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Fremdenfeindlichkeit und Fanatismus dürfen nicht religiös begründet werden!
Am 9. März 2016 traf sich der Runde Tisch der Religionen in Deutschland zu seiner halbjährlichen Sitzung in Frankfurt/Main. Aus aktuellem Anlass verabschiedeten dabei die Mitglieder der größten in Deutschland vertretenen Religionsgemeinschaften eine gemeinsame Stellungnahme zur Flüchtlingsfrage. Darin bekräftigten sie unter anderem, dass sie „alles, was einem Willkommensklima in unseren Gemeinden und unserer Gesellschaft dient - in Begegnung, Verständigung und Kooperation aus tiefer Überzeugung unterstützen“. Als Vertreter der Bahá’í-Gemeinde in Deutschland war Dr. Nicola Towfigh dabei.
Die Bahá'í-Gemeinde Witten schließt sich der nachfolgenden Erklärung an.
Mittwoch, 16. März 2016
Erklärung des Runden Tisches der Religionen in Deutschland zur Flüchtlingsfrage
Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.
Levitikus / 3. Mose 19,33-34
Jesus spricht: „Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen oder nicht aufgenommen. ... Was ihr für meine geringsten Brüder und Schwestern getan habt oder nicht getan habt, das habt ihr mir getan oder nicht getan.“
Nach Matthäus 25,35.40
O ihr Menschen. Wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Der Angesehenste von euch bei Gott, das ist der Gottesfürchtigste von euch. Gott weiß Bescheid und hat Kenntnis von allem.
Koran Sure 49,13
Die Erde ist eine Heimat. Alle Menschen sind ihre Bürger.
Baha’u’llah
Sieh jeden Bittenden als deinen spirituellen Meister an.
Vimalakirti Sutra (Buddhismus)
Die Aussagen unserer heiligen Schriften im Blick auf Fremde, auf Bedürftige und auf das Verhältnis der verschiedenen Völker zueinander sind eindeutig. Sie entsprechen der zentralen Aussage der Menschenrechtserklärung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Für Menschen, die in den Traditionen ihrer Religionen leben, sind sie verbindlich. Fremdenfeindlichkeit und Fanatismus dürfen nicht religiös begründet werden!
Für die Religionsgemeinschaften ergeben sich in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise folgende Maßstäbe:
Bei allen notwendigen Maßnahmen ist die Würde jedes einzelnen Menschen und die Perspektive eines gelingenden Zusammenlebens national und international zu achten.
Das gilt für die Bekämpfung der Fluchtursachen ebenso wie für die Versorgung in den Flüchtlingslagern der verschiedenen Länder, für die Aufnahme in Deutschland und auch für unvermeidliche Rückführungen.
Wir setzen uns insbesondere ein für gemeinsame Aktionen der Religions-gemeinschaften im nationalen wie im internationalen Rahmen. Dabei hat die Freiheit in umfassendem Sinne für uns besonderes Gewicht, indem wir verfolgten und marginalisierten Gruppen zur Seite stehen wollen. Alles, was einem Willkommensklima in unseren Gemeinden und unserer Gesellschaft dient - in Begegnung, Verständigung und Kooperation -, unterstützen wir aus tiefer Überzeugung.
Für die Mitglieder des Runden Tisches der Religionen in Deutschland (RT/D) aus dem Zentralrat der Juden, der evangelischen Kirche, der römisch-katholischen Kirche, der orthodoxen Kirche, der Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), dem Islamrat, dem Zentralrat der Muslime, der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) und dem Nationalen Geistigen Rat der Baha'i.
gez. Dr. Franz Brendle
Geschäftsführer des Runden Tisches der Religionen Deutschland
Gemeinsam für eine Kultur ohne Vorurteile
Statement des Bahá'í Frauen Forums gegen Sexismus und Rassismus
– anlässlich der Jubiläumstagung 20 Jahre BFF – 21.-22. Oktober 2016 –
Das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen und Traditionen stellt unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen. Begreifen wir diese Situation als Chance! Sie kann der Beginn eines Prozesses sein, in dem alle - die Politik, gesellschaftliche Institutionen, aber auch jede_r Einzelne – gemeinsam daran arbeiten, eine neue Kultur zu entwickeln – eine Kultur der Vielfalt, in der letztlich alle Menschen unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft und Hautfarbe, Religion, Tradition und Überzeugung angstfrei leben und sich vorurteilsfrei, respektvoll, gleichberechtigt und gleichwürdig begegnen können.
