Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Religionen werden oft als Mittel gesehen, um Fragen darüber zu beantworten, was passiert, nachdem wir verstorben sind. Wird es nach dem letzten Atemzug unseres Körpers keine absolute Existenz mehr geben? Gibt es überhaupt ein Leben nach dem Tod? Und wenn ja: werden wir uns an unser Leben auf dieser Erde erinnern? Kommen wir wirklich in den Himmel oder in die Hölle?
Um das Konzept des Lebens nach dem Tod besser zu verstehen, kann es hilfreich sein, zunächst die Realität der menschlichen Seele zu betrachten.
Bahá’u’lláh lehrt, dass die Seele unsterblich ist. Sie befindet sich auf einer ewigen Reise durch die Welten Gottes. Im Augenblick der Zeugung erscheint die Seele im Ungeborenen und erhält so ihre Individualität.
Die Seele hat ihren Ursprung in den geistigen Welten Gottes. Sie ist erhaben über die Materie und die physische Welt. Seele und Körper stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Die Beziehung der Seele zum Körper ist ähnlich wie jene des Lichts der Sonne zu einem Spiegel, welcher das Sonnenlicht reflektiert. Das Licht, welches im Spiegel erscheint, ist nicht in diesem; es kommt von einer Quelle außerhalb. Ebenso ist die Seele nicht im Körper; es besteht eine besondere Beziehung zwischen ihr und dem Körper, und zusammen bilden sie einen Menschen.
Bahá’u’lláh sagt uns im Buch 'Ährenlese':
»Wahrlich, Ich sage, die menschliche Seele ist über allen Austritt und alle Rückkehr erhaben. Sie ist in Ruhe und doch schwingt sie sich auf; sie schreitet fort, und doch ist sie in Ruhe. Sie ist in sich selbst Beweis für das Dasein einer bedingten Welt wie auch für die Wirklichkeit einer Welt, die weder Anfang noch Ende hat. Siehe, wie dein Traum nach vielen Jahren vor deinen Augen wieder abrollt. Bedenke, wie seltsam das Geheimnis der Welt ist, die dir im Traum erscheint. Bewege die unerforschliche Weisheit Gottes in deinem Herzen und versenke dich in ihre mannigfaltigen Offenbarungen...«
Die Seele ein Spiegelbild der Attribute Gottes
Ein "Zeichen Gottes" zu sein, kann also bedeuten, dass die Seele ein Spiegelbild der Attribute Gottes und damit ein Ausdruck Seiner Existenz ist. Deshalb sind die Attribute unserer Seele, wie Liebe, Geduld und Vergebung, Zeichen Gottes.
Wenn wir die Existenz der Seele betrachten, beginnen wir zu erkennen, dass das Leben nicht nur als Veränderungen und Chancen gesehen werden kann, welche wir erfahren, wenn wir diese materielle Ebene durchlaufen. Wir verstehen, dass diese Welt nur eine von vielen ist und dass die Seele diejenige Form ist, durch welche das Leben weitergeht, nachdem unser materieller Körper entschwindet.
Im Buch 'Ährenlese' lesen wir dazu die Antwort Bahá’u’lláhs:
»Nun zu deiner Frage über die Seele des Menschen und ihr Fortleben nach dem Tode. Wisse wahrlich, dass die Seele nach ihrer Trennung vom Leibe weiter fortschreitet, bis sie die Gegenwart Gottes erreicht, in einem Zustand und einer Beschaffenheit, die weder der Lauf der Zeiten und Jahrhunderte noch der Wechsel und Wandel dieser Welt ändern können. Sie wird so lange bestehen, wie das Reich Gottes, Seine Allgewalt, Seine Herrschaft und Macht bestehen werden.«
Ein relevanter Punkt aus diesem letzten Zitat ist die Vorstellung, dass sich die Seele immer weiter in Richtung ihres Schöpfers bewegen wird. Wir können uns dann das Leben als das Besteigen eines Berges vorstellen. Jeder Schritt auf dem Weg hilft uns, unsere Muskeln zu entwickeln und uns gleichzeitig der Spitze einen Schritt näher zu bringen. Schon der bloße Akt, ein Attribut Gottes auszudrücken, indem wir wie Er sind, bringt uns Ihm näher.
