Bahá'u'lláh - Eine Einführung - 1
Vorwort
Am 29. Mai 1992 jährte sich das Hinscheiden Bahá'u'lláhs zum hundertsten Mal. Seine Schau von der Menschheit als einem Volk und der Erde als einem Land wurde vor über hundert Jahren von den Führern der Welt mißachtet; heute richten sich die Hoffnungen der Menschheit auf diese Vision. Auch der Zusammenbruch der sittlichen und gesellschaftlichen Ordnung, den Bahá'u'lláh mit erschreckender Deutlichkeit voraussah, vollzieht sich unerbittlich. Der hundertste Jahrestag war Anlaß zur Veröffentlichung der vorliegenden kurzen Einführung in Bahá'u'lláhs Leben und Werk.
Verfaßt im Auftrag des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, dem Treuhänder dieses weltumspannenden Glaubens, der Mitte des vorigen Jahrhunderts seinen Anfang nahm, will diese Schrift etwas von der zuversichtlichen Grundhaltung vermitteln, mit der die Bahá'í in aller Welt die Zukunft unseres Planeten und der Menschheit sehen.
Bahá'u'lláh
An der Schwelle des neuen Jahrtausends ist die Menschheit auf eine einheitsstiftende Vision vom Wesen des Menschen und der Gesellschaft existentiell angewiesen. Aus dieser Not wurde der Menschheit während der letzten hundert Jahre ein ideologisches Wechselbad zuteil, das die Welt erschütterte; inzwischen haben sich diese Ideologien sichtlich erschöpft. Welch tiefgreifende Bedürfnisse dabei im Spiel sind, zeigt die Leidenschaft, mit der - trotz all der entmutigenden Ergebnisse - dieser Kampf ausgetragen wurde. Ohne eine gemeinsame Überzeugung über den Gang und das Ziel der Geschichte ist es unvorstellbar, daß Grundlagen für eine Weltgesellschaft gelegt werden können, denen sich die Menschheit mehrheitlich verpflichtet fühlt. Bahá'u'lláh, die prophetische Gestalt des neunzehnten Jahrhunderts, dessen wachsender Einfluß die bemerkenswerteste Entwicklung der neueren Religionsgeschichte darstellt, entfaltet in Seinen Schriften eine solche Vision.
Geboren am 12. November 1817 in Persien, setzte Bahá'u'lláh1 im Alter von 27 Jahren eine Bewegung in Gang, die heute das Bewußtsein von Millionen prägt - Menschen aus praktisch allen Rassen, Kulturen, Klassen und Nationen der Erde. Diese Erscheinung ist in der heutigen Welt ohne Beispiel. Ihre historischen Parallelen kann man in dramatischen Richtungsänderungen der Geschichte sehen. Denn Bahá'u'lláh beansprucht nicht weniger, als Gottes Bote für das Zeitalter menschlicher Reife zu sein, der Träger einer göttlichen Botschaft, welche die Verheißungen der früheren Religionen erfüllt und das geistige Kraftfeld für die Vereinigung der Völker dieser Welt schafft.
