und Langmut in Schwierigkeiten, Dienstbarkeit an Seiner erhabenen Schwelle.
Ihre Mitglieder müssen in solcher Weise miteinander beraten, dass sich kein Anlass für Unwille oder Zwietracht ergibt.Dies ist erreichbar, wenn jedes Mitglied in vollkommener Freiheit seine eigene Meinung äußert und seine Beweisführung vorbringt.
Sollte jemand widersprechen, darf er sich auf keinen Fall verletzt fühlen, denn erst, wenn Angelegenheiten vollständig erörtert sind, kann sich der richtige Weg zeigen. Der strahlende Funke der Wahrheit erscheint erst nach dem Zusammenprall verschiedener Meinungen.
Höflichkeit, verehrung, Würde, Hochachtung vor dem rang und den Leistungen anderer sind Tugenden,die zu Harmonie und Wohlergehen jeder Gemeinschaft beitragen; Stolz jedoch und Selbsterhöhung gehören zu den schlimmsten Sünden.
...damit ihre Angelegenheiten wirkungsvoll und schnell geleitet werden, ist es nötig, dass jeder einzelne gewissenhaft und aktiv an der Wahl der Geistigen Räte teilnimmt, sich an ihre Entscheidungen hält, ihre Beschlüsse durchsetzt und aus vollem Herzen mit ihnen zusammenarbeitet bei ihrer Aufgabe, das Wachstum der Bewegung in allen Regionen anzuregen.
Strebt Tag und Nacht danach, eure Einheit voll zu veredeln. Lenkt eure Gedanken auf eure Geistige Entwicklung, schließt eure Augen vor den Fehlern anderer Seelen.Handelt so, dass andere durch euch erweckt werden; bringt reine und gute Taten hervor, zeigt Bescheidenheit und Demut!
Ratsmitglieder müssen Zivilcourage besitzen; sie müssen aber auch dem wohlbedachten Urteil und den Anordnungen der Mehrheit aller Ratsmitglieder rückhaltlos und unbedingt gehorchen.
Wenn der Rat Beschlüsse gefasst hat, müssen diese von allen, die es angeht, getreulich und bereitwillig durchgeführt werden.
Eine der Grundwahrheiten unserer Gesellschaftsordnung...ist die, dass selbst der schlecht überlegte Beschluss eines Rates aufrecht erhalten werden muss, um die Einheit der Gemeinschaft zu wahren.Berufung gegen die Entscheidung des örtlichen Rates kann beim Nationalen Rat eingelegt werden.
Wenn wir Einwände gegen ihre Entscheidung haben, müssen wir es sorgfältig vermeiden, diese Angelegenheit mit anderen Freunden zu besprechen, die keine Möglichkeit zur Verbesserung haben. Wir müssen unsere Ansicht dem Rat offen vorlegen, und erst wenn wir keine befriedigende Antwort erhalten, dürfen wir uns an den Nationalen Rat wenden...
Was die Freund brauchen – überall - ist mehr Liebe untereinander, und diese kann durch mehr Liebe zu Bahá´u´lláh erlangt werden. Denn wenn wir Ihn tief genug lieben, werden wir es niemals zulassen, dass persönliche Gefühle und Meinungen Seine Sache aufhalten; wir werden bereit, uns um des Glaubens willen füreinander zu opfern und, wie der Meister sagte, eine Seele in vielen Körpern werden.
Das Allerwichtigste ist, dass wir Liebe und Eintracht pflegen und uns um Abfuhren, die wir vielleicht erhalten, nicht kümmern. Dann werden die Schwächen der menschlichen Natur und die Eigenheiten oder die Haltung einer bestimmten Person nicht vergrößert, sondern sie verblassen bis zur Bedeutungslosigkeit im Vergleich mit unserem gemeinsamen Dienst an dem Glauben, den wir alle lieben.
Er fühlt... sehr deutlich, dass wenn... in dem Zustand ist, den Ihr Brief anzudeuten scheint... ganz sicher seine Angelegenheit falsch anfasst.Damit ist nicht der geistige Rat gemeint, damit ist jeder gemeint. Denn wo ist Bahá´´i-Liebe? Wo ist etwas davon zu spüren, dass Einheit und Eintracht über alles gestellt werden? Wo ist die Bereitschaft, die persönlichen Gefühle und Meinungen zu opfern, um Liebe und Eintracht zu erreichen? Was führt die Bahá´i zu der Annahme, die administrativen Gesetze könnten funktionieren, wenn die geistigen Gesetze geopfert werden?
Solange die Freunde miteinander streiten, wird auf ihren Bemühungen kein Segen sein, denn sie sind ungehorsam gegen Gott.
Wenn wir Bahái untereinander nicht herzliches Einvernehmen erreichen, dann haben wir den Hauptzweck verkannt, der Leben und Leiden des Bab, Bahá ú lláhs und des geliebten Meisters bestimmte. Eine Grundvoraussetzung für diese Einheit der Herzen, so haben Bahá´u lláh und Abdu´l-Bahá immer wieder betont, ist es, dass wir dem natürlichen Hang widerstehen, unsere Aufmerksamkeit auf die Fehler und Schwächen anderer zu richten und nicht auf unsre eigenen. Jeder von uns hat nur ein einziges Leben zu verantworten, und das ist sein eigenes.
Wenn innerhalb einer Baháí - Gemeinde Kritik und harte Worte fallen, dann gibt es kein Heilmittel außer das Vergangene hinter sich zu lassen und alle Beteiligten dazu zu bringen, eine neue Seite aufzuschlagen und Gott und seinem Glauben zuliebe die Erwähnung jener Punkte zu vermeiden, die zu Missverständnissen und Disharmonie führen. Je mehr die Freunde hin und her streiten und jeder darauf beharrt, dass sein Standpunkt der richtige sei, desto schlimmer wird die Lage.
… das beste ist, die beiden betroffenen Gläubigen zu bitten, die ganze Angelegenheit zu vergeben und zu vergessen. Er ( Shoghi Effendi) will nicht, dass die Freund damit anfangen, eine Art Baháí - Rechtsweg gegeneinander zu beschreiten... Fordern Sie die beiden deshalb auf, sich zu verbinden, das Vergangene zu vergessen und der Sache zu dienen wie nie zuvor.
Boshafte Kritik ist in der Tat Heimsuchung. Der tiefere Grund jedoch ist Mangel an Glauben in die Ordnung Baháú´lláhs ( d.h. in die administrative Ordnung) und Mangel an gehorsam Ihm gegenüber - denn Er hat es verboten.
Die administrative Ordnung bietet Kanäle für Kritik und erkennt damit im Grundsatz an, dass „es nicht nur das recht, sondern die entscheidende Pflicht jedes loyalen, vernünftigen Gemeindemitgliedes ist, offen und uneingeschränkt, jedoch mit dem schuldigen Respekt gegenüber der Autorität des Rates, jedweden Vorschlag zu machen und jedwede Kritik zu üben, wenn es nach bestem Wissen und Gewissen davon überzeugt ist, dass gewisse Verhältnisse oder Tendenzen in seiner Gemeinde der Verbesserung oder Abhilfe bedürfen.
Bezüglich der Angelegenheit und der Uneinigkeit, die offenbar zwischen einigen Freunden besteht: Wenn Bahá´i es zulassen, dass die dunklen Gewlten der Welt in ihre eigenen Beziehungen innerhalb des Glaubens eindringen, dann stellen sie dessen Fortschritt sehr in Frage.
