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BWNS - Übersetzung des Artikels „Rethinking religion in Germany“
BERLIN, 13. April 2017, Bahá’í World News Service (BWNS) – Mit der erhöhten Bewegung von geflüchteten Menschen aus dem Nahen Osten und Nordafrika in den letzten Jahren nimmt man eine Veränderung der kulturellen und religiösen Landschaft in Deutschland wahr. Diese Verschiebungen regen tiefgreifende Reflexionsprozesse über grundlegende Themen an.
„Meinungsbildner in Deutschland stellen sich fundamentale Fragen, besonders über Religion und deren Ausdruck im öffentlichen Raum“, erklärt Saba Detweiler, eine Vertreterin der Bahá’í-Gemeinde in Deutschland.
Diese Fragen sind nicht nur auf Deutschland begrenzt. Die jahrhundertalte Annahme, dass Religion sich langsam aus dem öffentlichen Raum drängen lassen würde und damit reine Privatsache sei, wird gerade in Europa auf den Kopf gestellt. „Die Menschen sehen, dass Religion einen wesentlichen Teil des kollektiven Lebens der Menschheit ausmacht. Sie verschwindet nicht. Aus diesem Grund ist es wichtig, das Wesen und den Beitrag von Religion besser zu verstehen sowie in einen Dialog über ihre positiven Auswirkungen auf die Gesellschaft einzutreten“, erklärt Frau Detweiler.
Dennoch stellte die Bahá’í-Gemeinde auch fest, dass klassische Räume, in welchen über Religion gesprochen wird – in erster Linie interreligiöse Foren – oft nicht nach den derzeitigen aufkeimenden Fragen in Europa und andernorts zu diesem Thema ausgerichtet sind. „Es scheint, als ob das Gespräch über den interreligiösen Dialog hinaus gehen sollte, jenseits von Theologie und Ritualen, um einen reichhaltigeren Diskurs über den Beitrag von Religion zur Besserung der Gesellschaft und zum Gemeinwohl zu ermöglichen“, sagt Frau Detweiler.
Eine der mehr herausfordernden Fragen ist, ob Religion als etwas Übergeordnetes gesehen werden kann, anstatt als eine bloße Aneinanderreihung unterschiedlicher Gemeinschaften und Konfessionen, die miteinander ringen. „Diesen Punkt möchten wir gerne weiter erforschen – die Idee, dass Religion als eine gesellschaftsbildende Kraft und als ein Wissenssystem, das zusammen mit der Wissenschaft den Fortschritt der Zivilisation voranbringt“, fährt sie fort.
Einer der Gründe, weswegen die deutsche Gesellschaft mit den Fragen um Religion ringt, erklärt Ingo Hofmann, Sprecher der Bahá’í-Gemeinde in Deutschland, ist, dass Deutsche derzeit einer Ausübung von Religion begegnen, die ihnen fremd ist. Dies hat dazu geführt, dass sie sich nun über ihre eigenen religiösen Normen und ihren eigenen Glauben bewusster sind, sogar unter denen, die sich sonst normalerweise nicht so stark formal mit Religion assoziieren.
Natürlicherweise hat dieser Prozess Neugierde geweckt und den Wunsch, gegenseitiges Verständnis aufzubauen. Ebenso sind aber auch Ängste und Xenophobie aufgekommen. Mit der zunehmenden Dynamik des Diskurses um Migration und Religion hat die Bahá’í-Gemeinde in Deutschland angefangen, Seite an Seite mit ihren Mitbürgern und diversen Organisationen darüber zu lernen, wie man einen konstruktiven Dialog zu den aufkommenden Fragen in einer sich veränderten Diskurslandschaft im Land etabliert.
Mit der Absicht, einen bedeutsamen Beitrag zu leisten, hat die Bahá’í-Gemeinde im vergangenen Jahr eine Gesprächsreihe zur Frage nach der gesellschaftsbildenden Kraft von Religion veranstaltet. Diese gipfelte in einer Konferenz am 24. März mit dem Titel „Religionspluralismus weiter gedacht“, zu welcher ca. 60 Teilnehmer aus Regierung, Zivilgesellschaft, Medien und Religionsgemeinschaften zusammenkamen.
Aydan Özoguz, Staatsministerin und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, war Schirmherrin der Konferenz. Ausgerichtet wurde sie von der Bahá’í-Gemeinde in Deutschland und der Bildungsstätte Anne Frank, einer Organisation für Menschenrechtsbildung und die Förderung des Dialogs zwischen verschiedenen Gruppen.
In ihrem Grußwort sprach Frau Özoguz darüber, dass allen Religionen gemeinsames Bemühen um Frieden und Harmonie zugrunde liegt. „Religion formt das Vertrauen in unsere Mitmenschen und die Möglichkeit, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen“, sagte sie.