Lassen wir diesen Anspruch einmal beiseite - allein die heute schon sichtbaren Wirkungen, die Leben und Werk Bahá'u'lláhs hatten, fordern die ernsthafte Aufmerksamkeit eines jeden, der daran glaubt, daß der Mensch ein geistiges Wesen ist und daß die künftige Gestaltung unseres Planeten dem Rechnung tragen muß. Die historischen Fakten sind dokumentiert und stehen jedermann zur Prüfung offen. Erstmals in der Geschichte verfügt die Menschheit über einen detaillierten, nachprüfbaren Bericht über die Entstehungsgeschichte eines eigenständigen Religionssystems und vom Leben seines Stifters. Ebenso zugänglich sind die Berichte über den Widerhall, den der neue Glauben fand, über das Entstehen einer Weltgemeinschaft, die bereits heute mit vollem Recht behaupten kann, einen Mikrokosmos der Menschenwelt darzustellen.2 Während der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts blieb diese Entwicklung relativ unbekannt. Bahá'u'lláh verbietet die aggressive Proselytenmacherei, mit der religiöse Lehren oft verbreitet werden. Zudem gab die Bahá'í-Gemeinde dem Aufbau von Gruppen auf lokaler Ebene überall in der Welt Priorität, was gegen die frühzeitige Konzentration großer Anhängerzahlen in einzelnen Ländern und gegen großangelegte Informationsprogramme sprach. Fasziniert von Indizien, die auf das Entstehen einer neuen Universalreligion hindeuten, bemerkte der Kulturphilosoph Arnold Toynbee in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts, der Bahá'í-Glaube sei dem durchschnittlich gebildeten Abendländer etwa ebenso bekannt wie das Christentum dem Römer im zweiten Jahrhundert nach Christus. 3
Nachdem die Bahá'í-Gemeinde in jüngster Zeit in vielen Ländern rasch gewachsen ist, hat sich die Situation grundlegend geändert. Es gibt in der Welt praktisch kein Gebiet mehr, wo das von Bahá'u'lláh gelehrte Lebensmuster nicht Wurzeln schlüge. Mit ihren Projekten zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung gewinnt die Gemeinde nach und nach Ansehen bei Regierungen, Universitäten und den Vereinten Nationen - ein weiterer Grund für eine unvoreingenommene, ernsthafte Prüfung des Impulses hinter einem Prozeß gesellschaftlicher Wandlung, der in der Welt einzigartig ist. Die Quellen dieses schöpferischen Impulses liegen nicht im Dunkeln.
Bahá'u'lláhs Schriften behandeln weitgespannte Themen, von gesellschaftlichen Problemen wie die Integration der Rassen, die Gleichheit der Geschlechter und die Abrüstung bis hin zu Fragen, die sich mit dem Seelenleben befassen. Die Originaltexte, viele von Seiner eigenen Hand, andere diktiert und von Ihm autorisiert, sind sorgsam gesichert. Seit Jahrzehnten macht ein systematisches Übersetzungs- und Veröffentlichungsprogramm eine Auswahl dieses Schrifttums den Menschen in aller Welt in über achthundert Sprachen zugänglich.
Die Geburtsstunde der neuen Offenbarung
Bahá'u'lláhs Sendung begann im August 1852 in einem unterirdischen Verlies von Teheran. Einer adligen Familie entsprossen, die ihre Vorfahren bis auf die großen altpersischen Dynastien zurückverfolgt, lehnte Er es ab, die Ihm offenstehende Laufbahn eines Staatsministers zu ergreifen. Er zog es vor, Seine Kraft karitativen Werken zu widmen. In den frühen 40er Jahren des 19. Jahrhunderts war Er weithin als "Vater der Armen" bekannt. Dieser privilegierte Lebensstil fand nach 1844 bald ein Ende, als Bahá'u'lláh Vorkämpfer einer Bewegung wurde, die den Lauf der Geschichte Seines Landes verändern sollte.
In vielen Ländern war das frühe neunzehnte Jahrhundert eine Zeit messianischer Naherwartung. Zutiefst verstört von dem Wandel, welcher durch wissenschaftliche Forschung und Industrialisierung eingeleitet worden war, wandten sich Menschen verschiedener Glaubensrichtungen ihren heiligen Schriften zu, in der Hoffnung, darin Hinweise zu finden, wie man diesen sich immer mehr beschleunigenden Prozeß verstehen könnte.
In Europa und Amerika sahen Gemeinschaften wie die Templer und die Adventisten in der Heiligen Schrift Anhaltspunkte für ihre Überzeugung, daß sich die Geschichte ihrem Ende zuneige und die Wiederkunft Jesu Christi unmittelbar bevorstehe. Ein auffallend ähnlicher Gärungsprozeß entstand im Mittleren Osten aus dem Glauben an die unmittelbar bevorstehende Erfüllung der endzeitlichen Prophezeiungen im Qur'án und der islamischen Tradition.
