Religion und Wissenschaft
Religion und Wissenschaft
Die Vorstellung, dass Wissenschaft und Religion gegensätzlich und unvereinbar sind, ist tief in der Gesellschaft verwurzelt. Häufig geht dies auf eine einseitige oder verzerrte Geschichtsschreibung zurück, in der Religion und Wissenschaft in ewigem Krieg beschrieben werden. Medien und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens fördern oftmals diese Sichtweise. Bisweilen sind es aber auch falsche religiöse Auslegungen oder fragwürdige wissenschaftliche Theorien und Praktiken, die zu einem Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft führen.
Eines der Prinzipien in der Bahá’í-Religion ist, dass wahre Religion und wahre Wissenschaft im Einklang miteinander stehen. Beide sind in gleicher Weise für die Entwicklung des Menschen notwendig:
Wir können die Wissenschaft als einen Flügel und die Religion als einen anderen Flügel betrachten. Der Vogel braucht zwei Flügel, um fliegen zu können, einer allein wäre zwecklos.
‘Abdu’l-Bahá, Ansprachen in Paris, S. 102
Nach den Lehren Bahá'u'lláhs steht wahre Religion durchaus im Einklang mit Vernunft und Wissenschaft. Wir finden den Schlüssel dazu, wenn wir bereit sind, bestimmte Aussagen der Heiligen Schriften nicht wörtlich zu nehmen, sondern symbolisch zu deuten.
Begriffe wie Paradies, Hölle, Wiederkunft, Jüngstes Gericht, Auferstehung u.a. gehören einer Bildersprache an, die in der Vergangenheit oft verwendet wurde, um geistige Wahrheiten verständlich zu machen. Der Gottesbegriff der Bahá'i-Religion besagt, dass Gott Urheber der Schöpfung ist, die weder Anfang noch Ende hat. Die Bahá'i glauben dabei auch an die Evolution, die allerdings nicht blindem Zufall folgt, sondern einem höheren Ziel entgegenstrebt. Gott ist jenseits der erschaffenen Welt und Seinem Wesen nach für uns nicht erkennbar.
In den Bahá’í-Schriften wird die Wissenschaft als „Entdecker der Wirklichkeiten“ (‘Abdu’l-Bahá, Promulgation of Universal Peace, S. 138) beschrieben, mit deren Hilfe die Menschheit sowohl materielle als auch geistige Vorgänge entdecken kann. Sie ist jene forschende Kraft, mit der die Wahrheiten der Welt entdeckt werden und mit der ein Mensch zur Erkenntnis und letztlich zu Gott finden kann. (vgl. ‘Abdu’l-Bahá, Promulgation of Universal Peace, S. 49)
Die Aufgabe der Religion ist die Förderung von Einheit und Liebe unter den Menschen. Da nach dem Bahá’í-Menschenbild der Mensch seiner Natur nach ein geistiges Wesen ist, sind es die geistigen Impulse der Religionsstifter, die den maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des menschlichen Charakters haben.
Die aus der Religion erwachsende Verantwortung und Verbindlichkeit sowie eine dienstbereite Hingabe an die Menschheit sind notwendig, wenn Wissenschaft für das Wohl des Menschen eingesetzt werden soll – hier finden Religion und Wissenschaft zusammen. Wissenschaft und Religion sind also nach dem Bahá’í-Verständnis zwei Zugänge zur selben Erkenntnis der Wahrheit. Weil Wahrheit aber absolut und ungeteilt ist, müssen letztlich auch die Ergebnisse dieser Erkenntniswege im Einklang miteinander stehen und dürfen sich nicht widersprechen. Im Gegenteil: sie ergänzen sich gegenseitig und sind beide gleichermaßen für die Entwicklung der Menschheit notwendig:
Religion und Wissenschaft sind die beiden Flügel, auf denen sich die menschliche Geisteskraft zur Höhe erheben und mit denen die menschliche Seele Fortschritte machen kann. Mit einem Flügel allein kann man unmöglich fliegen: Wenn jemand versuchen wollte, nur mit dem Flügel der Religion zu fliegen, so würde er rasch in den Sumpf des Aberglaubens stürzen, während er andererseits nur mit dem Flügel der Wissenschaft auch keinen Fortschritt machen, sondern in den hoffnungslosen Morast des Materialismus fallen würde.
'Abdu'l-Bahá