Während die Bahá’í-Gemeinde danach strebt, im Denken und Handeln zur Besserung der Welt beizutragen, verlangen die widrigen Bedingungen, unter denen viele Bevölkerungsgruppen leiden, zunehmend ihre Aufmerksamkeit.
Das Wohlergehen jedes einzelnen Segments der Menschheit ist mit dem Wohlergehen des Ganzen untrennbar verbunden. Die Menschheit als ganze leidet, wenn eine Gruppe nur an ihr eigenes Wohlergehen denkt, losgelöst von dem ihrer Nachbarn, oder wenn sie nach wirtschaftlichem Gewinn strebt ohne Rücksicht auf Folgen für die Natur, die Lebensgrundlage aller. Bedeutender sozialer Fortschritt wird so hartnäckig blockiert:
Immer wieder setzen sich Habgier und Eigennutz auf Kosten des Allgemeinwohls durch. Hemmungslos wird exzessiver Reichtum zusammengerafft, und die so geschaffene Instabilität wird dadurch verstärkt, dass Einkommen und Chancen innerhalb wie zwischen den Nationen derart ungleich verteilt sind. Aber das muss nicht so sein. Ganz gleich wie sehr derartige Verhältnisse historisch bedingt sind – die Zukunft müssen sie nicht bestimmen; und selbst wenn die derzeit gängigen ökonomischen Vorstellungen und Methoden der Menschheit in der Zeit ihrer Adoleszenz genügten, so sind sie doch für die anbrechende Zeit ihrer Reife schlicht unzureichend.
Es gibt keine Rechtfertigung dafür, an Strukturen, Regeln und Systemen festzuhalten, die ganz offenkundig nicht den Interessen aller Völker dienen.
Die Lehren des Glaubens lassen hier keinen Raum für Zweifel: Aufbau, Verteilung und Verwendung von Reichtum und Ressourcen haben eine inhärente moralische Dimension.
Aus dem andauernden Prozess des Übergangs von einer geteilten zu einer geeinten Welt ergeben sich Spannungen, die in den internationalen Beziehungen ebenso zu spüren sind wie in den sich vertiefenden Rissen, die kleine wie große Gemeinschaften spalten. Da die vorherrschenden Denkweisen offensichtlich unzureichend sind, braucht die Welt dringend eine gemeinsame Ethik, ein festes Rahmenwerk, um den Krisen begegnen zu können, die sich wie Gewitterwolken auftürmen.
Die Vision Bahá’u’lláhs stellt viele der Annahmen infrage, die man den derzeitigen Diskurs bestimmen lässt – beispielsweise, dass Eigennutz nicht etwa gezügelt werden sollte, sondern vielmehr den Wohlstand fördert, und dass Fortschritt davon abhängig ist, dass sich dieser Eigennutz in erbarmungsloser Konkurrenz äußert.
Den Wert eines Menschen hauptsächlich danach zu bemessen, wie viel Vermögen er im Vergleich zu anderen anhäufen und wie viele Waren er konsumieren kann, ist dem Bahá’í-Denken vollkommen fremd.
Aber die pauschale Ablehnung von Reichtum als in sich widerwärtig und unmoralisch findet in den Lehren ebenso keine Zustimmung, und Askese ist untersagt.
Reichtum muss der Menschheit dienen.
Seine Verwendung muss geistigen Prinzipien entsprechen; es müssen Systeme geschaffen werden, die solchen Prinzipien folgen. In den erinnerungswürdigen Worten Bahá’u’lláhs: „Kein Licht gleicht dem Licht der Gerechtigkeit! Sie bewirkt Ordnung in der Welt und sichert die Ruhe der Völker.“
Obwohl Bahá’u’lláh in Seiner Offenbarung kein detailliertes Wirtschaftssystem entworfen hat, durchzieht das Thema der Reorganisation der Gesellschaft das gesamte Korpus Seiner Lehren wie ein roter Faden. Die Betrachtung dieses Themas führt unweigerlich zu Fragen bezüglich der Wirtschaft. Selbstverständlich ist die künftige, von Bahá’u’lláh vorgesehene Ordnung weit jenseits all dessen, was sich die gegenwärtige Generation vorstellen kann.