Die bei weitem dramatischste dieser adventistischen Bewegungen bildete sich in Persien um die Person eines jungen Kaufmanns aus der Stadt Schiras und dessen Lehren; die Geschichte kennt Ihn als den Báb. 4 Neun Jahre lang, von 1844 bis 1853, wurden Perser aller Gesellschaftsschichten mitgerissen von einem Sturm der Hoffnung und Begeisterung, ausgelöst durch die Ankündigung des Báb, der "Tag Gottes" sei angebrochen, Er selbst sei der in den Schriften des Islam Verheißene. Er verkündete, die Menschheit stehe an der Schwelle eines neuen Äons, in welchem alle Lebensbereiche neu gestaltet werden. Neue, noch unvorstellbare Wissenszweige würden es selbst den Kindern des anbrechenden Zeitalters verstatten, die gebildetsten Gelehrten des neunzehnten Jahrhunderts an Wissen zu übertreffen. Die Menschheit sei von Gott aufgerufen, diesen Wandel zu vollziehen, der eine Neugestaltung ihres sittlichen und geistigen Lebens voraussetze. Seine Mission sei es, die Menschheit auf ein Ereignis vorzubereiten, das im Zentrum dieser Entwicklung stehe: das Kommen des endzeitlichen Gottesboten, "Dessen, den Gott offenbaren wird", wie Ihn die Anhänger aller Religionen erwarten. 5 Mit diesem Anspruch erregte der Báb die grimmige Feindschaft der muslimischen Geistlichkeit, denn nach orthodoxer Lehre ist alle göttliche Offenbarung mit dem Propheten Muammad beendet. Wer von dieser Lehre abweicht, ist Apostat und der Todesstrafe verfallen. Die öffentliche Verurteilung des Báb durch die Geistlichen fand bald die Unterstützung der persischen Staatsgewalt. Im ganzen Land wurden Tausende von Anhängern des neuen Glaubens Opfer einer Serie von entsetzlichen Massakern; der Báb selbst wurde am 9. Juli 1850 öffentlich hingerichtet. 6 In einer Zeit wachsender westlicher Einmischung im Orient riefen diese Geschehnisse in einflußreichen Kreisen Europas Interesse und Mitleid hervor. Der Seelenadel des Báb, Seine Lehren, das Heldentum Seiner Anhänger und die in einem verfinsterten Land aufkeimende Hoffnung auf grundlegende Reformen - das alles hatte einen mächtigen Einfluß auf Gestalten wie Ernest Renan, Leo Tolstoi, Sarah Bernhardt und Graf Gobineau. 7 Wegen Seiner prominenten Rolle bei der Verteidigung der Sache des Báb wurde Bahá'u'lláh verhaftet und zu Fuß und in Ketten nach Teheran gebracht. Durch Seinen beeindruckenden Ruf und die gesellschaftliche Position Seiner Familie, aber auch durch die von den Bábí-Pogromen ausgelösten Proteste der westlichen Botschaften einigermaßen geschützt, wurde Er nicht zum Tode verurteilt, wie einflußreiche Personen bei Hofe gefordert hatten. Stattdessen warf man Ihn in den berüchtigten Síyáh-Chál, das "schwarze Loch", ein tiefes, von Ungeziefer verseuchtes Verlies in einem früheren Wasserreservoir der Stadt. Anklage wurde nicht erhoben; ohne Möglichkeit, sich dagegen rechtlich zur Wehr zu setzen, hielt man Ihn mit etwa dreißig Gefährten im Schmutz und Dunkel dieses Kerkers, umgeben von teils zum Tode verurteilten Schwerverbrechern. Um Bahá'u'lláhs Nacken lag eine schwere Kette, die unter den Strafgefangenen so berüchtigt war, daß man ihr einen Namen gegeben hatte. Als Er nicht so schnell umkam wie gedacht, versuchte man, Ihn zu vergiften. Die von der Kette verursachten Narben waren zeitlebens zu sehen.