Eine besonders problematische Herausforderung ist die Beseitigung von diskriminierenden Einstellungen und von Gewalt gegen Frauen und Mädchen.
Das wirkliche Leben leben
Das wirkliche Leben zu leben heißt:
Nie die Ursache des Kummers für irgendjemanden werden.
Gütig sein gegen alle Menschen und sie mit reinem Geiste lieben.
Erziehung - Dienst an der Menschheit
Ein Beitrag aus Bahá‘í-Sicht
Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.
Immanuel Kant
Wenn Erziehung und natürliche Neigungen im gleichen Verhältnis stehen, bilden sie den höheren Menschen.
Kung-fu-tse
Ohne fortschreitende Erziehung lässt sich keine Vollkommenheit erlangen.
‘Abdu‘l -Bahá
Gegenwärtig gibt es in den meisten Ländern die allgemeine Schulpflicht, und staatliche Erziehungssysteme sind weitverbreitet und sorgen für eine materielle Erziehung. Die richtige Erziehung der Kinder ist von lebenswichtiger Bedeutung für den Fortschritt der Menschheit, aber Kernstück und wichtigste Grundlage aller Erziehung ist die geistige und moralische Ausbildung. Die Bahá‘i-Lehren stellen zwar kein abgeschlossenes und ausführliches Erziehungssystem dar, sondern bieten nur bestimmte grundlegende Prinzipien an und heben eine Reihe von Erziehungsidealen hervor, welche die künftigen Bahá‘i-Erziehungswissenschaftler in ihrem Bemühen leiten sollten.
Hauptzweck der Bahá‘i-Erziehung ist, die Kinder zu befähigen, rechtschaffene Menschen zu werden, die sich in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen. Bahá'u'lláh betrachtet Erziehung als einen der grundlegendsten Faktoren wahrer Kultur.
Erziehungswissenschaft und Religion beruhen beide auf der Annahme, daß es möglich ist, die menschliche Natur zu verändern. Es erfordert nur geringes Nachforschen, um zu zeigen, daß das Einzige, was wir mit Sicherheit über ein Lebewesen sagen können, darin besteht, daß es tatsächlich nicht ohne Wandel sein kann. Denn ohne Wandel kann es kein Leben geben.
Was ist Erziehung?
Erziehung - das ist Unterweisung und Führung der Menschen und die Entwicklung und Schulung der ihnen innewohnenden Fähigkeiten - war von Anbeginn der Welt das höchste Ziel aller Offenbarer, und in den Bahá'i-Lehren sind die grundlegende Bedeutung und die unbegrenzten Möglichkeiten der Erziehung klar und deutlich niedergelegt. Der Lehrer ist die mächtigste Triebkraft der Zivilisation, und seine Tätigkeit ist die höchste, die der Mensch zu erstreben vermag. Die Erziehung beginnt im Mutterleib und ist so endlos wie das Leben des Menschen. Sie ist eine dauernde Notwendigkeit für richtiges Leben und die Grundlage der Wohlfahrt sowohl für den einzelnen wie für die Gesamtheit. Wenn die richtige Erziehung Allgemeingut wird, dann wird die Menschheit verwandelt und die Welt friedlicher werden. Gegenwärtig gehört ein wirklich gut erzogener Mensch zu den seltensten Erscheinungen, denn nahezu jedermann hat Vorurteile, verkehrte Ideale, irrtümliche Vorstellungen und schlechte Gewohnheiten, die ihm von Kind auf anerzogen sind. Wie wenige werden von früher Kindheit an gelehrt...Dienst an der Menschheit als das höchste Lebensziel aufzufassen und die Kräfte zum Besten des Allgemeinwohls zu entwickeln. Doch dies sind sicherlich die wesentlichen Bestandteile einer guten Erziehung. 1)
Bildung allein ist nicht genug, aber sie ist sehr wichtig, denn sie ist z.B. die beste Investition in die wirtschaftliche Entwicklung der Menschheit. Damit aber die Erziehung hinlänglich und fruchtbar ist, muß sie umfassend sein, nicht nur die physische und intellektuelle Seite des Menschen berücksichtigen, sondern auch seine geistigen und ethischen Aspekte. 2)
Erziehung bedeutet also mehr als die Vermittlung einer bestimmten Menge an Wissen oder einer Reihe von Fertigkeiten, sie muss die Verstandes- und Urteilskraft schulen und dem Lernenden unverzichtbar sittliche Werte einprägen.