Gleichwohl bedarf ihre letztendliche Verwirklichung der unermüdlichen Anstrengungen Seiner Anhänger, Seine Lehren schon heute in die Tat umzusetzen. In diesem Sinne hoffen wir, dass die nachfolgenden Ausführungen eine tiefschürfende, anhaltende Reflexion unter den Freunden anstoßen. Das Ziel ist zu lernen, in den materiellen Angelegenheiten der Gesellschaft in einer Weise mitzuwirken, die den göttlichen Geboten entspricht, und wie, ganz praktisch, allgemeiner Wohlstand durch Gerechtigkeit und Freigebigkeit, durch Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe gefördert werden kann.
Unser Aufruf, die Implikationen der Offenbarung Bahá’u’lláhs für das Wirtschaftsleben zu untersuchen, richtet sich an Bahá’í-Institutionen und -Gemeinden, vor allem aber an jeden einzelnen Gläubigen. Wenn ein neues Modell des Gemeindelebens nach dem Muster der Lehren entstehen soll, muss dann nicht die Gemeinschaft der Gläubigen in ihrem eigenen Leben eben jenes rechtschaffene Verhalten aufweisen, das eines ihrer charakteristischsten Merkmale ist?
Jede Entscheidung, die ein Bahá’í trifft – als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, als Produzent oder Verbraucher, Kreditnehmer oder Kreditgeber, Wohltäter oder Begünstigter – hinterlässt eine Spur, und die moralische Pflicht, ein kohärentes Leben zu führen, verlangt, dass unsere wirtschaftlichen Entscheidungen hehren Idealen entsprechen, dass die Reinheit unserer Ziele in Einklang steht mit der Reinheit unseres Handelns, um diese Ziele zu erreichen. Natürlich blicken die Freunde stets auf die Lehren als den Standard, den es anzustreben gilt. Aber das zunehmende gesellschaftliche Engagement der Gemeinde fordert, dass ihre Aufmerksamkeit sich immer stärker auch auf die wirtschaftliche Dimension des sozialen Lebens konzentrieren muss. Vor allem in Clustern, in denen der Prozess der Gemeindebildung beginnt, Menschen in großer Zahl zu erfassen, sollten die in den Bahá’í-Schriften enthaltenen Ermahnungen zunehmend auch die wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb von Familien, Nachbarschaften und Volksgruppen prägen. Nicht zufrieden mit den jeweiligen Wertvorstellungen der sie umgebenden Ordnung, sollten die Freunde überall darüber nachdenken, wie sie die Lehren auf ihr Leben anwenden können, und, indem sie die Möglichkeiten nutzen, die ihre Lebensumstände ihnen bieten, ihren eigenen individuellen und kollektiven Beitrag zu wirtschaftlicher Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Fortschritt leisten, wo immer sie leben. Solches Bemühen wird einen wachsenden Erfahrungsschatz auf diesem Gebiet zeitigen.