Im Mittelpunkt der Schriften Bahá'u'lláhs stehen die großen Themen, die zu allen Zeiten die religiösen Denker vorrangig beschäftigt haben: Gott, Seine Offenbarung in der Geschichte, die Beziehungen der Weltreligionen zueinander, die Bedeutung des Glaubens und die grundlegende Aufgabe der Moral für das Funktionieren der Gesellschaft. In Passagen dieser Schriften finden sich Andeutungen über Seine eigene geistige Erfahrung, Seine Antwort auf den göttlichen Anruf, über Sein Zwiegespräch mit dem "Geist Gottes", den Wesenskern Seiner Sendung. Noch nie in der Religionsgeschichte bekam der Sucher die Möglichkeit zu einer so unmittelbaren Begegnung mit dem Phänomen göttlicher Offenbarung.
In einer der gegen Ende Seines Lebens verfaßten Schriften, in denen Er sich über Seine frühen Erfahrungen äußert, ist ein kurzer Bericht über die Zustände im Síyáh-Chál enthalten:
"Vier Monate mußten Wir in einem unbeschreiblich schmutzigen Loch verbringen... Dieser Kerker war in undurchdringliches Dunkel gehüllt; Unsere Mitgefangenen zählten nahezu einhundertfünfzig Seelen: Diebe, Mörder und Straßenräuber. Trotz seiner Überfüllung hatte das Verlies keinen anderen Auslaß als den Gang, durch den Wir gekommen waren. Keine Feder kann diesen Ort beschreiben, keine Zunge seinen widerlichen Gestank schildern. Die meisten dieser Menschen hatten weder Kleider noch Stroh, darauf zu liegen. Nur Gott weiß, was Wir an diesem übelriechenden, finsteren Ort zu leiden hatten!" 8
Täglich kamen die Wachen die drei steilen Treppen in das Verlies herab, griffen Gefangene und schleppten sie nach oben zur Hinrichtung. In den Straßen Teherans wurden derweil Europäer entsetzt Zeugen, wie Bábí vor Kanonen gebunden, zerfetzt und mit Äxten und Schwertern zerstückelt oder mit in den Leib gegrabenen brennenden Kerzen zur Todesstätte geführt wurden. 9
So waren die Umstände, als Bahá'u'lláh, selbst vom Tode bedroht, die ersten Andeutungen Seiner Sendung erfuhr:
"Eines Nachts im Traum waren von allen Seiten diese erhabenen Worte zu hören: ‚Wahrlich, Wir werden Dich siegreich machen durch Dich selbst und durch Deine Feder. Gräme Dich nicht über das, was Dir widerfuhr, und fürchte Dich nicht, denn Du bist in Sicherheit. Binnen kurzem wird Gott die Schätze der Erde erwecken - Menschen, die Dir beistehen werden durch Dich selbst und durch Deinen Namen, mit welchem Gott die Herzen derer belebt, die Ihn erkennen.'" 10
Die Erfahrung göttlicher Offenbarung - in den Zeugnissen über das Leben Buddhas, Mose, Jesu Christi und Muammads nur aus zweiter Hand überliefert - schildert Bahá'u'lláh bildhaft mit eigenen Worten: "In den Tagen, da Ich im Kerker von ihrán lag, vergönnten Mir die schweren Ketten, die Mich wundrieben, und die üble Luft nur wenig Schlaf; dennoch hatte Ich in den seltenen Augenblicken des Schlummers ein Gefühl, wie wenn etwas von Meinem Scheitel über die Brust strömte, einem mächtigen Sturzbach gleich, der sich vom Gipfel eines hohen Berges zu Tal ergießt. So wurde jedes Glied Meines Leibes in Flammen gesetzt. Meine Zunge sprach in solchen Augenblicken Worte, die zu hören kein Mensch hätte ertragen können." 11
Die Verbannung
Schließlich wurde Bahá'u'lláh ohne Prozeß und ohne Entschädigung aus dem Kerker entlassen und sofort aus Seinem Vaterland verbannt; Sein Vermögen und Seine Besitztümer wurden ohne Rechtsgrundlage enteignet. Der diplomatische Vertreter Rußlands, der Ihn persönlich kannte und die Bábí-Verfolgungen mit wachsender Besorgnis beobachtet hatte, bot Ihm seinen Schutz und Zuflucht in den Ländern unter der Kontrolle seiner Regierung an. In dem damals in Persien herrschenden politischen Klima wäre die Annahme dieser Hilfe so gut wie sicher als Parteinahme mißdeutet worden.12 Wohl aus diesem Grund zog Bahá'u'lláh die Verbannung in das Nachbarland Irak vor, das damals unter osmanischer Herrschaft stand. Dies war der Beginn von vierzig Jahren Exil, Gefangenschaft und bitterer Verfolgung.
