Die Badī‘-Kalenderreform unter der Lupe
In einer Botschaft an die Bahā’ī der Welt verkündete das Universale Haus der Gerechtigkeit am 10. Juli, 2014 eine Kalenderreform, die zum darauffolgenden Naw-Rūz (1. Bahā’ 172) in Kraft trat.
Diese Reform besteht aus
der weltweit einheitlichen Bestimmung des Jahresbeginns,
der Terminierung der Zwillingsgeburtstage und
der Datierung der sonstigen Heiligen Tage.
Das Letztgenannte betrifft die geänderten Termine für die Feiertage zur Verkündigung bzw. zum Märtyrertod des Bāb. Über die Bemerkung hinaus, dass es hierbei um die Abklärung bestimmter Unstimmigkeiten in der historischen Überlieferung geht, bedürfen diese Änderungen keiner weiteren Erläuterung. Dagegen sind die Beweggründe, die hinter den ersten zwei Punkten stecken, ohne Spezialkenntnisse nicht nachvollziehbar. Diese Ausführungen sollen dem Leser die erforderlichen Hintergrundinformationen vermitteln.
Die Bestimmung des Jahresbeginns
Vor dem Eintreten der neuen Kalenderregelung herrschte in den meisten Regionen der Welt Parität zwischen dem Badī‘- und dem gregorianischen Kalender, wonach der 1. Bahā’ prinzipiell mit dem 21. März zusammenfiel. Im Gegensatz dazu wurde im Iran sowie im Bahā’ī-Weltzentrum von Anfang an die Neujahrsregelung des Badī‘-Kalenders nach dem Muster des Iranischen Nationalkalenders eingesetzt, wie Nabīl-i A‘ẓam erklärt: Auf der Grundlage des iranischen Kalenders ist der Naw-Rūz-Tag derjenige Tag, an dem die Sonne in das Zeichen des Widders eintritt [m. a. W. im Augenblick der Frühlingstagundnachtgleiche] — ob in der Nacht oder während des Tages —, selbst wenn dies eine Minute vor Sonnenuntergang geschieht. Dies unterscheidet sich von der früheren Regelung im Iran, wonach man den darauffolgenden Tag als Naw-Rūz wählte, wenn die Verschiebung [in das Zeichen des Widders] nach Mittag stattfand. (nicht autorisierte Übersetzung aus der bisher unveröffentlichten zweiten Hälfte der Chronik Nabīls).
Die neue Regelung besteht im Wesentlichen darin, dass die bisherige Praxis im Iran nunmehr für die ganze Welt gilt.
Aus der Perspektive der nördlichen Halbkugel findet die Frühlingstagundnachtgleiche (nachstehend „Frühlingsanfang“ genannt) in dem Augenblick statt, da eine erdachte, gerade Linie zwischen Erdmittelpunkt und Sonnenmittelpunkt den Erdäquator vom Süden her durchquert. Die genaue Uhrzeit des Geschehens wechselt ständig von Jahr zu Jahr und wiederholt sich praktisch nie. Da die Internationale Datumsgrenze und die Lage des Sonnenuntergangs beim Frühlingsanfang typisch weit auseinanderliegen und gründsätzlich nie genau übereinstimmen, wird die Erdkugel in diesem Augenblick in zwei, im Extremfall in drei Datumszonen eingeteilt. Folglich bedarf es eines unabänderlichen geographischen Bezugs, um den Frühlingsanfang einem Kalendertag eindeutig zuzuordnen. Dafür hat das Universale Hause der Gerechtigkeit die Stadt Teheran bestimmt, oder genauer: einen bestimmten Punkt innerhalb dieser Stadt. Genau an diesem Punkt zu genau diesem Augenblick heißt der aktuelle kalendarische Tag 1. Bahā’, egal ob der Tag erst kurz davor begann (dort hat sich ein Sonnenuntergang soeben ereignet), kurz vorm Abschluss steht (dort steht ein Sonnenuntergang unmittelbar bevor), oder irgendwo dazwischen liegt. Für alle Orte auf Erden, die sich in einem bestimmten Jahr in derselben Datumszone wie Teheran befinden, findet der Bahā’ī-Naw-Rūz am ersten Frühlingstag statt. Für alle anderen findet Naw-Rūz (1. Bahā’) am Tag davor oder danach statt, je nachdem, ob sich die betreffende Datumszone westlich oder östlich der Datumsgrenze befindet.