Alle sollten bereit und willens sein, jeden persönlichen Unmut - berechtigt oder nicht- im Dienst der Sache beiseite zu räumen; denn die Menschen werden den Bahá´i-Glauben niemals annehmen, wenn sie nicht in seinem Gemeinschaftsleben das widergespiegelt sehen, was der Welt heute so sichtbar fehlt: Liebe und Einigkeit.
Bei eingehender und leidenschaftsloser Prüfung findet man die Ursache für solche Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen stets in Egoismus und Selbstsucht.
Wir müssen uns unsere Unvollkommenheit vor Augen halten und dürfen es uns nicht leisten, wegen der unglücklichen Dinge, die manchmal auf Nationaltagungen, manchmal in Geistigen Räten oder Ausschüssen usw. vorkommen, aus der Fassung zu geraten. Solche Dinge gehören ihrem Wesen nach zur Oberfläche; im Laufe der zeit wird die Gemeinde daraus hinauswachsen.
Vielleicht ist die größte Prüfung, der Bahá ´í je unterworfen werden, die durch ihre Mitgläubigen. Aber um des Meisters willen sollten sie immer bereit sein,gegenseitig ihre Fehler zu über sehen; sie sollte sich für harte Worte, die sie ausgesprochen haben, entschuldigen und sie vergeben und vergessen.Er empfiehlt Ihnen dringend, so zu handeln. Auch meint Er,... dass Sie und... den Versammlungen und Neunzehntagefesten in... nicht fernbleiben sollten; …
Es hat Ihn sehr betrübt, von der Uneinigkeit der Freunde dort zu erfahren, und Er meint, dass das einzig wahre Vorgehen darin besteht, dass sich alle Freunde der Lehrarbeit widmen und mit ihrem Nationalen Geistigen Rat zusammenarbeiten. Solche Prüfungen und Tests, durch die alle Bahá ´i- Gemeinden unvermeidlich hindurch müssen, erscheinen im Augenblick oft schrecklich, aber in der Rückschau verstehen wir, dass sie ihre Ursache in der Schwäche der menschlichen Natur, in Missverständnissen und auch in den Wachstumsschmerzen haben, die jede Bahá´ i- Gemeinschaft erleiden muss.
O ihr Geliebten des Herrn! Wenn jemand über einen Anwesenden Schlechtes sagt, führt das nur zu einem Ergebnis: Er dämpft die Begeisterung der freunde und macht sie gleichgültig. Denn üble Nachrede entzweit und ist der Hauptgrund dafür, dass sich Freunde zurückziehen... Wann immer ich Gutes von den Freunden höre, wird mir das Herz voll vor Freude; wenn ich aber auch nur andeutungsweise erfahre, dass sie schlecht miteinander auskommen, übermannt mich der Kummer. So geht es Abdu´l-Bahá. Urteilt selbst, was eure Pflicht ist.
Wenn ein Mitglied an den Sitzungen seines örtlichen Rates nicht regelmäßig teilnehmen kann, ist es ihm offensichtlich unmöglich,seine ihm obliegenden Pflichten als Vertreter der Gemeinde zu erfüllen. Die Mitgliedschaft in einem Örtlichen Geistigen Rat umfasst in der Tat die Pflicht und die Befähigung, in enger Verbindung mit der örtlichen Bahá´i-Arbeit zu stehen, und die Möglichkeit, regelmäßig an den Sitzungen des Geistigen Rates teilzunehmen.
Er greift bei rein örtlichen Verwaltungsangelegenheiten nicht ein und der Rat muss entscheiden, wann eine Nachwahl stattfinden sollte, wenn sich die Abwesenheit eines Mitglieds hinauszögert. Der Grundsatz lautet, dass die neun Mitglieder eines Geistigen Rates vernünftigerweise für die Sitzungen zur Verfügung stehen sollten. Falls ihre Abwesenheit von der Stadt länger dauert,muss ein anderer die Lücke füllen.
Das Heilmittel gegen Uneinigkeit in einem Rat kann nicht im Rücktritt oder in der Abwesenheit irgendeines seiner Mitglieder bestehen. Der Rat muss lernen, trotz störender Elemente als Ganzes weiterzuwirken; andernfalls würde das ganze System durch Ausnahmen von der Regel unglaubwürdig werden.
Papstamt und Kirchenverfassung
Aus den Schriften 'Abdu'l-Bahás und Shoghi Effendis
Frage: im Matthäusevangelium, Kapitel 16, Vers 18, heißt es: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde." Was ist die Bedeutung dieses Verses?
Antwort: Dieser Ausspruch Christi ist die Bestätigung der Worte Petri, als Christus fragte: "Wer sagt denn ihr, dass ich sei?" und Petrus antwortete: "Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn." Darauf erwiderte ihm Christus: "Du bist Petrus" - denn Kaiphas bedeutet im Aramäischen Felsen - "und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde." Denn die anderen gaben Christus zur Antwort, dass Er Elias wäre, einige sagten Johannes der Täufer und wieder andere meinten Jeremia oder der Propheten einer.
Christus wollte durch eine Andeutung oder eine Anspielung Petri Worte bestätigen; und so sagte Er wegen der Eignung seines Namens, Petrus: " ... und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde" das heißt, dein Glaube, dass Christus der Sohn des lebendigen Gottes ist, wird zur Grundlage der Religion Gottes; und auf dieser Überzeugung wird das Fundament der göttlichen Kirche - die das Gesetz Gottes ist - errichtet werden.
Betrachte die Lehren Christi und prüfe Leben und Art der Päpste. Überlege: Gibt es zwischen den Lehren Christi und den Methoden der päpstlichen Herrschaft irgendeine Ähnlichkeit? Wir üben nicht gern Kritik, aber die Geschichte des Vatikans ist sehr außergewöhnlich. Der Zweck Unserer Beweisführung ist, dass die Lehren Christi eine Sache für sich sind, und die Methoden der päpstlichen Regierung eine ganz andere, denn sie stimmen nicht überein. Sieh, wie viele Protestanten auf Befehl der Päpste getötet wurden. Wie viele Gewalttätigkeiten und Unterdrückungen haben sie gutgeheißen, und wie viele Strafen und Torturen haben sie verhängt! Kann irgendeiner der süßen Düfte Christi in solchen Handlungen entdeckt werden?
('Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen, S. 136-137)
Niemand wird, meine ich, die Tatsache anzweifeln, dass der Hauptgrund, warum die Einheit der Kirche Christi auf nicht wieder gut zu machende Weise erschüttert und ihr Einfluss im Laufe der Zeit untergraben wurde, darin liegt, dass das Bauwerk, das die Kirchenväter nach dem Hinscheiden Seines Ersten Apostels errichtet hatten, nicht auf Christi eigenen und ausdrücklichen Weisungen ruhte. Die Amtsgewalt und die Merkmale ihrer Verwaltung sind nur gefolgert und mittelbar, mehr oder minder berechtigt, aus einigen ungenauen, bruchstückhaften Hinweisen abgeleitet, die sie unter Seinen im Evangelium aufgezeichneten Worten verstreut fanden. Keines der kirchlichen Sakramente, keiner der Riten und keine der Zeremonien, welche die Kirchenväter kunstvoll ausgearbeitet und prunkvoll zelebriert haben, keine der Maßregeln harter Zucht, die sie den einfachen Christen unerbittlich auferlegten - nichts davon beruht unmittelbar auf der Vollmacht Christi oder ging von Seinen ausdrücklichen Worten aus. Nichts davon hat Christus geschaffen, noch hat Er eine dieser Institutionen besonders mit der hinreichenden Vollmacht belehnt, Sein Wort auszulegen oder dem, was Er nicht ausdrücklich geboten hat, etwas hinzuzufügen.