Die Idee der Bewegung zu Gott ist wichtig zu verstehen, da sie die Sichtweise der Bahá'í in Bezug auf zwei Konzepte vermittelt, die allgemein mit dem Jenseits verbunden sind - „Himmel" und „Hölle". Diese werden nicht als tatsächliche physische Räume angesehen, in die sich Menschen begeben, aber wenn man bedenkt, dass der Sinn des Lebens darin besteht, Gott näher zu kommen - und näher zu kommen bedeutet, dass wir uns mehr an göttlichen Attributen orientieren -, ist der Himmel derjenige Zustand, in dem ein Mensch seine Vollkommenheit entwickelt hat und dann Gott nahe ist. Und die Hölle ist der Zustand, dem diese göttlichen Potenziale fehlen, was zu einer Abgeschiedenheit von Gott führt. Wenn wir uns also fragen, wo das Paradies und die Hölle sein sollen, kann die Antwort so einfach sein, wie sie Bahá’u’lláh äußerte:
»Sie fragen: "Wo ist das Paradies und wo die Hölle?" Sprich: "Das eine ist die Vereinigung mit Mir, das andere dein eigenes Selbst…«
‘Abdu’l-Bahá führt im Buch 'Beantwortete Fragen' weiter aus:
»Die Verschiedenheit der Art und der Stufe wird bei allen Menschen naturgemäß wahrgenommen, wenn sie aus dieser sterblichen Welt gegangen sind. Sie bezieht sich jedoch nicht auf den Raum, sondern auf die Seele und ihr Bewusstsein. Das Königreich Gottes ist über Raum und Zeit geheiligt; es ist eine andere Welt und ein anderes Weltall.«
»Die Belohnungen der anderen Welt sind Friede, geistige Tugenden, verschiedene geistige Gaben im Reiche Gottes, Erfüllung der Wünsche von Herz und Seele und Begegnung mit Gott in der Welt der Ewigkeit. In gleicher Weise bestehen die Strafen der anderen Welt, das heißt ihre Qualen, im Beraubtsein der besonderen göttlichen Segnungen und vollkommenen Gnadengaben und im Herabsinken auf die niedrigste Stufe des Seins. Jeder, der von diesen göttlichen Gunstbezeigungen ausgeschlossen ist, wird, obwohl er nach dem Tode weiterbesteht, vom Volk der Wahrheit als tot angesehen.«
In ähnlicher Weise besteht der Zweck des Lebens eines Embryos in der Welt der Materie darin, die für das Leben in dieser materiellen Welt erforderlichen Organe zu entwickeln, den Zweck unseres Lebens in dieser Welt, die geistigen Fähigkeiten zu entwickeln, die wir im nächsten Leben benötigen.
Der Tod ist dann eine Zustandsänderung in diesem Prozess der Bewegung der Seele zu Gott. Sie/Er beginnt, während der Mensch in embryonaler Form existiert, geht weiter durch unser materielles Leben und setzt sich nach dem Tod unseres Körpers fort.
Bei ‘Abdu’l-Bahá lesen wir im Buch 'Beantwortete Fragen':
»Anzunehmen, dass der Geist nach dem Tod des Körpers zugrunde gehe, ist wie die Vorstellung, daß ein Vogel in einem Käfig umkäme, wenn der Käfig zerbrochen wird, obwohl ja der Vogel von der Zerstörung des Käfigs nichts zu fürchten hat. Unser Körper ist dem Käfig und der Geist dem Vogel zu vergleichen. Wir sehen, dass ohne den Käfig dieser Vogel in der Welt des Schlafes fliegt; wenn daher der Käfig zerbricht, wird der Vogel unversehrt weiterleben; seine Empfindungen werden sogar tiefer, seine Wahrnehmungen weiter und sein Glück größer sein.«
Und während wir diese Reise fortsetzen, werden die Erfahrungen und das Leben, das wir in dieser irdischen Ebene haben, nicht vergessen:
Seelen erkennen einander wieder: lesen wir im Buch '... und zu Ihm kehren wir zurück':