Dieserart umfassende Erziehung ist es, die den Menschen nicht nur in die Lage versetzt wirtschaftlichen Reichtum zu schaffen, sondern auch die Motivation schafft, diesen Reichtum als Beitrag für die Gesellschaft gerecht zu verteilen und so der weltweiten Armut entgegen zu wirken.3)
Die drei Arten der Erziehung
‘Abdu‘l-Bahá spricht von drei Arten der Erziehung: der körperlichen, der menschlichen und der geistigen Erziehung. Erstere befasst sich mit Fortschritt und Entwicklung des Körpers, indem sie materielle Erleichterungen, Behaglichkeit und Entspannung sicherstellt. Sie gilt in gleicher Weise für Mensch und Tier. Die menschliche Erziehung bedeutet Kultur und Fortschritt, nämlich Regierung, Verwaltung, Wohlfahrtseinrichtungen, Verkehr, Handel und Gewerbe, Künste, Natur- und Geisteswissenschaften, grosse Entdeckungen und Erfindungen physikalischer Gesetze. Diese Äusserungen des Menschengeistes machen den Unterschied zur Tierwelt deutlich. „Künste, Gewerbe und Wissenschaften erhöhen die Welt des Seins und tragen zu ihrer Vervollkommnung bei“, schreibt Bahá‘u‘lláh. „Wissen gleicht den Flügeln im Leben des Menschen, es ist wie eine Leiter für seinen Aufstieg; es ist jedermanns Pflicht Wissen zu erwerben. Jedoch sollten solche Wissenschaften studiert werden, die den Völkern auf Erden nützen, nicht solche, die mit Worten beginnen und mit Worten enden. 4)
Wissen ist jedoch nur dann lobenswert, wenn es mit ethischem Verhalten und tugendhaftem Charakter verbunden ist; andernfalls ist es ein tödliches Gift, eine schreckliche Gefahr. 5)
Der Mensch ist der höchste Talisman. Der Mangel an geeigneter Erziehung hat ihn jedoch dessen beraubt, was er seinem Wesen nach besitzt...
Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschätzbarem Wert. Nur die Erziehung kann bewirken, dass es seine Schätze enthüllt und die Menschheit daraus Nutzen zu ziehen vermag.
Bahá‘u‘lláh
Durch die geistige Erziehung erwirbt der Mensch geistige Vollkommenheiten. Sie ist die wahre Erziehung. Darum muss der Lehrer zugleich auch Arzt sein, das heisst, er muss, indem er das Kind unterrichtet, seine Fehler heilen. Er muss es lehren und es gleichzeitig anleiten, seine geistigen Anlagen auszubilden.
Angeborene Unterschiede in der Natur
Aus Bahá‘i-Sicht ist die Natur des Kindes nicht wie Wachs, das nach dem Willen des Lehrers unbekümmert um seine eigene Form gestaltet werden kann. Jedes einzelne der Kinder hat seine eigene Wesensart und Eigentümlichkeit, die nur in einer besonderen Weise entwickelt werden kann, und dieser Weg ist in jedem Fall einzig in seiner Art. Nicht zwei Menschen haben genau dieselben Fähigkeiten und Talente, und der wahre Erzieher wird nie versuchen, zwei Naturen in eine und dieselbe Form zu zwingen. In der Tat, er wird nie den Versuch machen, irgendeine Natur in irgendeine Form zu pressen, sondern er wird vielmehr die sich entwickelnden Kräfte des jungen Wesens ehrfurchtsvoll pflegen, sie ermutigen, beschützen und ihnen die nötige Nahrung und Hilfe zukommen lassen.