(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 38-39)
Wird durch den Text des Evangeliums ... den Führern und Körperschaften, die das Recht beanspruchen und die Aufgabe übernommen haben, die Verordnungen ihrer heiligen Schriften auszulegen und die Angelegenheiten der betreffenden Gemeinschaften zu verwalten, ausreichende Autorität verliehen? Konnte Petrus, das anerkannte Oberhaupt der Apostel ... zur Bekräftigung des Vorrangs, mit dem [er] ausgestattet war..., schriftliche und ausdrückliche Bestätigungen von Christus ... aufweisen, mit denen [er] diejenigen zum Schweigen [hätte] bringen können, die unter [seinen] Zeitgenossen oder in einer späteren Zeit [seine] Autorität zurückgewiesen und durch ihre Handlungsweise die bis auf den heutigen Tag fortbestehenden Glaubensspaltungen beschleunigt haben? Wo, so dürfen wir getrost fragen, können wir in den überlieferten Aussprüchen Jesu Christi, mag es sich nun um die Frage der Nachfolge oder um die Verfügung besonderer Gesetze und genau umrissener Verwaltungsanordnungen handeln, neben den rein geistigen Prinzipien irgend etwas finden, das den ausführlichen Vorschriften, Gesetzen und Warnungen nahekommt, die in den verbürgten Äußerungen sowohl Bahá'u'lláhs als auch 'Abdu'l-Bahás in reicher Fülle vorliegen?
(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 208)
Es liegt gewiss ein Körnchen Wahrheit in der Grundlage der Organisation der christlichen Kirche. Zum Beispiel sind die Vorrangstellung Petri und sein Recht auf die Nachfolge Jesu vom letzteren begründet worden, wenn auch ausschließlich mündlich und nicht in einer unmissverständlichen und klaren Sprache.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen einzelnen Gläubigen, 28.12.1936 [e.Ü.])
Was den Ausspruch Jesu Christi "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will Ich Meine Kirche bauen" betrifft; dieser Spruch begründet ohne jeden Zweifel die Vorrangstellung Petri und ebenso den Grundsatz der Nachfolge, doch ist er nicht ausdrücklich genug, was die Wesensart und Funktionsweise der Kirche selbst anbetrifft. Die Katholiken haben zu viel in diesen Ausspruch hineingelesen und von ihm gewisse Schlussfolgerungen abgeleitet, die überhaupt nicht zu rechtfertigen sind.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen einzelnen Gläubigen, 07.09.1938 [e.Ü.])
Die Bahá'í-Verwaltungsordnung als Gegenmodell
Sie haben auch in eindeutiger und eindringlicher Sprache die Zwillingsinstitutionen des Hauses der Gerechtigkeit und des Hütertums als ihre erwählten Nachfolger eingesetzt ...
(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 38)
[Es] wird unzweifelhaft klar und deutlich, dass der Hüter des Glaubens zum Ausleger des Wortes gemacht und dem Universalen Haus der Gerechtigkeit die Gesetzgebungsgewalt für die Gegenstände verliehen worden ist, die nicht ausdrücklich in den Lehren offenbart sind ...
(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 215)
Ian Semple - Auslegung und das Hütertum
Das Thema dieser Sitzung ist, wie Sie Ihren Programmen entnehmen können, "Auslegung und das Hütertum". Das scheint ein einfacher Stoff zu sein, aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, daß die Bahá'í-Auffassung von Auslegung sich in vielerlei Hinsicht von der in früheren Sendungen vorherrschenden unterscheidet, und daß es sogar innerhalb des Glaubens viele falsche Auffassungen gibt, die in der Tat Prüfungen für die Gläubigen hervorrufen können.
Hier möchte ich gerne einen Moment vom Thema abschweifen, um eine persönliche Anmerkung über die Koexistenz von göttlicher Autorität und individueller Freiheit der Äußerung zu machen, die eine so charakteristische Eigenschaft des Glaubens ist. Jemand - ich glaube, es war ein Pilger - sagte mir einmal, daß er meine, daß es für die Mitglieder des Universalen Hauses der Gerechtigkeit unmöglich gewesen wäre, zu sagen, was sie denken, wenn der Hüter in ihrer Besprechung gesessen hätte. Ich hatte nur das Vorrecht weniger Stunden in der Gegenwart des Hüters, aber ich stimme dieser Ansicht nicht zu. Ich glaube, daß man sich in seiner Gegenwart nicht gewagt hätte, irgend etwas anderes zu tun, als genau das zu sagen, was man dachte. Ich werde auch in dieser Ansicht bestätigt durch das Handeln der Hände der Sache Gottes seit der Entstehung des Hauses der Gerechtigkeit - der Hände, die so eng mit dem geliebten Hüter zusammengearbeitet haben. Sie haben in all ihren Beratungen mit dem Universalen Haus der Gerechtigkeit immer völlige Loyalität und Offenheit gezeigt, und diese Kombination war eine enorme Quelle der Kraft und Inspiration für das Universale Haus der Gerechtigkeit.
Daher glaube ich, daß die Gegenwart einer Quelle göttlicher Führung im Glauben, die eine Garantie für seine Einheit und die Erhaltung der Reinheit seiner Lehren ist, keinen Widerspruch zum Prinzip der Gedankenfreiheit darstellt. Ich bezweifle, daß es möglich ist, ein völlig klares Verständnis über das Thema der Auslegung zu erlangen, aber vielleicht können wir uns bis zu einem gewissen Grad annähern.