In den Jahren unmittelbar nach Seiner Ausreise aus Persien richtete Bahá'u'lláh Sein Hauptaugenmerk auf die Bedürfnisse der Bábí-Gemeinde, die sich in Bagdad wieder sammelte. Diese Aufgabe fiel Ihm zu als dem einzigen fähigen Bábí-Führer, der das Massaker überlebt hatte. Nach dem Tod des Báb und dem fast gleichzeitigen Verlust der meisten Lehrer und Führer des jungen Glaubens waren die Gläubigen versprengt und entmutigt. Als Bahá'u'lláhs Bemühungen, die in den Irak geflohenen Bábí zu sammeln, Eifersucht und Zwietracht bewirkten,13 beschritt Er den Weg aller Gottesboten vor Ihm und zog sich in die Wildnis zurück; dafür wählte Er die Berge Kurdistans. "In Unserer Zurückgezogenheit", sagt Er später, "dachten Wir an keine Rückkehr... Nur darum lebten Wir in der Einsamkeit, weil Wir nicht wollten, daß Unserethalben unter den Gläubigen und den Gefährten Zwietracht und Unruhe aufkomme..."
Wenngleich diese beiden Jahre von schlimmer Entbehrung und körperlichen Härten geprägt waren, beschreibt sie Bahá'u'lláh als eine Zeit inneren Glücks, in der Er tief über die Ihm anvertraute Sendung nachdachte: "Ganz allein verkehrten Wir mit Unserem Geist und vergaßen die Welt und alles darinnen." 14 Als die verzweifelten, noch in Bagdad verbliebenen Verbannten erfahren hatten, wo Er sich aufhielt, und Ihn baten, zurückzukehren und die Führung der Gemeinde zu übernehmen, kam Er dem nur sehr widerwillig und allein aus Verantwortung für die Sache des Báb nach.
Zwei der wichtigsten Werke Bahá'u'lláhs stammen aus dieser ersten Verbannungszeit noch vor der internen Bekanntgabe Seines Anspruchs im Jahre 1863. Das erste ist ein Büchlein, das Er "Die verborgenen Worte" nannte. Dieses Bändchen, eine Sammlung ethischer Sinnsprüche, stellt das sittliche Herzstück der Botschaft Bahá'u'lláhs dar. In Versen, die Bahá'u'lláh als die Quintessenz geistiger Führung aus allen Offenbarungen der Vergangenheit beschreibt, spricht die Stimme Gottes unmittelbar zur Seele des Menschen:
"O Sohn des Geistes! Von allem das Meistgeliebte ist Mir die Gerechtigkeit. Wende dich nicht ab von ihr, wenn du nach Mir verlangst, und vergiß sie nicht, damit Ich dir vertrauen kann. Mit ihrer Hilfe sollst du mit eigenen Augen sehen, nicht mit denen anderer, und durch eigene Erkenntnis Wissen erlangen, nicht durch die deines Nächsten. Bedenke im Herzen, wie du sein solltest. Wahrlich, Gerechtigkeit ist Meine Gabe und das Zeichen Meiner Gnade. So halte sie dir vor Augen."
"O Sohn des Seins! Liebe Mich, damit Ich dich liebe. Wenn du Mich nicht liebst, kann Meine Liebe dich niemals erreichen. Erkenne dies, o Diener!"
"O Sohn des Menschen! Gräme dich nicht, außer du bist Uns ferne; und freue dich nicht, außer du kommst Uns nahe und kehrest zu Uns zurück."