Seine Arbeit gleicht der eines Gärtners, der verschiedene Pflanzen pflegt. Eine Pflanze liebt den strahlenden Sonnenschein, die andere den kühlen Schatten; die eine liebt das Bachufer, die andere die dürre Bergesspitze; die eine gedeiht am besten auf sandigem Boden, die andere in fettem Lehm. Jede muß die ihrer Natur angemessene Pflege haben, andernfalls kann ihre Vollendung nicht völlig zum Ausdruck kommen.
Gibt es etwas Segensreicheres für den Menschen, als dass er zur Quelle der Erziehung, des Fortschritts, der Wohlfahrt und der Ehre für seine Mitmenschen wird? Die Besten sind jene, die dem Volke dienen...
‘Abdu‘l -Bahá
Die Offenbarer bestätigen, daß die Erziehung eine große Wirkung auf die menschliche Rasse ausübt“, schreibt ‘Abdu‘l-Bahá,“ aber sie erklären, daß Geist und Begriffsvermögen der Menschen ursprünglich verschieden sind. Wir sehen, daß gewisse Kinder desselben Alters, derselben Heimat und derselben Rasse, ja derselben Familie, unter der Aufsicht desselben Lehrers im Geist und in der Fassungskraft verschieden sind....Das heißt, die Erziehung verändert das Wesen der Natur des menschlichen Edelsteins nicht, aber sie bringt eine wunderbare Wirkung hervor. Durch diese gestaltende Kraft werden alle in der menschlichen Wirklichkeit verborgenen Tugenden und Fähigkeiten ans Licht gebracht.« 6)
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Antoine de Saint-Exupéry
Lasst den Lehrer ein Arzt des kindlichen Charakters sein, so wird er die geistigen Leiden der Kinder der Menschheit heilen.
‘Abdu‘l -Bahá
Sittliche Erziehung setzt den sittlichen Erzieher voraus.
Pestalozzi
Das Wesen des Kindes
„Das Kind ist ein Geschöpf, das entstanden ist aus Liebe, schreibt Dr. Fari Khabirpour, Diplom-Psychologe und Psychotherapeut : «Mit Liebe ist hier nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen gemeint, sondern die schöpferische Kraft, die Entstehung und Wachstum ermöglicht. Doch selbst wenn die beiden Elternteile sich nicht geliebt haben, ist es die Liebe der Mutter, die das Kind in sich trägt, welche dem Kind die Kraft gibt zu überleben. Doch es ist nicht nur ein Körper, der geschaffen wird, sondern viel mehr. Die Kraft und der Willensakt, die das Kind aufbringt, um zu wachsen, kommen nicht nur aus seinen eignen Körperzellen heraus. Die Nahrung der Mutter allein genügt nicht, um aus dem Fötus einen voll entwickelten Menschen zu machen. Es steckt eine andere Kraft dahin t er, eine unsichtbare Macht, die bestimmt, dass aus dem »Liebesakt » zweier Menschen ein neuer Mensch entsteht. Diese Kraft ist es, die, obwohl unsichtbar, dem Menschen das Leben ermöglicht. Sie schafft Hoffnung, Freude, Trauer, Angst, Liebe und andere Realitäten, deren Wirklichkeit mit den biologischen Sinnen nicht wahrnehmbar und greifbar, jedoch messbar ist.
Diese unsichtbare Dimension ist das geistige Wesen des Kindes, das jedem Menschen seine Daseinsberechtigung als gleichwertiges Mitglied der menschlichen Gemeinschaft gibt. Es verhilft, von dem Körper, der Hautfarbe, der Nationalität oder der Religion des Menschen abzusehen und das unsichtbare in ihm zu betrachten, das, wovon Antoine de Saint-Exupéry sagt : « Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar ».