Ich schlage vor, das Thema in drei Hauptpunkte zu unterteilen:
1. Die Unterscheidung zwischen der Auslegung, die wir alle vornehmen, wenn wir über irgendein Thema diskutieren, und die durch den Hüter ausgeübte maßgebende Auslegung
2. Die Unterscheidung zwischen maßgebender Auslegung und göttlich geführter Gesetzgebung
3. Aspekte der Funktion des Auslegers wie sie von Shoghi Effendi ausgeübt wurde. Dieser Teil des Themas ist unser Hauptanliegen in diesem Seminar und daher werde ich es auch in eine Anzahl von Aspekten unterteilen, obwohl ich betonen muß, daß dies eine völlig willkürliche Unterteilung ist und jede Art von Auslegung in die andere hineinspielt. Sie sind:
3.1 Festlegung der Bedeutung bestimmter Texte
3.2 Erklärung der durch die Texte übermittelten Gedanken, d.h. die Erläuterung ihrer Bedeutung
3.3 Entfaltung von keimhaft angelegten Aussagen in der Heiligen Schrift
3.4 Beispiele für die Verweigerung, einen Text weiter zu erläutern, oder Aussagen zu nicht im Text behandelten Themen zu machen
3.5 Festlegung des Sphäre der maßgebenden Auslegung
3.6 Erhellung der Gesamtbedeutung der Offenbarung
3.7 Die Macht zu einem langen, ununterbrochenen Ausblick über eine Folge von Generationen hinweg
1. Aspekte der Auslegung
Es ist selbstverständlich ohne Auslegung unmöglich, irgendeine Aussage, ob geschrieben oder mündlich, zu verstehen oder darüber zu sprechen. Der Offenbarer als Manifestation Gottes hat die übermenschliche Aufgabe, der Menschheit Wahrheiten zu vermitteln, die sie noch nicht versteht, und sie zu einer Art des Verhaltens zu erziehen, die sie noch nicht erreicht hat. Um dies zu tun, muß Er die begrenzten Sprachen gebrauchen, die um Ihn herum gesprochen werden, mit all ihren angesammelten Bedeutungen und Begriffsinhalten. Er gebraucht nicht nur Worte, Metaphern und Gleichnisse mit höchster Geschicklichkeit, sondern verwandelt alte Formen und Begriffe und indem Er sie benutzt, haucht Er ihnen eine neue Bedeutung ein. Daher müssen wir bei dem Versuch, uns über die Offenbarung zu unterrichten, drei Bedeutungen in jedem Text, den wir lesen, studieren: Die Bedeutung der Worte selbst; die Bedeutung, die sie für die besondere Person gehabt haben werden, an die die Manifestation Gottes sich richtete; und auch die neue Bedeutung oder die Bedeutungen, die Er zu vermitteln suchen wird. Mit anderen Worten: Wir müssen drei Fallstricke meiden: Einer ist der, die offensichtliche Bedeutung der Worte zu ignorieren (In der Vergangenheit waren Leute manchmal so erpicht darauf, die esoterische Bedeutung eines Textes zu exzerpieren, daß sie für die klare Bedeutung der Worte blind waren); der zweite ist der, die Worte aus ihren historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen herauszureißen; der dritte ist zu denken, daß die historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge selbst uns ein Verständnis der offensichtlichen Bedeutung und dessen, was die Manifestation sagt, ermöglichen.
Ein gutes Beispiel, um dies zu zeigen, ist Bahá'u'lláhs Sendschreiben an einen Arzt. Einige Abschnitte sind sehr einfach. Um andere zu verstehen, müssen wir uns der Warnung des Hüters erinnern, daß dieses Sendschreiben an einen Arzt der alten medizinischen Schule gerichtet war, und daß wir ohne ein Verständnis der Terminologie dieser Schule nicht verstehen können, was Bahá'u'lláh sagte. Indessen ist klar, daß Bahá'u'lláh dem Arzt nicht nur erzählte, was der schon wußte. Er erklärte ihm in einer für ihn verständlichen Terminologie gewisse Wahrheiten über Gesundheit und Heilung, die er vermitteln wollte.
Der historische und gesellschaftliche Zusammenhang ist nicht der einzige Zusammenhang einer Textstelle. Es gibt auch den Zusammenhang mit den anderen Lehren. In "Ährenlese", Abschnitt 127 finden wir die folgenden Worte Bahá'u'lláhs:
"Wenn es euer Wunsch ist, o ihr Menschen, Gott zu erkennen und die Größe Seiner Macht zu entdecken, dann schaut auf Mich mit Meinen eigenen Augen und nicht mit den Augen eines anderen außer Mir. Nie werdet ihr sonst imstande sein, Mich zu erkennen, selbst wenn ihr über Meine Sache nachdenkt, solange Mein Reich dauert, und über alles Erschaffene nachsinnt durch alle Ewigkeit Gottes, des höchsten Herrn über alle, des Allgewaltigen, des Allewigen, des Allweisen."
Dies impliziert, glaube ich, unter anderem, daß der wichtigste Schlüssel zum Verständnis der Schriften die Schriften selbst sind, daß wir sie nicht bloß von unserem Standpunkt aus lesen müssen und versuchen zu sehen, was wir verstehen können, sondern sie von Bahá'u'lláhs Standpunkt aus betrachten müssen: Was versucht Er zu vermitteln? Und zu welchem Zweck? Es ist nicht gut, einen Text zu nehmen und zu versuchen, ihn isoliert von allen anderen Lehren, die sich darauf beziehen mögen, zu verstehen. Daher müssen wir jede Aussage in Beziehung zur gesamten übrigen Offenbarung setzen und versuchen zu verstehen, was Bahá'u'lláh zu vermitteln bestrebt ist. Die Konsequenz dieser Erkenntnis ist zu akzeptieren, daß wir, da wir niemals die ganze Offenbarung umfassen können, immer vorsichtig mit unserem Verständnis sein müssen, sogar wenn es uns völlig klar zu sein scheint. Ein schlagendes Beispiel für die Wichtigkeit dessen kommt im Kitáb-i-Aqdas vor, wo wir die Verse finden: "Gott hat euch die Ehe verordnet" und "Tretet in den Stand der Ehe, o Menschen, damit ihr einen hervorbringt, der Meiner gedenken wird; Dies ist Mein Gebot an euch, gehorcht ihm zu eurem eigenen Beistand". Man würde denken, daß dies sehr klare Aussagen sind, die keine Auslegung zulassen. Es scheint auf den ersten Blick ein unzweideutiger, verbindlicher Befehl zu sein. Einer der Gläubigen hat jedoch Bahá'u'lláh selbst über diese Textstelle befragt und ob sie bedeute, daß die Ehe obligatorisch sei. Bahá'u'lláh antwortete: "Dies ist nicht obligatorisch." Ich führe dies als Beispiel an, weil es manchmal in Diskussionen über ein Thema eine große Versuchung für Bahá'í ist, dogmatisch (und manchmal hitzig!) zu erklären: "Das können Sie nicht sagen! Hier sind die Worte des Textes und sie sind ziemlich klar!"
Individuelle Auslegung dieser Art ist nicht nur unvermeidlich. Sie ist wesentlich, wenn wir die Tiefe unseres Verständnisses erweitern und gleichzeitig seine ständig vorhandenen Begrenzungen anerkennen wollen. Ich glaube, daß die Kombination von Ermutigung zu individuellem Denken mit dem Vorhandensein eines unfehlbaren Mittelpunktes maßgebender Auslegung eine der einzigartigen Stärken dieser Sendung ist, deren Auswirkungen sogar während der Abwesenheit des Hüters andauern. Die außerordentliche Tatsache, daß es im Prinzip einen Mittelpunkt solcher Führung in der Sache gibt, und daß jede andere Auslegung der Maßgeblichkeit beraubt ist, lehrt uns eine Bescheidenheit in unserem Denken, die eine der stärksten Bande der Einheit ist.
Obwohl die individuelle Auslegung nicht maßgeblich ist, sollte uns das nicht zu dem Extrem führen daraus zu folgern, daß die von Einzelnen gegebenen Erklärungen nicht inspiriert sein könnten. In einem Sendschreiben, daß als Abschnitt 203 in "Briefe und Botschaften" von Abdul-Bahá veröffentlicht ist, schrieb der Meister:
"Die Gesegnete Schönheit hat diesem Diener prophezeit, daß sich Seelen erheben werden, die wahre Verkörperungen der Führung sind, Banner der himmlischen Heerscharen, Fackeln der Einheit Gottes und Sterne Seiner reinen Wahrheit, strahlend in den Himmeln, wo Gott allein regiert. Sie werden die Blinden sehend und die Tauben hörend machen; sie werden die Toten zum Leben erwecken. Allen Völkern der Erde werden Sie entgegentreten und ihre Sache mit den Beweisen des Herrn der sieben Sphären vertreten."