"O Sohn des Seins! Mit den Händen der Macht erschuf Ich dich, mit den Fingern der Kraft formte Ich dich, und Ich barg in dich das Wesen Meines Lichtes. Sei damit zufrieden und suche nichts anderes, denn Mein Werk ist vollkommen und Mein Gebot bindend. Sei dessen gewiß und zweifle nicht." 15
Das zweite von Bahá'u'lláh verfaßte Hauptwerk dieses Zeitabschnitts ist Das "Buch der Gewißheit", eine umfassende Darlegung vom Wesen und Ziel der Religion. In Passagen, die sich auf den Qur'án, aber mit der gleichen Vertrautheit und Einsicht auch auf das Alte und Neue Testament beziehen, werden die Offenbarer Gottes als die gestaltenden Kräfte in dem einzigen, ununterbrochenen Prozeß dargestellt, in dem die Menschheit zu ihrem spirituellen und sittlichen Potential erweckt wird. Eine Menschheit, die zur Reife gelangt ist, ist über die Sprache der Gleichnisse und Allegorien hinaus auch empfänglich für eine direkte Lehrverkündung. Glauben ist keine Sache blinden Fürwahrhaltens, sondern bewußter Erkenntnis. Auch der Führerschaft einer klerikalen Elite bedarf es nicht länger: Im neuen Zeitalter der Aufklärung und Erziehung verleiht die Gabe der Vernunft jedem Menschen die Fähigkeit, selbst auf die göttliche Führung zu antworten.
Auf dem Prüfstand steht des Menschen Aufrichtigkeit:
"Kein Mensch vermag die Küsten des Meeres wahren Erkennens zu erreichen, ehe er nicht gelöst ist von allem im Himmel und auf Erden..."
Das ist der Sinn dieser Worte: Wer auf dem Pfade des Glaubens wandelt, wer nach dem Weine der Gewißheit schmachtet, muß sich läutern von allem, was irdisch ist - sein Ohr von nichtigem Geschwätz, sein Gemüt von leerem Trug, sein Herz von der Liebe zur Welt, sein Auge von allem Vergänglichen. Auf Gott muß er bauen, an Ihn sich halten und auf Seinem Wege wandeln. Dann wird er würdig sein, daß ihm in ihrer Glorie die Sonne göttlicher Erkenntnis und Einsicht strahle... Denn nie darf ein Mensch hoffen, zur Erkenntnis des Allherrlichen zu gelangen,... es sei denn, er lasse davon ab, die Worte und Taten sterblicher Menschen zum Maßstab wahren Erfassens und Erkennens Gottes und Seiner Propheten zu nehmen.
Schaut in die Vergangenheit! Wie viele, hoch und niedrig, haben zu allen Zeiten sehnlich auf das Erscheinen der Manifestationen Gottes in den geheiligten Gestalten Seiner Erwählten gewartet... Und wann immer die Tore der Gnade sich öffneten, die Wolken göttlicher Freigebigkeit sich auf die Menschheit ergossen und das Licht des Ungeschauten am Horizont himmlischer Macht aufleuchtete, haben Ihn alle verleugnet und sich von Seinem Antlitz, Gottes eigenem Antlitz, abgewandt...