Dieses Wesentliche ist es, was jeder hat, ob arm oder reich, krank oder gesund, brav oder frech, glücklich oder traurig. Darin ist die Liebe des Menschen verborgen, seine Kraft und seine Verbindung zu seinem Schöpfer. Dieses « unsichtbare Wesentliche » ist es, was jeden Menschen liebenswert und jedes Leben lebenswert macht. 7)
„Das Bahá‘i-Erziehungskonzept basiert darauf, dass der Mensch seinem Wesen nach ein geistiges Geschöpf ist, schreibt Martine Castagna-Schoos, Dipl. Pädagogin – und Dipl. Psychologin. „Unser jetziges Erziehungssystem fusst eher auf reiner Bildungsvermittlung und weniger auf dem Verständnis einer gegenseitig verbundenen und abhängigen Welt. Diese Einsicht sollte sowohl den Kindern als auch den Erwachsenen näher gebracht werden. Konsequenzen für die Pädagogik ergeben sich daraus, dass Bildungserwerb nicht länger nur ein Mittel zur finanziellen Bereicherung, sondern vielmehr als Beitrag zur Entwicklung des Individuums und zur Förderung einer gerechten Gesellschaft angesehen wird. Wenn Erziehung und Bildung Hand in Hand gehen mit wissenschaftlicher Erkenntnis, technischem „know-how“ und dazu noch durch moralische Kräfte unterstützt werden, dann werden sie Früchte tragen.
Individuelle Fähigkeiten und kreative Kräfte werden am besten gefördert durch den Dienst an der Menschheit und den Einsatz für den Frieden. Dies sollte jedem Erzieher stets gegenwärtig sein. Jedoch reicht das reine Wissen um geistige Prinzipien nicht aus, um individuelles Wachstum und gesellschaftlichen Wandel zu garantieren, denn letzteres erfordert Übung und das Einsetzen von Willenskraft. Erzieher sollten die feste Überzeugung haben, dass nicht das Streben nach Geld und Macht vorrangig ist, sondern menschliche Würde, Selbstrespekt, noble Vorsätze, Integrität und moralische Qualitäten.“
„Was wir brauchen, ist eine Entwicklungserziehung im wahrsten Sinne desWortes, die sowohl auf die menschliche als auch auf die soziale und wirtschaft-liche Entwicklung ausgerichtet ist. Als Pädagoge hat man zwei Aufgaben: neben reiner Wissensvermittlung, die auf dem letzten Stand der Wissenschaft basiert, muss man den Schülern moralisch-geistiges Vorbild sein, damit sie ihre Persönlichkeit entwickeln und festigen können. Geistige Tugenden wie:
Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Vertrauenswürdigkeit sollten vorgelebt werden; dassind die vordringlichsten Aufgaben eines jeden wahren Pädagogen. DasErreichen dieses Zieles erfordert Nachdenken, Weiterdenken und Umdenken. Soverstanden ist Pädagogik ein unersetzlicher Dienst an der Menschheit“.8)
Schulschwierigkeiten, warum?
„Stellt man fest, dass Kinder regelmässig Mängel in bestimmten schulischen Fächern haben, so darf das nicht als Mangel an Intelligenz oder Begabung gedeutet werden“, schreibt Dr.Fari Khabirpour. „Schulischer Misserfolg bedeutet lediglich, dass das Kind mit der Art, wie in der Schule Wissen vermittelt wird, nicht zurecht kommt. Dies kann an der Schulatmosphäre oder am System liegen, das hauptsächlich auf Lohn und Strafe aufbaut. Viele Kinder kommen mit der Bewertung, die in der Schule erfolgt, nicht zurecht. Andere brauchen mehr Zeit. Wiederum andere können nicht in grossen Gruppen lernen. Unser konventionelles Schulsystem erlaubt aber keine besonderen Lerngewohnheiten. Wer mit der Schule nicht zurechtkommt, kommt daher auf die Sonderschule. Wer aber auf der Sonderschule ist, gilt als minder begabt und weniger intelligent, schnell wird er zum Sonderling in allen Lebensbereichen.