Es wäre daher ein Fehler anzunehmen, daß die Bahá'í-Offenbarung Gläubiger beraubt sein wird, die uns tiefgründigere Einsichten in die Bedeutung der Lehren des Glaubens geben könnten. Aber keine dieser Arten von Auslegung, egal wie gelehrt der sie zum Ausdruck bringende Gläubige auch sei, ist maßgebend. Obwohl sie uns aufklären können, ist da immer die Unvermeidbarkeit eines gewissen Grades an Fehlerhaftigkeit. Laßt uns nie das Beispiel der christlichen Sendung vergessen. Das Evangelium ist voll mit Prophezeiungen und Warnungen Jesu über seine Wiederkunft. Christen haben sich fast 2000 Jahre lang darum bemüht, sie zu verstehen. Die Gelehrten haben viele Auslegungen und Übereinkünfte darüber erarbeitet, was geschehen würde, aber ich wüßte von keiner, die zu dem rechten Schluß gekommen wäre, nämlich daß sie das Erscheinen einer weiteren Manifestation Gottes ankündigen.
Maßgebliche, göttlich geführte Auslegung gehört einer völlig anderen Ordnung an, als wir in Betracht gezogen haben, und ist ausschließlich die Aufgabe des Meisters und des Hüters.
2. Maßgebende Auslegung und göttlich geführte Gesetzgebung
Das Vorrecht der maßgebenden Auslegung, daß von Bahá'u'lláh erst Ábdu'l-Bahá und nach ihm dem Hüter verliehen wurde, liegt im Herzen des Bundes.
In früheren Sendungen wurde keine klare Unterscheidung zwischen Auslegung und Gesetzgebung getroffen. Die zwei Aufgaben waren unter einem einzigen Vorgang des Herleitens von Schlußfolgerungen und der Führung in neuen Situationen aus dem Studium der heiligen Schriften zusammengefaßt. Weil man glaubte, diese Herleitungen seien ein Vorgang des Deutlichmachens dessen, was unausgesprochen im Text inbegriffen war, waren sie praktisch unveränderlich und verwandelten sich in eine massive Häufung von Dogmen, Ritualen und Gesetzen. Im Judentum wurden sie in erster Linie zu einer Vielzahl von minutiösen Verordnungen, die jeden Moment und jeden Aspekt im Leben einer Person regulierten, und denen zu gehorchen als identisch mit dem Gehorsam vor Gott begriffen wurde. Das Christentum befreite sich weitgehend davon, ersetzte sie aber durch die Errichtung eines gewaltigen Bauwerks von Dogmen, an die zu glauben als wesentlich für das ewige Heil der Seele aufgefaßt wurde, und das zu solchen Mißbräuchen wie dem Ablaßhandel führte, der die Rebellion Martin Luthers und der protestantischen Reformation heraufbeschwor.
In dieser Sendung haben wir zwei getrennte, göttlich geführte Gewalten, eine um maßgebende Auslegung zu schaffen, und eine für ergänzende Gesetzgebung. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Aufgaben wurde durch das Universale Haus der Gerechtigkeit in seinem Brief vom 9. März 1965 erklärt. Auf den Seiten 52 und 53 von "Wellspring of Guidance" findet sich die folgende Textstelle:
"Der Hüter offenbart, was die Schrift bedeutet; seine Auslegung ist eine Darlegung der Wahrheit, die nicht abgeändert werden kann. Dem Universalen Haus der Gerechtigkeit wurde, in den Worten des Hüters, das alleinige Recht der Gesetzgebung über Gegenstände verliehen, die nicht ausdrücklich in den Bahá'í-Schriften offenbart sind. Seine Verkündigungen, welche durch das Universale der Gerechtigkeit selbst abgeändert oder aufgehoben werden können, dienen der Ergänzung und bringen das Gesetz Gottes zur Anwendung. Obwohl nicht mit der Aufgabe der Auslegung betraut, ist das Universale Haus der Gerechtigkeit doch in einer Position, um alles nötige zur Errichtung der Weltordnung Bahá'u'lláhs auf dieser Erde zu tun."
Eine wichtige Konsequenz dieser Unterscheidung ist, daß es, wenn wir eine Frage darüber haben, was wir glauben sollen, oder was der Text bedeutet, und dies nicht im Text selbst für uns beantwortet ist, während der Abwesenheit des Hüters niemanden gibt, der uns maßgebend und verbindlich antworten könnte. Wenn wir dagegen in irgendeinem Fall wissen wollen, was wir tun sollen, ist das Universale Haus der Gerechtigkeit voll ermächtigt, göttliche Führung bezüglich dieses Gegenstandes zu geben.
Zwei andere wichtige Konsequenzen sind das Verbot der Formulierung von Dogmen und Bekenntnissen im Glauben (die gibt es schließlich, aber die Menschen versuchen, die göttlichen Wahrheiten in einem Paket zusammenzuschnüren und sind für immer zur Unzulänglichkeit verdammt), und die Erkenntnis des tiefgreifenden Unterschiedes zwischen den wirklich von der Manifestation Gottes gegebenen Gesetzen, die nur von einem weiteren Propheten geändert werden können, und jenen, die zu erlassen dem Universalen Haus der Gerechtigkeit eingegeben ist, und die das Haus der Gerechtigkeit selbst aufheben kann. Dies gibt dem Bahá'í-Rechtssystem einen beispiellosen Grad an Elastizität.
Es gibt natürlich eine hierarchische Beziehung zwischen der Auslegung des Hüters und der Gesetzgebung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Die höchste Autorität im Glauben ist das Wort Gottes, und alle Gesetzgebung ist durch diese Autorität begrenzt. Der maßgebende Ausleger ist das lebende Mundstück dieses Wortes, der Erklärer seiner wahren Bedeutung. Daher hat er natürlich die Autorität, den Bereich der Gesetzgebung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit festzulegen. Shoghi Effendi hat kategorisch erklärt, daß weder der Hüter noch das Universale Haus der Gerechtigkeit sich jemals die Aufgabe des anderen anmaßen werden. Beide stehen schließlich unter dem Schutz und der unfehlbaren Führung des Báb und Bahá'u'lláhs. Daher können wir sicher sein, daß das Universale Haus der Gerechtigkeit auch in Abwesenheit des Hüters keine Gesetze außerhalb seines Geltungsbereiches erlassen wird. Ich halte es dagegen für möglich, daß das Universale Haus der Gerechtigkeit in seiner Vorsicht, seine Grenzen nicht zu überschreiten, sehr wohl davon Abstand nehmen könnte, Gesetze auf Gebieten zu erlassen, von denen der Hüter uns gesagt haben könnte, daß sie in seine Sphäre gehören, wenn er bei uns wäre. Es gibt zwei interessante Beispiele für das, was ich meine.