»Zur Frage, ob die Seelen einander in der geistigen Welt wiedererkennen: Dies ist gewiss, denn das Gottesreich ist die Welt der Schau, wo alle verborgenen Wirklichkeiten erschlossen werden. Die Geheimnisse, die der Mensch in dieser irdischen Welt nicht beachtet, wird er in der himmlischen Welt entdecken, und dort wird ihm das Geheimnis der Wahrheit kund. Wieviel mehr noch wird er Personen, mit denen er zusammengewesen ist, wiedererkennen oder entdecken! Ohne Zweifel werden die heiligen Seelen, die zu reinem Schauen gelangen und mit Einblick begnadet sind, im Königreich des Lichts mit allen Geheimnissen vertraut, und sie werden nach der Gabe trachten, die Wirklichkeit jeder großen Seele zu bezeugen. Ja, sie werden die Schönheit Gottes in jener Welt deutlich schauen. Ebenso werden sie alle Freunde Gottes aus alten und jüngsten Zeiten in der himmlischen Versammlung vorfinden ...«
Bei der Erforschung der Natur unserer Seelen ist es vielleicht wichtig, sich daran zu erinnern, dass unser Verständnis von diesem "Geheimnis" immer unzureichend sein wird, Bahá’u’lláh schreibt im Buch 'Ährenlese':
»Die Geheimnisse des körperlichen Todes des Menschen und seiner Rückkehr sind nicht enthüllt und bleiben weiterhin ungedeutet.«
Und:
»Du hast Mich nach dem Wesen der Seele gefragt. Wisse wahrlich, dass die Seele ein Zeichen Gottes ist, ein himmlischer Edelstein, dessen Wirklichkeit die gelehrtesten Menschen nicht zu begreifen vermögen, und dessen Geheimnis kein noch so scharfer Verstand je zu enträtseln hoffen kann.«
Zur Bedeutung des Todes sagt Bahá’u’lláh im Buch 'Ährenlese':
»Der Tod bietet jedem vertrauenden Gläubigen den Kelch dar, der in Wahrheit Leben ist. Er schenkt Freude und ist ein Bote des Frohsinns. Er verleiht die Gabe ewigen Lebens.«
»Den Tod machte Ich dir zum Boten der Freude. Warum bist du traurig?«
»Du bist Mein Licht und Mein Licht verlöscht nie. Warum fürchtest du dein Verlöschen?«
Wollen wir uns zum Abschluss folgende Allegorie ‘Abdu’l-Bahás aus dem Buch 'Ansprachen in Paris' anschauen?
»Wenn ihr ein Spiegelglas zerbrecht, auf das die Sonne schien, so ist das Glas zerbrochen, die Sonne aber scheint noch immer. Wenn ein Käfig, in dem ein Vogel ist, zerstört wird, bleibt der Vogel unverletzt…. Das gleiche gilt für die Seele des Menschen. Wenn auch der Tod seinen Körper zerstört, so hat er doch keine Macht über seine Seele, die ewig, dauernd und frei von Geburt und Tod ist.«
Eine Bahá'í-Sicht auf die Evolution
Verschiedene populärwissenschaftliche Bücher[1] und Zeitschriftenartikel[2] verbreiten die Botschaft, die heutige Wissenschaft könne die Evolution des Lebens auf Erden quasi aus dem Nichts erklären. Darwin ersetzt in seiner Evolutionstheorie die freie Schöpferkraft Gottes durch die uneingeschränkte Kreativität der natürlichen Auslese. Gottes alles durchdringende Kraft weicht der Allmacht der Selektion[3]. Damit wird Gott als Schöpfer überflüssig[4]. Der Mensch gilt als das Produkt von Zufall und Notwendigkeit[5], als eine monströse Anhäufung von Zufällen, als ein vorläufiger Überlebender im Kampf der Tüchtigsten. Gegen diese Meinung laufen Kreationisten in den Vereinigten Staaten Sturm. Sie glauben, dass die Entstehung der Welt mehr oder weniger wörtlich der Schöpfungsgeschichte der Bibel gefolgt ist. Diese Sicht teilen etwa 47% der US-Amerikaner[6]. Es ist das erklärte Ziel verschiedener christlich-fundamentalistischer Gruppen in den Vereinigten Staaten, die Schöpfungsgeschichte im Rahmen des Biologieunterrichts behandeln zu lassen[7]. Gibt es wirklich nur diese beiden konträren Alternativen? Muss ich als religiöser Mensch die Erkenntnisse der modernen Biologie über die Evolution des Lebens auf der Erde ignorieren, um an Gott, an einen Schöpfer dieses Universums glauben zu können?