Jedes Kind könnte das Licht der Welt sein – und ebenfalls ihre Finsternis.
‘Abdu‘l -Bahá
Liebe und Freundlichkeit haben weit grösseren Einfluss auf die Veredelung des menschlichen Charakters als Bestrafung.
Shoghi Effendi
So gibt es Kinder, die besser visuell lernen, d.h. sie können über das Auge Informationen aufnehmen und verarbeiten. Diese Kinder müssen alles, was sie lernen sollen, entweder in Form von Schrift, Bildern, Theater oder anderen Darstellungen sehen. Andere Kinder lernen am besten auditiv. Sie nehmen Lernstoff über das Gehör auf. Einen Text zu lesen, ohne ihn zu hören, hilft ihnen nicht, um ihn zu verstehen. Diesen Kindern muss man den Lernstoff erzählen; mit ihnen muss viel gesprochen werden. Wiederum andere Kinder lernen über das Gefühl. Sie können Lernstoff nur dann aufnehmen, wenn die Atmosphäre stimmt. Haben sie kein gutes Gefühl oder sind sie in schlechter Stimmung, ist es völlig sinnlos, sich zu bemühen, diesen Kindern etwas beizubringen. Sie sind dann völlig blockiert....All diesen verschiedenen Lernstilen wird das konventionelle Schulsystem nicht gerecht. Kann man da dem Kind einen Vorwurf machen? 9)
„Lernen hängt grösstenteils vom Wunsch zu lernen ab“, schreibt Martine Castagna-Schoos. „Deshalb ist es wichtig, dass der Lehrer fähig ist, seinen Stoff interessant zu gestalten. Er muss bei allen Kindern ein echtes Interesse hervorrufen, wenn er möchte, dass sie Fortschritte machen. Dies klappt nur, wenn er selber von seiner Aufgabe begeistert ist. Viele Erwachsene leiden unter Fehlentwicklungen als Ergebnis ihrer ersten Erfahrungen in der Schule, weil sie damals von ihren Lehrern das Gefühl vermittelt bekamen, Versager zu sein. Wenn einem Schüler gesagt wird, dass er weniger intelligent sei als seine Mitschüler, so bedeutet das eine grosse Beeinträchtigung und ein Hindernis für seinen Fortschritt. Er muss ermutigt werden voranzuschreiten. Die Verantwortung liegt aber nicht nur allein beim Lehrer, auch die Kinder selbst müssen sich aufs Äusserste bemühen gut in der Schule zu lernen.“ 10)
Das Kind braucht Ermutigung so nötig, wie die Pflanze das Wasser.
Erik Blumenthal
Strafen können zum Schweigen bringen, aber sie können nicht überzeugen.
Samuel Johnson
Mut statt Angst
Die meisten Schwierigkeiten beruhen auf irgendeiner Form von Entmutigung. Deshalb ist es die Pflicht der Eltern und Lehrer das Selbstvertrauen des Kindes zu stärken, denn das Bedürfnis nach Ermutigung und Anerkennung ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Gelobt werden sollen die lobenswerten Versuche und Taten des Kindes, nicht aber das Kind selbst. Solche Art der Ermutigung ist nötig für die Entwicklung des Charakters. Beschimpfungen, Drohungen und körperliche Bestrafung sind hingegen kein Mittel der Erziehung, da sie den Charakter des Kindes völlig verderben.