Wie Sie wissen, ist sowohl im Christentum als auch im Bahá'í-Glauben Mord verboten. Es ergibt sich dann die Frage, ob Abtreibung und Euthanasie zulässig sind oder nicht. Die katholische Kirche hat beschlossen, daß das Gesetz eindeutig ist, "Du sollst nicht töten", und daß daher beides verboten ist. Im Bahá'í-Glauben haben wir aber Stellungnahmen des Hüters zu beiden Fragen. In beiden Fällen sagt er, daß sich nichts bestimmtes dazu in den Schriften findet - was impliziert, daß sie nicht ganz dasselbe sind wie Mord. Es folgen drei Stellungnahmen im Auftrag des Hüters, die sich auf diese Themen beziehen:
Am 25. August 1939: "Die Praxis der Abtreibung - die absolut kriminell ist, da sie die vorsätzliche Zerstörung von Leben einschließt - ist in der Sache verboten. Hinsichtlich 'Gnadentod' ...; auch dies ist eine Angelegenheit, über die das Universale Haus der Gerechtigkeit Gesetzte erlassen müssen wird."
Am 13. November 1940: "Hinsichtlich der Praxis der Abtreibung; da zu diesem Thema keine besondere Anspielung in den Schriften Bahá'u'lláhs gemacht wurde, obliegt es dem Universalen Haus der Gerechtigkeit, dazu entscheidend Stellung zu nehmen. Es kann indessen kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Praxis, da sie die Zerstörung menschlichen Lebens einschließt, energisch verurteilt werden muß."
Am 20. Oktober 1953: "Da sich nichts bestimmtes zum Thema Abtreibung in den Bahá'í-Schriften findet, wird sich folglich das Universale Haus der Gerechtigkeit damit auseinandersetzten müssen, sobald diese Körperschaft gebildet worden ist."
Auf der Grundlage dieser drei Stellungnahmen hat das Universale Haus der Gerechtigkeit verfügt, daß das Vornehmen einer Abtreibung nur zu dem Zweck, sich eines unerwünschten Kindes zu entledigen, unbedingt verboten ist, aber es mag Fälle geben, in denen Abtreibung erlaubt sein könnte, und hierfür muß das Universale Haus der Gerechtigkeit Gesetze erlassen. Solange ein solches Gesetz noch aussteht, ist die Entscheidung unter Berücksichtigung der o.g. Prinzipien und des fachkundigen ärztlichen Rates dem Gewissen des Einzelnen überlassen.
Ein anderes Gebiet betrifft die Pflichtgebete. In der dreizehnten Frohen Botschaft sagt Bahá'u'lláh: "Alle Staatsgeschäfte sind dem Haus der Gerechtigkeit vorzulegen; aber Gottesdienste müssen so gehalten werden, wie es Gott in Seinem Buch offenbart hat". Als einmal ein Gläubiger das Universale Haus der Gerechtigkeit bat, ein Gebet zu bestimmen, das für das Haus der Gerechtigkeit gesprochen werden könnte, bezog es sich auf diesen Text und lehnte eine solche Bestimmung ab. Man könnte auch meinen, daß dieser Text es dem Haus der Gerechtigkeit unmöglich gemacht hätte, irgendwelche Fragen über Pflichtgebete zu beantworten, aber der Hüter schrieb, daß Einzelheiten bezüglich der Pflichtgebete, die unklar sind, durch das Universale Haus der Gerechtigkeit zu entscheiden sind, und bestimmte damit genau, welcher Aspekt dieses Gegenstandes innerhalb seines Gesetzgebungsbereiches liegt.
3. Die Aufgabe der Auslegung
Die Art und Weise, in der Shoghi Effendi seine Aufgabe als Ausleger wahrgenommen hat, ist höchst erhellend, sowohl im Bezug auf unser Verständnis darüber, was maßgebende Auslegung impliziert, als auch im Hinblick auf unser Verständnis von der Unfehlbarkeit des Heiligen Textes, ein Gegenstand, der in früheren Sendungen heftig mißverstanden wurde. Die nun folgenden Zitate stammen aus Briefen von Sekretären des Hüters, die in seinem Auftrag geschrieben wurden.
3.1 In einigen Fällen gab Shoghi Effendi einfach klare Stellungnahmen darüber ab, was ein bestimmter Abschnitt bedeutet, zum Beispiel:
- Hinsichtlich Ihrer Fragen: Was der Meister mit den von Ihnen zitierten Worten meinte ist einfach, das Freude uns mehr Freiheit zur Gestaltung gibt. Wenn die Propheten, der Meister selbst und der Hüter weniger Probleme und Sorgen gehabt hätten, dann hätten Sie sehr viel mehr Schöpferkraft für die Sache hervorbringen können. Wenn er sagte, "wachse, um ein fruchtvoller Baum zu werden", meinte er, daß wir, indem wir die Last des Hüters erleichtern und so stark wie möglich versuchen, unseren Anteil an der Arbeit des Glaubens zu tun, Shoghi Effendi helfen würden, seine volle Macht als Hüter zu entfalten, und durch den Bund würde die Sache ihren Schatten über alle Menschen ausbreiten. Dies haben wir in den letzten 30 Jahren geschehen sehen, aber das heißt nicht, daß wir nicht aufs Äußerste versuchen müssen, ihm durch unser Leben des Dienstes zu helfen. (05.10.1952 - Sekr.)
- Das im Sendschreiben des Meisters erwähnte "Rheuma" ist symbolisch gemeint. Er meint, daß die Menschen eine geistige Erkältung haben und die göttlichen Düfte nicht riechen können, und daß die Gläubigen die Ärzte sein müssen, die Menschen von diesem Zustand zu heilen. Er bezieht sich nicht auf körperliche Leiden. (26.03.1950 - Sekr.)
- Der Meister benutzt den Ausdruck "die göttliche Wirklichkeit ist geheiligt über Einheit", um uns nachdrücklich die Tatsache einzuprägen, daß die Gottheit nicht erkannt werden kann und es unmöglich ist, Sie zu bestimmen. Wir können sie nicht in Begriffe fassen wie Einheit und Vielheit, die wir auf Dinge anwenden, die wir kennen und erfahren können. Er gebraucht die Methode, die Betonung zu übertreiben, um seinen Gedanken zu verdeutlichen, daß wir die Sonne indirekt durch ihre Strahlen kennen, die Gottheit durch die Manifestation Gottes. (20.02.1950 - Sekr.)
- Gl. 160 - Die menschliche Seele ist in dem Sinne ein "Vorbote", als daß sie uns eine leise Ahnung von der Existenz anderer Welten gibt, eine Andeutung der geistigen Welten im Jenseits. (25.05.1938 - Sekr.)
- Die "Feuerflamme" im Tablet an Ahmad sollte bildlich verstanden werden. Mit anderen Worten: Wir dürfen nicht den schlechten Einfluß von Bundesbrechern oder Feinden des Glaubens tolerieren, sondern müssen kompromißlos in unserer Loyalität sein, darin, sie zu entlarven und den Glauben zu verteidigen. (21.07.1955 - Sekr.)
- Der Ausdruck "Er, der sich in der Entfernung zweier Bogenlängen befindet" in "Ährenlese" Nr. 29 sollte nicht wörtlich genommen werden, sondern hat eine allegorische Bedeutung, und deutet dichte Nähe an. (12.04.1938 - Sekr.)
- Verborgenen Worte, persisch 79 - Der Ausdruck "Meine schwarzen Locken zu kämmen, und nicht, Meine Kehle damit zu verwunden" ist eine allegorische Warnung Bahá'u'lláhs davor, etwas von dem zu mißbrauchen, was Er der Welt geschenkt hat (06.09.1937 - Sekr.)