In diesem Zusammenhang ist die geistige Wirklichkeit des Menschen ein grundlegendes Konzept, das es näher zu erforschen gilt. In der Offenbarung Bahá’u’lláhs wird der Adel, der jedem Menschen innewohnt, unmissverständlich verkündet. Dies ist ein fundamentaler Grundsatz des Bahá’í-Glaubens, und auf diesen Grundsatz gründet sich die Hoffnung für die Zukunft der Menschheit. Wiederholt bestätigen die Schriften, dass die Seele die Fähigkeit hat, alle Namen und Eigenschaften Gottes – des Mitleidvollen, des Schenkenden, des Freigebigen – widerzuspiegeln. Das Wirtschaftsleben ist ein Schauplatz, wo Ehrlichkeit, Integrität, Vertrauenswürdigkeit, Großzügigkeit und andere geistige Eigenschaften zum Ausdruck kommen sollen. Das Individuum ist nicht einfach nur ein eigennütziges Wirtschaftssubjekt, darauf bedacht, einen immer größeren Anteil an den materiellen Ressourcen der Welt für sich in Anspruch zu nehmen. „Des Menschen Vorzug liegt im Dienst und in der Tugend“, betont Bahá’u’lláh, „nicht im Prunk des Wohllebens und des Reichtums.“
Und weiter: „Vergeudet nicht den Reichtum eures kostbaren Lebens im Verfolg böser, verderbter Neigung, noch lasst eure Mühe völlig in der Förderung eurer eigenen Interessen aufgehen.“
Indem wir uns dem Dienst an anderen weihen, finden wir Sinn und Zweck im Leben und tragen zur Besserung der Gesellschaft bei. Zu Beginn Seiner berühmten Abhandlung Das Geheimnis göttlicher Kultur schreibt ‘Abdu’l-Bahá: „Und Ehre und Würde des Einzelnen liegen darin, dass er vor all den Massen der Weltbewohner zu einer Quelle des gesellschaftlichen Wohles wird. Gibt es eine größere Gnade als die, dass ein Mensch, wenn er in sich geht, feststellen darf, dass er, durch göttliche Gunst bestätigt, Frieden und Wohlfahrt, Glück und Nutzen unter seinen Mitmenschen bewirkte? Nein, bei dem einen wahren Gott! Es gibt keine größere Freude, kein vollkommeneres Glück.“
In diesem Licht betrachtet gewinnen viele scheinbar alltägliche wirtschaftliche Aktivitäten neue Bedeutung aufgrund ihres Potenzials, zu Wohlergehen und Wohlstand beizutragen. „Jeder braucht einen Beruf, ein Gewerbe oder ein Handwerk“, erklärt der Meister, „damit er die Lasten anderer tragen kann und nicht selbst eine Bürde für andere sei.“ Die Armen werden von Bahá’u’lláh aufgefordert, sich zu „bemühen und danach [zu] streben, sich die Mittel zum Lebensunterhalt zu verdienen“, während diejenigen, die Reichtum besitzen, „den Armen größte Beachtung schenken“ müssen.
„Wohlstand“, so bestätigt ‘Abdu’l-Bahá, „ist allen Lobes wert, wenn er durch die eigenen Anstrengungen eines Menschen und durch die Gnade Gottes auf den Gebieten des Handels, der Landwirtschaft, der Kunst oder des Gewerbefleißes erworben und für menschenfreundliche Zwecke ausgegeben wird“.
Gleichzeitig sind jedoch die Verborgenen Worte voll von Warnungen vor den gefährlichen Verlockungen des Reichtums, der eine „mächtige Schranke“ ist zwischen dem Gläubigen und dem wahren Ziel seiner Anbetung. Es wundert also nicht, dass Bahá’u’lláh die Stufe des Reichen preist, den sein Besitz nicht daran hindert, das ewige Reich Gottes zu erlangen; der Glanz einer solchen Seele „soll die Himmelsbewohner so erleuchten, wie die Sonne dem Erdenvolk Licht spendet“.
‘Abdu’l-Bahá stellt fest: „... wenn ein kluger, verständiger Mensch Wege fände, wie das Einkommen der Volksmassen allgemein gehoben werden kann, [gäbe es] kein wichtigeres Unternehmen als dieses, und in den Augen Gottes würde dies als die größte Errungenschaft gelten“.
Denn „Wohlstand ist in höchstem Maße lobenswert, sofern die ganze Bevölkerung in Wohlstand lebt“. Jeder von uns muss seine eigene Lebensweise überprüfen, um zu entscheiden, was wirklich notwendig ist, und dann voll Freude seine Verpflichtungen nach dem Ḥuqúqu’lláh-Gesetz erfüllen. Solche Disziplin ist unerlässlich, um die eigenen Prioritäten zu ordnen, jeglichen Besitz zu reinigen und sicherzustellen, dass der Anteil, der das Recht Gottes ist, dem Wohl der Allgemeinheit zugutekommt. Zufriedenheit und rechtes Maß, Güte und Mitgefühl, Opferbereitschaft und das Vertrauen auf den Allmächtigen sind zu allen Zeiten Eigenschaften, die der gottesfürchtigen Seele wohl anstehen.