Eines der zentralen Prinzipien des jungen Bahá'í-Glaubens ist die Einheit von Religion und Wissenschaft. Bahá'u'lláh, ihr Stifter, und Sein Sohn `Abdu'l-Bahá haben zu den Themen Schöpfung, Kosmologie und Evolution ausführlich Stellung genommen.[8] Demnach erschuf Gott zuerst Seinen Willen, Seinen Befehl. Dieser formte anschließend die Welt, wie wir sie kennen: "Wahrlich, Gott schuf den Willen aus sich selbst heraus, dann schuf Er durch ihn alles, auf das der Begriff ‚Ding‘ anwendbar ist."[9]
Freiheit ist in diesem Universum nur durch den ausdrücklichen göttlichen Befehl eingeschränkt: "Die Natur ist Gottes Wille, dessen Ausdruck in der bedingten Welt und durch diese. Sie ist Teil des Waltens der Vorsehung, verordnet von dem Verordner, dem Allweisen"[10].
Als Grundmotiv für die Schöpfung nennt Bahá'u'lláh Liebe: "Ich liebte es, dich zu erschaffen, also erschuf ich dich"[11] und den Wunsch Gottes, erkannt zu werden: "Nachdem Er die Welt und alles, was darin lebt und webt, erschaffen hatte, wünschte Er durch das unmittelbare Wirken Seines unumschränkten, höchsten Willens, dem Menschen die einzigartige Auszeichnung und Fähigkeit zu verleihen, Ihn zu erkennen und zu lieben - eine Fähigkeit, die notwendigerweise als der gesamten Schöpfung zugrunde liegender schöpferischer Antrieb und Hauptzweck anzusehen ist."[12]
Nach den Bahá'í-Schriften bedeutet Schöpfung Möglichkeiten schaffen, die sich im Laufe der Zeit realisieren. Die Welt erhält die Fähigkeit, die Eigenschaften Gottes widerzuspiegeln. Da Gott auch die Zeit erschuf, existiert dieses Potenzial ewig, es bestand also bereits vor dem Urknall.
In Gesprächen und Briefen nimmt 'Abdu'l-Bahá ausführlich zum Thema Evolution Stellung. Sowohl das Universum als Ganzes, das Leben auf der Erde, als auch die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft sind das Ergebnis von Evolutionsprozessen. Unser Universum "erreichte Verwirklichung und vollkommenes Dasein erst nach einer sehr langen Zeit.[13] ... Nach und nach erscheinen die verschiedenen Lebensformen: ... die Pflanze, später das Tier und schließlich der Mensch."[14] 'Abdu'l-Bahá vergleicht die Entstehung der Welt und des Leben mit der Entwicklung eines Samens oder des menschlichen Embryos: "Ebenso war der Same dieser Blume hier im Anfang ein unbedeutendes, winziges Ding; er wuchs und entwickelte sich im Schoß der Erde und durchwanderte verschiedene Phasen, bis er als diese Blume in vollkommener Frische und Lieblichkeit in Erscheinung trat. Genauso ist es offenkundig, dass diese Erdkugel, nachdem sie einmal ins Dasein getreten war, im Schoß des Weltalls wuchs und sich entwickelte und in verschiedenen Phasen und Formen erschien, bis sie allmählich ihre heutige Vollkommenheit erlangte, mit zahllosen Geschöpfen geschmückt wurde und als fertiges Gefüge in Erscheinung trat."[15] Damit vertritt 'Abdu'l-Bahá eine biologisch-dynamische Entwicklung dieser Welt. Evolution ist in diesem Bild also weder beliebig oder zufällig, noch folgt sie, gleich einem Uhrwerk, einem strikten, fest gefügten Plan. Der genetische Plan bestimmt die Möglichkeiten eines Organismus, sein Potenzial. Die Einzelheiten seiner Entwicklung stehen damit allerdings nicht fest. Ganz analog liegen der Schöpfung eine Fülle von Möglichkeiten zugrunde, die Evolution entwickelt sich frei und kreativ im Rahmen dieses Potenzials. Eine Gott gegebene Natur formt, vergleichbar einem Künstler, die unbeschränkten Möglichkeiten dieses Universums zum Ebenbilde Gottes, als Ausdruck Seines Willens.