Die Terminierung der Zwillingsgeburtstage
Die Zwillingsgeburtstage werden fortan an den ersten zwei Tagen nach dem achten Neumond nach [Anbruch des] Naw-Rūz in Teheran gefeiert. Der Schlüssel zu dieser Formel steckt im Verhältnis zwischen Sonnen- und Mondkalender. Der Sonnenkalender fußt auf der Länge des tropischen Jahres, d. h. auf der Zeit, die die Erde braucht, um einmal um die Sonne relativ zu den Fixsternen zu umkreisen. Demgemäß dauert ein Kalenderjahr genau 365 Tage in einem Gemeinjahr bzw. 366 Tage in einem Schaltjahr. Der Mondkalender richtet sich dagegen nach der Zeit, die der Mond braucht, um die Erde relativ zur Sonne genau zwölf Mal zu umkreisen, also 354 Tage in einem Gemeinjahr bzw. 355 Tage in einem Schaltjahr. Tatsächlich dürfen wir für unseren jetzigen Zweck die Schaltjahre außer Acht lassen. Der Unterschied zwischen einem Sonnenjahr und einem Mondjahr beträgt somit stets 11 Tage.
Aus dem Blickwinkel des Mondkalenders wurde Bahā’u’llāh am 2. Muḥarram 1233, der Bāb am 1. Muḥarram 1235 geboren. Da Bahā’u’llāh knapp zwei Jahre älter ist als der Bāb, heißt dies, dass die zwei Geburtstage genau einen Tag weniger als zwei volle Mondjahre auseinanderliegen: 2 × 354 - 1 = 707 Tage. Aus dem Blickwinkel des Sonnenkalenders wurde Bahā’u’llāh am 12. November 1817, der Bāb am 20. Oktober 1819 geboren. Das ergibt einen Abstand von 23 Tagen weniger als zwei vollen Sonnenjahren: 2 × 365 - 23 = 707 Tage.
Damit der Zwillingsgeburtstage an zwei aufeinanderfolgenden Tagen gedacht werden können, bedarf es also eines Mondbezugs. Diesen liefert der Jahresanfang des islamischen Kalenders (1. Muḥarram), der stets beim ersten Sonnenuntergang nach einem Neumond beginnt. Gleichwohl muss die Terminierung auf der Grundlage des Badī‘-Kalenders erfolgen, und dafür braucht sie einen Sonnenbezug. Diesen liefert der Jahresanfang des Badī‘-Kalenders (1. Bahā’), der am Bezugsort immer mit dem Frühlingsanfang zusammenfällt Dem islamischen Kalender zufolge fand der letzte Frühingsanfang vor der Geburt Bahā’u’llāhs an einem 3. Jumādā’l-Ūlā, der letzte vor der Geburt des Bāb an einem 25. Jumādā’l-Ūlā statt. Somit liegen die zwei Ereignisse 22 Kalendertage auseinander. Dies entspricht dem zweifachen Unterschied zwischen der Dauer eines Sonnenjahrs und der Dauer eines Mondjahrs: 2 x (365 – 354) = 22.
Jumādā’l-Ūlā ist der fünfte Monat des islamischen Kalenders. Somit ereignete sich der Neumond in den beiden Jahren 1232 und 1234 genau acht Mal zwischen dem Frühlingsanfang und dem darauffolgenden 1. Muḥarram. Die neue Regelung nutzt diese Tatsache als Kriterium für die alljährliche Terminierung des Zwillingsfestes, das somit irgendwann zwischen dem 18. Mashiyyat und dem 10. Qudrat beginnt, d. h. zwischen 207 und 237 Tagen nach dem Frühlingsanfang und vor dem Beginn des Festes. Die Differenz von 30 Tagen spiegelt die Tatsache wider, dass bis zum ersten Neumond nach dem Frühlingsanfang zwischen 0 und 30 Tage verstreichen können.
Mit dieser Regelung wird der Augenblick des Neumonds durch astronomische Berechnungen festgestellt und nicht durch Bezugnahme auf den islamischen Mondkalender. Somit wird die Bestimmung der Zwillingsgeburtstage von den Vorgaben eines fremden Kalendersystems befreit.
Das Jahr 172 war ein einmalig günstiges Jahr, um die neue Regelung einzuführen, da sich in diesem Jahr der Frühlingsanfang abermals im Monat Jumādā’l-Ūlā ereignete. Dies galt zwar auch für die Jahre 170 und 171, doch ist das Jahr 172 etwas Besonderes, denn in diesem Jahr ist der Anbruch des neuen Jahres gleichzeitig die Vollendung des neunten Vāḥid des ersten Kull-i Shay’ des Bahā’ī-Zeitalters.
Neben der symbolischen Entsprechung zur historischen Ausgangssituation hatte der Frühlingsanfang im Monat Jumādā’l-Ūlā bei der allerersten Feier der Zwillingsgeburtstage gemäß der neuen Regelung zur Folge, dass von den Gemeinden sowohl im Iran als auch im Westen anfangs nur ein Minimum an Umstellung abverlangt wurde.
Bexbach, den 14.08.2016
Gerald Keil