„Kinder lernen aus Strafen, dass Macht gleich Recht ist“, schreibt Martine Castagna-Schoos. „Wenngleich Bestrafung erreicht, dass ein Kind im Zaume gehalten wird, so trägt dies nicht dazu bei, dass es lernt sich selbst zu beherrschen. Jedes Kind reagiert zwar anders auf Bestrafung, abhängig von seiner Persönlichkeit und der jeweiligen Erzieher-Kind-Beziehung. Dennoch nehmen es die meisten Kinder ihren Eltern übel, wenn sie bestraft werden, und je mehr sie ihre Eltern lieben, desto mehr fühlen sie sich beleidigt und gedemütigt. Angst vor Strafe kann zwar unrechtes Tun verhindern, es kann aber nicht bewirken, dass das Rechte getan wird.“ 11)
„Eine ermutigende Erziehung vermittelt Mut statt Angst“, schreibt Dr. Fari Khabirpour. „Hier zeigen Erzieher folgende Einstellung:‘ Ich glaube daran, dass du es schaffen wirst‘ oder ‚Ich freue mich, dass du dies so gut gemacht hast.‘. Sie ermutigen und loben das Kind aus einer richtigen Überzeugung heraus. Ist diese Ermutigung ehrlich, so ist sie ein spontanes Gefühl des Vertrauens oder des Lobes. Sie wird nicht geplant oder benutzt, um dem Kind ein gutes Gefühl zu geben. Wird sie jedoch als Strategie verwendet, spürt das Kind es sofort und wird dadurch eher entmutigt.“ 12)
Charakterbildung
Das allerwichtigste in der Erziehung ist die Charakterbildung. Hierbei wirkt das Vorbild mehr als die Vorschrift. Das Leben und der Charakter der Eltern und der Lehrer, sowie die Umwelt, sind Faktoren von allergrösster Wichtigkeit. Schulen müssen gleichzeitig Ausbildungszentren für Verhalten und Betragen sein. Wenn ein Kind dazu erzogen wird, höflich, hilfsbereit, freundlich, vertrauenswürdig zu sein, kann es dabei helfen, Vorurteile abzubauen und damit die Welt friedlicher gestalten. Kinder setzen sich z.B. leichter über Klassen- oder Rassenvorurteile hinweg und helfen so den Erwachsenen Vorurteile abzubauen.
Eltern und Erzieher suchen oft nach Richtlinien, die es ihnen erlauben, die geistigen Anlagen der Kinder zu erschliessen. Die Bahá‘i treten weltweit dafür ein, dass Lehrpläne zur Förderung der ethischen Erziehung entwickelt und in alle Schulprogramme aufgenommen werden. Eine gewisse Disziplin, körperlich, sittlich oder geistig, ist unumgänglich und keine Ausbildung kann als vollständig und fruchtbar angesehen werden, wenn sie all dies nicht beachtet. Geschähe dies, so würde der Respekt zwischen Lehrern und Schülern ein freundlicheres Klima in den Klassenzimmern schaffen. Dabei könnten ganz einfache Regeln am Anfang stehen, z.B., dass redliches Verhalten, Vertrauenswürdigkeit und Ehrlichkeit die Grundlage sind für Beständigkeit und Fortschritt, dass alles menschliche Streben von Uneigennützigkeit geleitet sein sollte, so dass Aufrichtigkeit und Achtung für die Rechte der anderen wesentlich das Handeln eines jeden Menschen bestimmen, und dass der Dienst an der Menschheit die wahre Quelle von Glück, Ehre und Sinn im Leben ist. 13 )
Der Vorschlag, besonders für sittliche Werte in der Erziehung einzutreten, mag umstritten sein in einer Zeit, da alles beliebig ist. Aber es bestehen doch Werte, die seit jeher von geistig orientierten Gemeinschaften und Systemen gelehrt werden und das Grundgerüst für sittliche Entwicklung bilden. Dazu gehört die Religion – darunter verstehen wir Bahá‘i den Wesenskern, die Wirklichkeit der Religion, nicht die Dogmen und blinden Abbilder, die sie allmählich überkrustet haben. Bei diesem Religionsverständnis verwundert es kaum, dass ‘Abdu‘l-Bahá den Rat erteilt, die Kinder zuerst in den geistigen Werten der Religion zu erziehen. Er setzt hinzu: „ aber dies muss auf eine Weise geschehen, dass den Kindern weder durch blinden Fanatismus noch durch Frömmelei geschadet wird.“ 14)