Die Kräfte des Materialismus fördern ein diametral entgegengesetztes Denken: Glück erlangt man als Folge ständigen Konsums; je mehr man hat, desto besser; und morgen ist auch noch ein Tag, um sich um die Umwelt zu sorgen. Solche verführerischen Botschaften schüren ein sich immer mehr verfestigendes Anspruchsdenken, das die Rhetorik von Recht und Gerechtigkeit benutzt, um doch nur Eigennutz zu verschleiern. Gleichgültigkeit gegenüber der Not anderer wird alltäglich, während Ablenkung, Unterhaltung und Vergnügungen aller Art unersättlich konsumiert werden. Langsam durchdringt der zermürbende Einfluss des Materialismus jede Kultur, und alle Bahá’í erkennen, dass auch sie – in unterschiedlichem Maß – seine Weltsicht unwillkürlich übernehmen, sofern sie sich nicht mit aller Kraft bemühen, sich seine Auswirkungen immer wieder bewusst zu machen. Eltern müssen sich klar darüber sein, dass Kinder die Normen ihrer Umgebung in sich aufnehmen, selbst wenn sie noch sehr jung sind. Das Programm zur Freisetzung geistiger Kräfte Juniorjugendlicher fördert das Nachdenken und schärft das Urteilsvermögen in einem Alter, in dem die Verlockung des Materialismus immer stärker wird. Mit dem Erwachsenwerden kommt eine Verantwortung, die man mit seiner gesamten Generation teilt: Weltliches Streben darf uns nicht dazu verleiten, blind für Not und Unrecht zu werden. Die Kurse des Trainingsinstituts bringen uns in Kontakt mit dem Wort Gottes, und die dabei vermittelten Eigenschaften und Einstellungen helfen uns mit der Zeit, die Illusionen zu durchschauen, derer sich die Welt in jeder Phase unseres Lebens bedient, um unsere Aufmerksamkeit vom Dienen weg auf das Ich zu lenken. Und schließlich lässt das systematische Studium des Wortes Gottes und die Erforschung seiner Implikationen das Bewusstsein dafür reifen, dass es notwendig ist, unsere materiellen Angelegenheiten im Einklang mit den göttlichen Lehren zu regeln.
Geliebte Freunde, die Extreme von Reichtum und Armut in der Welt werden immer untragbarer. Je länger die Ungleichheit fortdauert, desto mehr erkennt man, dass die etablierte Ordnung sich ihrer selbst nicht mehr sicher ist, und stellt ihre Werte in Frage. Ganz gleich, welche Leiden eine zerstrittene Welt noch erfahren wird, wir beten darum, dass der Allmächtige Seinen Geliebten helfen wird, alle Hindernisse auf ihrem Weg zu überwinden, und ihnen beistehen wird, der Menschheit zu dienen. Je stärker die Präsenz einer Bahá’í-Gemeinde innerhalb einer Bevölkerung zunimmt, desto größer ist auch ihre Verantwortung, Wege zu finden, um dort die tieferen Ursachen der Armut anzugehen. Auch wenn die Freunde noch am Anfang dieses Lernprozesses stehen und erst beginnen, sich an den damit verbundenen Diskursen zu beteiligen, schafft doch der Prozess der Gemeindeentwicklung im Fünfjahresplan überall das ideale Umfeld, um – langsam, aber kontinuierlich – Wissen und Erfahrung über das höhere Ziel wirtschaftlichen Handelns wachsen zu lassen. Möge – vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Arbeit an der Errichtung einer göttlichen Zivilisation – solches Forschen und Lernen in den kommenden Jahren ein noch klarer hervortretendes Merkmal von Gemeindeleben, institutionellem Denken und individuellem Handeln werden.
[gezeichnet: Das Universale Haus der Gerechtigkeit]