In Kalimát-i-Firdawsíyyih sagt Bahá'u'lláh: "Wir bestimmten bereits, daß die Menschen sich in zwei Sprachen verständigen sollten; aber es müssen Anstrengungen unternommen werden, sie auf eine zu beschränken, ebenso die Schriftarten der Welt, damit die Menschen nicht mit dem Erlernen verschiedener Sprachen ihr Leben verschwenden und vergeuden. So wird schließlich die ganze Erde als eine Stadt und ein Land betrachtet." Ein Gläubiger fragte den Hüter, in welcher Beziehung dies zu Bahá'u'lláhs Gebot steht, daß eine internationale Hilfssprache ausgewählt und in allen Schulen zusätzlich zur Muttersprache unterrichtet werden soll. Die Antwort war:
- Bahá'u'lláh bezieht Sich auf dem achten Blatt des Erhabensten Paradieses auf eine Zeit in ferner Zukunft, wenn die Welt wirklich ein Land, und eine einzige Sprache eine fühlbare Möglichkeit geworden ist. Es widerspricht nicht Seinen Anweisungen bezüglich der sofortigen Notwendigkeit einer Hilfssprache. (16.03.1955 - Sekr.)
Aus diesen besonderen Auslegungen lernen wir nicht nur, was ein bestimmter Abschnitt bedeutet, sondern wir erhalten Anschauungsunterricht im Studium der Schriften. Wir sehen, daß einige Abschnitte wörtlich zu nehmen sind, andere allegorisch. Einige sind sogar stilistische Übertreibungen, um eine beabsichtigte Wirkung hervorzurufen, und einige beziehen sich auf eine unterschiedliche Stufe in der Entwicklung der Sendung als andere.
3.2 Manchmal ging der Hüter erheblich über eine kurze Auslegung des fraglichen Abschnittes hinaus, so wie in dieser wunderschönen Beschreibung des kurzen Pflichtgebetes:
- Die Bedeutung des von Herrn Lacey in seinem Brief erwähnten kurzen Gebetes ist einfach, daß Bahá'u'lláh in einen kurzen Satz das wahre Wesen des Lebens hineingetan hat, was bedeutet, daß wir von einem Vater kommen und auf der Straße des Lebens durch Prüfungen, Versuchungen und Erfahrungen gehen, damit unsere Seelen wachsen mögen, und daß es der Grund für unser Sein ist, zu lernen, unseren Schöpfer zu verstehen. Während wir dies tun, werden wir unsere Liebe zu ihm vermehren und Ihn anbeten.
Dies ist wirklich die tiefste Freude, eine jegliche Seele erfährt. Alle anderen sind nur Widerspiegelungen dieser Freude, der Freude die wir erfahren, wenn wir den Gott anbeten, der uns gemacht hat, unseren Himmlischen Vater . (05.10.1953 - Sekr.)
3.3 Manchmal entfaltete er einen ganzen Gedankengang aus nur einem keimhaft angelegten Hinweis in den Schriften. Es gibt zum Beispiel seine Festlegung des Námús-i-Akbar (des Größten Gesetzes) als der Bildung der Nationalen Geistigen Räte, und des Námús-i-A'zám (des Größten Gesetzes) als der Bildung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit. Die Entfaltung der Institution der Hände der Sache Gottes und ihrer Hilfsämter ist zweifellos ein weiteres Beispiel des selben Vorgangs.
3.4 Auf der anderen Seite gibt es viele Beispiele für Gegenstände, deren Auslegung er ablehnte, da hierzu nichts genaues in den Texten zu finden war. Zum Beispiel:
- Wir haben keine Möglichkeit herauszufinden, welche Wissenschaft Bahá'u'lláh meinte, als er sagte, daß sie Angst weitgehend beseitigen würde. Da dies an keiner anderen Stelle in den Lehren erwähnt wurde, kann der Hüter nichts aus dieser Aussage erkennen. Dies zu tun würde von seiner Aufgabe als Ausleger wegführen. Er kann nichts außer den gegebenen Lehren offenbaren . (30.08.1952 - Sekr.)
- Bezüglich der Punkte aus dem "Brief an den Sohn des Wolfes" (S. 32 der englischen Ausgabe), die Sie erwähnen: Diese wurden, soweit wir wissen, niemals durch Bahá'u'lláh weiter ausgeführt; sie blieben verborgen in den Reichen Seines unendlichen Wissens, ebenso wie die universale Sprache, die Er in dem selben Buch erwähnt. (15.08.1942 - Sekr.)
- Bezüglich ihrer Frage hinsichtlich der Möglichkeit, künstliches Leben mit Hilfe eines Inkubators zu schaffen: Dies ist im wesentlichen eine Frage, welche die Wissenschaft angeht und sollte als solche von Wissenschaftlern untersucht und studiert werden. (31.12.1937 - Sekr.)
3.5 Dies führt uns zur vom Hüter selbst getroffenen Festlegung der Grenzen der Sphäre seiner Unfehlbarkeit als Ausleger.
- Shoghi Effendi ist nur unfehlbar, wenn er die Worte auslegt. Er hält es für Häresie, ihm eine Stufe gleich der Bahá'u'lláhs oder auch nur des Meisters beizumessen. Sein Rang ist der des Hüters der Sache Gottes und des Präsidenten des Hauses der Gerechtigkeit und des Auslegers der Worte und nichts anderes. Er lehnt jeden anderen Rang gänzlich ab, den die Freunde ihm in ihrer großen Liebe fälschlicherweise zuschreiben mögen. (18.09.1938 - Sekr.)
- Die dem Hüter eigenen Kräfte sind nicht unbegrenzt und unterscheiden sich von denen, die der Meister besaß. Aber der Grad der Führung, den Gott ihm zu verleihen geruhen mag, ist unbegrenzt, da er von Bahá'u'lláh kommt, und nicht von ihm selbst. Jedes außerordentliche Anzeichen von Wissen oder Eingebung, daß er bei einigen Gelegenheiten zeigen mag, darf nicht den ihm eigenen Kräften, denen des Meisters verwandt, zugerechnet werden, sondern vielmehr einem Ausdruck des Willens Bahá'u'lláhs, ihn aus Ihm eigenen Gründen bei dieser Gelegenheit zu führen. Der Hüter ist der unfehlbare Ausleger des Wortes Gottes. Seine Worte sind nicht die Worte Gottes selbst. Aber seine Auslegung ist so bindend wie das Wort.
(20.11.1941 - Sekr.)
- Der Hüter möchte von den Freunden mit Fakten versehen werden, wenn sie um seinen Rat bitten, denn obwohl seine Entscheidungen von Gott geführt sind, ist er nicht, wie der Prophet, nach Belieben allwissend, ungeachtet der Tatsache, daß er oft eine Situation oder Umstände erfühlt, ohne Einzelheiten davon zu kennen. (04.03.1948 - Sekr.)
- Über etwas, was nicht in den Lehren zu finden ist, äußert sich der Hüter nicht. Dies sind Gegenstände für Wissenschaftler und Fachleute. (29.09.1953 - Sekr.)
Eine Folge des Willens und Testamentes, die nicht aus den Augen verloren werden darf, ist der ausdrückliche Befehl an die Freunde, dem Hüter und dem Universalen Haus der Gerechtigkeit zu gehorchen. Dies mag mit ihren Aufgaben der göttlich geführten Auslegung und Gesetzgebung im Zusammenhang stehen, aber es ist nicht unbedingt dasselbe und kann in anderem Zusammenhang Anwendung finden, wie sich an den folgenden Erklärungen aus im Auftrag Shoghi Effendis geschriebenen Briefen zeigt.