„Das Kind ist ein Wesen, das nach wie vor mit seinem Schöpfer verbunden ist“, schreibt Dr. Fari Khabirpour. „Diese Verbindung ist jedoch nicht verkrampft und beschränkend, sondern eine lebensspendende und erwärmende Beziehung. Es bietet sich an, den Schöpfer mit der Sonne zu vergleichen. Sie ist eine unabhängige Energiequelle, die zu jeder Zeit Licht und Wärme spendet. Obwohl der Mensch das genaue Wesen der Sonne nicht kennt, vertraut er immer darauf, dass sie nie verschwinden wird, denn Leben und Wachstum auf der Erde sind ohne Verbindung zu dieser Quelle unmöglich. Ein natürlicher Gottesbegriff lässt sich von diesem Beispiel ableiten... Wenn Eltern sich von dem klassischen Gottesbegriff befreien können, erlauben sie damit auch ihrem Kind, das gesunde und positive Verhältnis zu seinem Gott zu bewahren...“ 15)
Allem traditionellem Denken entgegengesetzt, raten die Bahá‘i-Schriften den Eltern, im Fall finanzieller Schwierigkeiten, den Mädchen den Vortritt bei der Erziehung und Bildung zu geben. Dies ist besonders wichtig für arme Länder, in denen vorwiegend Frauen Analphabeten sind. „ Frauen, um jetzt einmal zu verallgemeinern“, schreibt Martine Castagna-Schoos, „besitzen in der Regel, und zwar in einem entwickelteren Grad als Männer, einige Eigenschaften, die in Zukunft in der Welt vermehrt benötigt werden: grössere Sensibilität, Intuition, Hingabe- und Aufopferungsfähigkeit... Wenn die zukünftige Welt von Friede, Solidarität und Liebe und nicht mehr von Krieg, Wettbewerb und Egoismus geprägt sein soll, dann müssen die Frauen eine führende Rolle in der Vorbereitung dieser Zukunft spielen. Deshalb ist ihre Erziehung so wichtig. Ein weiterer Grund dafür, dass Frauen eine gute Erziehung geniessen sollen, besteht darin, dass eine gebildete Mutter ihre Kinder besser erziehen kann, denn der Volksmund sagt schon: „Die Hand, die die Wiege bewegt, bewegt die Welt “. 16)
Quellennachweis:
1) ‘Abdu‘l-Bahá, vergl. Esslem.S.97
2) vergl. Sh.Effendi, 9.Juli 1931, Brief an einen Gläubigen
3) vergl. BIC, Wendezeit für die Nationen, S.21
4) Bahá‘u‘lláh, Brief S.W.S.38-39
5) ‘Abdu‘l-Bahá, Ziele der Kindererziehung, S.58
6) ‘Abdu'l-Bahá, TAB III, p.577
7+9+12+15) Dr.Fari Khabirpour, Nadi Hofman, Halt mich fest und lass mich los, Horizonte-Verlag, Stuttgart, 1998
8+10+11+16) Martine Castagna-Schoos, Erziehung aus Sicht des Bahá‘i- Glaubens, auf - gezeigt am Modell derAnis-Zunuzi-Schule auf Haiti, Diplomarbeit zurErlangung des Grades eines Diplom Pädagogen an der Pädagogischen Fakultät derRheinisch Friederich Wilhelm Universität, Bonn, 1989
13) vergl. BIC, Wendezeit fürdie Nationen, S.28
14) ‘Abdu‘l-Bahá, Ziele derKindererziehung, S.12
Quelle: Zeit für Geist 26.2.2002
Herausgeber:” Baha’i-Arbeitsgruppe “Gedanken für eine bessere Welt ”,a.s.b.l
Ziele der Zeitung:
Völkerverständigung und Weltbürgerethos; Brücken bauen zu andern Glaubens- und Denkrichtungen; Impulse geben zu fried-
licher Zusammenarbeit mit allen andern Gruppen deren Interessen in die gleiche Richtung gehen; informieren über Vorstellung en,
Ziele, Pläne und Früchte der Baha’i - Religion, hier und in der Welt, über andere Religionen und den Wert der Religion schlechthin;
Dialog - und Begegnungsmöglichkeiten schaffen.
Verantwortlich für die veröffentlichten Artikel: die Autoren. Für Text- und Artikelauswahl : die Redaktion.
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