"Erst wenn die Lampe des Suchens, des ernsten Strebens, des sehnlichen Verlangens, der leidenschaftlichen Ergebung, der glühenden Liebe, der Verzückung und Ekstase im Herzen des Suchers entzündet ist und der Hauch der Gnade Gottes über seine Seele weht, wird das Dunkel des Irrtums vertrieben, werden die Nebel des Zweifels und der Ängste zerstreut werden, die Lichter der Erkenntnis und Gewißheit sein Wesen einhüllen... Dann werden die mannigfachen Gunstbeweise und die Gnadenströme des heiligen, ewigen Geistes dem Sucher solch neues Leben verleihen, daß er sich mit einem neuen Auge, einem neuen Ohr, einem neuen Herzen und einem neuen Geist beschenkt sieht... Er wird mit dem Auge Gottes schauen und in jedem Atom ein Tor erblicken, das ihn zu den Stufen völliger Gewißheit führt. In allen Dingen wird er... die Beweise ewiger Verkündigung entdecken... Wenn die menschliche Seele gleich einem Kanal von allen weltlichen, hemmenden Verhaftungen gereinigt ist, wird sie unfehlbar den Odem des Geliebten über unermeßliche Entfernungen hin verspüren und, von seinem Duft geführt, die Stadt der Gewißheit erreichen und betreten... Diese Stadt ist nichts anderes als das Wort Gottes, das in jedem Zeitalter und in jeder Sendung offenbart wird... Alle Führung, aller Segen, alles Wissen, alles Erkennen, aller Glaube und alle Gewißheit, die allem im Himmel und auf Erden verliehen wurden, sind in diesen Städten verborgen und verwahrt..." 16
Auf Bahá'u'lláhs eigene, noch nicht verkündete Sendung wird im Buch der Gewißheit nicht offen hingewiesen, im Mittelpunkt Seiner kraftvollen Darstellung steht vielmehr die Gestalt des Báb und dessen Mission. Ein Hauptgrund für den mächtigen Einfluß dieses Buches auf die Bábí-Gemeinde, der eine stattliche Zahl von Gelehrten und früheren Seminaristen angehörte, war der meisterliche Umgang mit der Denkweise und den Lehren des Islam, den sein Verfasser beim Eintreten für den Báb und dessen Anspruch, die islamischen Verheißungen zu erfüllen, an den Tag legte. Bahá'u'lláh ruft die Bábí auf, sich des Vertrauens des Báb und des Opfers so vieler heldenhafter Gläubiger würdig zu erweisen. Er fordert sie auf, ihr persönliches Leben mit den göttlichen Lehren in Einklang zu bringen und darüber hinaus auch ihre Gemeinde zu einem Vorbild für die heterogene Bevölkerung Bagdads zu machen.
Trotz ihrer sehr begrenzten materiellen Verhältnisse wurden die Verbannten von dieser Vision neu belebt. Einer von ihnen, ein Mann namens Nabíl, der später eine ausführliche Chronik über das Wirken des Báb und Bahá'u'lláhs hinterließ, beschreibt die geistige Intensität jener Tage wie folgt: "Manchen Abend nährten sich nicht weniger als zehn Personen von Datteln im Wert eines Pfennigs. Niemand wußte, wem die Schuhe, Mäntel und Kleider wirklich gehörten, die sich in ihren Behausungen befanden. Wer gerade zum Basar gehen mußte, durfte die Schuhe, die er an den Füßen trug, sein eigen nennen, und jeder, der zu Bahá'u'lláh ging, konnte behaupten, daß das Gewand und der Mantel, die er trug, ihm gehörten... Ach, welche Freude erfüllte jene Tage, wie beseligend und wie wundersam waren jene Stunden!" 17
Zur Bestürzung des persischen Generalkonsulats, das die Bábí-"Episode" für ausgestanden gehalten hatte, entwickelte sich die Gemeinschaft der Verbannten zu einem geachteten, einflußreichen Element in Bagdad und den Nachbarstädten. Da mehrere der wichtigsten schiitischen Heiligtümer in diesem Gebiet lagen, war auch ein steter Strom persischer Pilger dem wieder auflebenden Bábí-Einfluß ausgesetzt. Zu den Würdenträgern, die Bahá'u'lláh in Seinem einfachen Wohnhaus ihre Aufwartung machten, gehörten auch Prinzen aus der königlichen Familie. Einer von ihnen war von diesem Erlebnis so bezaubert, daß er auf die naive Idee verfiel, er könnte etwas von der Atmosphäre geistiger Reinheit und Loslösung, die er für kurze Zeit mitempfunden hatte, einfangen, indem er dieses Haus in den Gärten seines Palastes nachbauen ließ. Ein anderer, vom Erlebnis seines Besuches noch tiefer bewegt, drückte seine Empfindungen Freunden gegenüber mit den Worten aus: "Ich habe das Gefühl, wenn auch alle Sorgen dieser Welt auf meinem Herzen lasteten, sie müßten vor der Gegenwart Bahá'u'lláhs alsbald wieder weichen. Mir war, als wäre ich im Paradies." 18