- Was den ausdrücklichen Befehl des Meisters hinsichtlich des Gehorsams gegenüber dem Hüter angeht, muß klar gemacht werden, daß die Frage, zu entscheiden, welche Angelegenheiten Gehorsam gegenüber dem Hüter verlangen, eine ist, über die der Letztgenannte allein das volle Recht zur gewissenhaften Entscheidung hat. Mit anderen Worten obliegt es dem Hüter festzustellen, ob eine bestimmte Handlung schädlich für die Sache ist oder nicht, und ob sie nach seinem persönlichen Eingreifen verlangt. Es ist nicht Sache der einzelnen Gläubigen, die Sphäre der Autorität des Hüters einzuschränken, oder zu beurteilen, wann sie dem Hüter gehorchen müssen und wann sie die Freiheit haben, sein Urteil zurückzuweisen. Solch eine Haltung würde offensichtlich zu Verwirrung und Spaltung führen. Es liegt in der Verantwortung des Hüters als ernanntem Ausleger der Lehren festzustellen, welche Angelegenheiten, da sie die Interessen des Glaubens berühren, auf Seiten der Gläubigen völligen und uneingeschränkten Gehorsam seinen Anweisungen gegenüber verlangen. (27.11.1933 - Sekr.)
- Die Unfehlbarkeit des Hüters ist auf Angelegenheiten beschränkt, die sich streng auf die Sache und die Auslegung der Lehren beziehen; er ist keine unfehlbare Autorität für andere Gegenstände, wie Ökonomie, Wissenschaft usw.. Wenn er meint, daß etwas Bestimmtes wesentlich für den Schutz der Sache ist, auch wenn es etwas ist, was jemanden persönlich betrifft, ist ihm zu gehorchen, aber wenn er Ratschläge gibt, so wie er ihn Ihnen in einem früheren Brief über Ihre Zukunft gegeben hat, sind sie nicht bindend; Sie sind frei, dem zu folgen oder nicht, wie es Ihnen gefällt. (17.10.1947 - Sekr.)
- Künftige Hüter ... können die Auslegungen früherer Hüter nicht 'abschaffen', da dies nicht nur einen Mangel an Rechtleitung, sondern Fehler bei ihrer Schaffung implizieren würde; indessen können sie frühere Auslegungen ausführen und erklären, und sie können sicherlich frühere Regelungen abschaffen, die als eine vorübergehende Notwendigkeit durch einen früheren Hüter niedergelegt wurden. (19.02.1947 - Sekr.)
3.6 Ich finde es nun sehr interessant, daß alle Zitate, die ich bisher angeführt habe, und die zum größten Teil das sind, was in früheren Sendungen "Auslegung" umfaßte, in den Worten der Sekretäre des Hüters abgefaßt sind. Er selbst widmete seine Aufmerksamkeit hauptsächlich einem anderen Bereich, nicht der Erklärung unklarer Textstellen oder der Festlegung in den Schriften benutzter Begriffe, sondern der Erhellung der Gesamtbedeutung der Offenbarung. Er pflegte bestimmte Themen zu nehmen, wie das Wesen und die Bedeutung der Bahá'í-Lebensart, die Theorie und Funktion der Bahá'í-Institutionen, die Beziehung der Sache zu aktuellen Ereignissen und ihr Platz in der Geschichte der Menschheit, die Stufe der Manifestationen Gottes und ihre Beziehungen zueinander, die Stufe des Meisters, die Bestimmung gewisser Bahá'í-Gemeinden, den richtigen Weg, die Sache zu lehren, und dann mit eigener Hand lange Briefe zu schreiben, die, wie das Band einer Halskette, Zitate des Báb, Bahá'u'lláhs und des Meisters zusammenführten und die Quellen zeigten, aus denen die Ideen hervorsprudelten, sowie die Folgen und die Wichtigkeit jener Textstellen und die Taten, die sie von den Gläubigen forderten.
Dies ist in meinen Augen der größte Aspekt der Aufgabe des Hüters als Ausleger. Diese Offenbarung ist so enorm, so tiefgreifend, daß die Gläubigen wie ein Nichts in den Untiefen dieses weiten Meeres kämpfen müßten. Er war es, der den Fußstapfen des Meisters folgend diejenigen Aspekte der Sache, die unsere sofortige Aufmerksamkeit erfordern, zusammenzog, ihre Beziehung zu den weitreichenden Folgen der gesamten Offenbarung zeigte, deren Reichtümer wir nur anfangen zu kosten, und uns einen Ausblick über unsere Arbeit in der fernen Zukunft gab, bis ans Ende dieser Sendung und darüber hinaus.
3.7 In "Die Sendung Bahá'u'lláhs" schrieb Shoghi Effendi daß "ohne eine Institution" wie dem Hütertum "die benötigten Mittel" dem Glauben "zu ermöglichen, einen langen, ununterbrochenen Ausblick über eine Folge von Generationen hinweg zu tun, gänzlich fehlen würde." Ich hörte, wie Freunde diese Stellungnahme in Beziehung zu der Tatsache gesetzt haben, daß das Hütertum eine erbliche Institution ist, und daß es dieser Faktor der Erblichkeit wäre, der die Mittel für den Glauben bereitstellen würde, diesen weiten Ausblick zu tun.
Ich habe indessen nirgendwo in den Schriften des Hüters gesehen, daß dieses Argument gebracht würde, und es scheint mir, daß, obwohl natürlich ein Körnchen Wahrheit in dieser Annahme steckt, die bloße Tatsache, daß jeder Hüter seinem Vater im Amt gefolgt wäre, keine angemessene Grundlage für die Ausübung einer so anspruchsvollen Funktion zu sein scheint. Die Funktion des erleuchteten Auslegers impliziert dies aber. Als Ausleger ist der Hüter in der Lage, nicht nur die äußerliche Bedeutung der Schriften zu verstehen, sondern ihre inneren Zusammenhänge. Obwohl andere durch das Studium der Schriften und des Fortschrittes der menschlichen Angelegenheiten eine Ahnung davon bekommen können, wie die Gesellschaft sich entwickeln wird, konnte nur der Hüter allein das ganze Panorama der Absicht Bahá'u'lláhs klar schauen und für uns den Weg skizzieren, den die Manifestation Gottes vor uns liegen sieht. Dies hat Shoghi Effendi tatsächlich in seinen Briefen zur Weltordnung getan und auch in "Gott geht vorüber". Das Letztgenannte ist nicht nur ein Geschichtsbuch, so großartig es in dieser Hinsicht auch sein mag, es ist auch ein erleuchteter Kommentar zu den Ereignissen, die es erzählt, es erhellt die Vergangenheit, fordert uns in der Gegenwart heraus uns gibt uns eine Vision der Zukunft.
Diese Schriften wurden schon durch Beraterin Isobel Sabri in ihrem Vortrag vor zwei Wochen wundervoll beschrieben.
(Von Ian Sample in einem Seminar am 18. Februar 1984 gehaltener Vortrag)
Hanno Lenk 07.12.1995, nicht überprüfte Übersetzung
Bahá'u'lláh, Boschaften aus Akká
(R.Zimmel 12.06.2003) Seite 8 von 8