Sie hob auch die hilfsbereite und mitfühlende Reaktion vieler Deutscher auf die Ankunft von Flüchtlingen im Sommer 2015 als Beispiel hervor, wie der Glaube Taten und den Dienst am Nächsten beflügele. „Sich dem Wohlbefinden unserer Mitmenschen zu verschreiben, ist wesentlich, um Solidarität und ein starkes Gefühl von Gemeinschaft aufzubauen.“
Özoguz zitierte in ihrer Ansprache auch einen Ausschnitt aus den Schriften Bahá’u’lláhs als Beispiel für die Aufforderung von Religion an die Menschheit, sich an hohe Ideale zu halten: „Verkehret mit allen Religionen in Herzlichkeit und Eintracht, auf dass sie Gottes süße Düfte von euch einatmen. Hütet euch, dass euch im Umgang mit den Menschen nicht die Hitze törichter Unwissenheit übermanne.“
Saba Detweiler sprach im Namen der Bahá’í-Gemeinde in Deutschland vom „Kern aller Religionen, Menschen in Frieden zusammen zu bringen. Dies ist eine Facette wahrer Religion.“
Die Beziehung verschiedener Gruppen und sogar zwischen Nachbarn sei oft oberflächlich. Eine radikale Neukonzeptionierung zwischenmenschlicher Beziehungen, in denen sich Menschen als Teil einer Familie ansehen und sich mit Respekt, Mitgefühl und Verständnis betrachten, sei vonnöten.
Kernstück der Konferenz war die Idee, dass die Rolle von Religion in der Gesellschaft tiefgreifender untersucht und besser verstanden werden muss, da Religion für die Mehrheit der Menschheit eine bedeutende Rolle spielt. Die Botschaft war jedoch keinesfalls nur eine Aufforderung, Religion als konstruktive Kraft in der Gesellschaft anzusehen. Sie sei auch eine Herausforderung: Wenn Religion zu sozialem Miteinander und stärkerer Freundschaft zwischen Menschen führen soll, müssen sich religiöse Führer und Gemeinden gründlich mit solchen Aspekten des Glaubens und seiner Ausübung beschäftigen, die spalten und Vorurteile schüren. Wenn die Rolle der Religion dabei eine immer stärkere positive Kraft für Harmonie in der Gesellschaft werden soll, müssen soziale Einrichtungen ihr Verhältnis zu Religion neu gestalten und viele der hinderlichen Annahmen loslassen, die der Religion wenig bis keinen Spielraum lassen, um in der Öffentlichkeit eine Rolle zu spielen.
Auch andere wichtige Themen wurden im Verlauf des Tages diskutiert. So sprach Daniel Bax, Redakteur der deutschen Tageszeitung, die Taz von der Wichtigkeit des Dialogs, welcher die Wahrnehmung des Zusammenpralls zwischen Identität und Glaube zerstreue.
„Keiner streitet ab, dass Religion einen Einfluss auf Kultur hat”, sagte er. “Heutzutage wird dieser Begriff des Einflusses missbraucht. Kultur wird fälschlich als etwas Statisches und auf bestimmte Merkmale Beschränktes angesehen.“
Bax stellte diese Sicht von Kultur und ihr Verhältnis zu Identität in Frage. Die Identität von Menschen habe verschiedene Dimensionen.
„Dieses wahrgenommene Aufeinanderprallen verschiedener Meinungen, Kulturen etc. muss durch Dialog überwunden werden, um zu einem Verständnis darüber zu gelangen, wie wir in unserer Vielfalt harmonisch zusammenleben können. Menschen werden nicht nur durch ihre Religionszugehörigkeit, sondern durch viele weitere Merkmale, Qualitäten und Talente, die zum Gemeinwohl beitragen können, definiert. Das Konzept des ‚anderen‘ muss in Frage gestellt werden. Es kann nicht sein, dass ein Mensch, allein weil er oder sie eine andere Religion hat, zum ‚anderen‘ wird.“
Eine solche Einstellung könne zu der Vorstellung führen, dass „andere” „Feinde” sind.
Prof. Heiner Bielefeldt, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit und Professor an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, trug ebenfalls zur Konferenz bei.
„Wir brauchen Räume, um uns immer wieder auf Religions- und Glaubensfreiheit zu besinnen und unser Verständnis zu erweitern. Dies erreicht man nicht, indem man zunächst alle in Gruppen aufteilt und dann versucht, Brücken zwischen ihnen zu schlagen, sondern indem man offene Strukturen schafft, in denen durchaus Unterschiede auftauchen, die jedoch aufgrund eines Themas von gemeinsamem Interesse entweder verschwinden, bereichern oder mindestens lösbar sind.“
Auf die Veranstaltung zurückblickend sagte Frau Detweiler:
„Unser Ziel war es, mit dieser Konferenz einen Raum für gesellschaftliche Akteure aus Wissenschaft, Medien, Zivilgesellschaft und Religionsgemeinschaften zu schaffen, um die Rolle von Religion in der Öffentlichkeit und ihre Beziehung zu gesellschaftlicher Kohäsion und Entwicklung in einer heterogenen Gesellschaft zu betrachten.“ Die Konferenz stehe für einen Schritt in einem kontinuierlichen Dialog, der in den nächsten Monaten und Jahren an Schwungkraft dazugewinnen müsse.
Auch in der Zukunft wollen die Bahá’í-Gemeinde in Deutschland und die Bildungsstätte Anne Frank zur Förderung dieses wichtigen Dialogs in der Gesellschaft zusammenarbeiten.
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