Die Evolution der menschlichen Gesellschaft gehört zu den zentralen Themen der Bahá'í-Theologie: "Alle Menschen wurden erschaffen, eine ständig fortschreitende Kultur voran zu tragen."[16]
Die wichtigste Triebkraft für diese Entwicklung ist das Wort Gottes, das immer wieder von Gottes Boten vermittelt wird und der Menschheit neue Dimensionen öffnet: "Der allwissende Arzt legt Seinen Finger an den Puls der Menschheit. Er erkennt die Krankheit und verschreibt in Seiner unfehlbaren Weisheit das Heilmittel, jede Zeit hat ihr eigenes Problem, jede Seele ihre besondere Sehnsucht."[17]
Die Menschheit hat sich durch verschiedene Stadien hindurch entwickelt, um heute eine globale Gesellschaft aufzubauen, um das "Himmelreich" auf Erden zu errichten.
Bahá'u'lláhs Weltordnung "... stellt die Vollendung der menschlichen Entwicklung dar, einer Entwicklung, die ihren Uranfang in der Geburt des Familienlebens hat, deren weitere Entfaltung zur Stammeseinheit und zur Bildung des Stadtstaates führte, und die sich später zur Bildung unabhängiger, souveräner Nationen erweiterte. Das Prinzip der Einheit der Menschheit, wie Bahá'u'lláh es verkündet, bringt nicht mehr und nicht weniger als die heilige Versicherung mit sich, dass der Durchbruch zu dieser letzten Stufe einer unendlich langen Entwicklung nicht nur notwendig, sondern unumgänglich ist, dass sich seine Verwirklichung rasch nähert und dass nichts außer einer Kraft, die aus Gott geboren ist, ihn erfolgreich herbeiführen kann."[18]
Jeder einzelne Mensch hat die Aufgabe, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten zu entwickeln: "Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschätzbarem Wert. Nur die Erziehung kann bewirken, dass es seine Schätze enthüllt und die Menschheit daraus Nutzen zu ziehen vermag"[19]. Der Mensch kann seine positive, oder auch seine böse Seite hervorheben: "Der Mensch steht auf der höchsten Stufe der Materie und am Anfang der Geistigkeit... Er hat die tierische Seite so gut wie die engelgleiche Seite; und das Ziel eines Erziehers ist, die menschlichen Seelen so zu bilden, dass ihre engelhafte Seite ihre tierische überwinden kann."[20]
Der Mensch wird nicht durch sein Sein, sondern durch seine gottgegebenen Möglichkeiten, sein Potenzial definiert: Der Mensch ist fähig, sich zur Krone der Schöpfung zu erheben.[21]
Die Stufe des Menschen wird von seinem Bemühen geprägt, seine Möglichkeiten zu entfalten und so Gott näher zu kommen. Wer dagegen den Menschen durch sein biologisches Erbe definieren will, ist wie jemand, der nicht erwachsen werden will, weil seine Wurzeln in der Kindheit liegen.
Aber lässt sich diese Vorstellung durch Erfahrung stützen, dass die komplexe biologische Ordnung potenziell von Anfang an besteht? War also ein "... Brüllaffe potenziell seit dem Anfang der Welt da"?[22] 'Abdu'l-Bahá selbst steuerte in Gesprächen verschiedene Argumente zur Stützung Seiner These bei. Nach Darwin ist es die natürliche Auslese, die neue biologische Ordnung schafft.[23] Als Voraussetzung für die Kreativität der natürlichen Auslese nennt Darwin, dass die Variabilität der Kinder im Vergleich zu ihren Eltern nicht wesentlich durch Bedingungen eingeschränkt wird, die nicht durch die Selektion bestimmt werden[24]. 'Abdu'l-Bahá zeigt in einem einfachen Gedankenexperiment, dass Darwins Forderung nach gleichmäßiger Variabilität nicht gegeben ist. Beliebige Mischungen der chemischen Elemente, aus denen ein Organismus zusammengesetzt ist, erzeugen keine neuen, lebensfähigen Organismen: "Daher ist es klar, dass es die Schöpfung Gottes ist und nicht eine zufällige Zusammensetzung und Anordnung. Darum kann von jeder natürlichen Zusammensetzung ein Geschöpf ins Dasein treten, aus einer zufälligen Vermischung aber nicht."[25] Selbst kleine Abweichungen von den natürlichen, atomaren Anordnungen in einem Lebewesen führen im Allgemeinen zum Tod[26]. Nur wenn die Maurer den Plänen des Architekten folgen, entsteht ein bewohnbares Haus. Beliebige Anordnungen von Steinen schaffen keine gemütliche Wohnung. Damit widerlegt 'Abdu'l-Bahá die Idee, dass Ordnung durch Änderungen der bestehenden neu entstehen kann.
Wenn aber natürliche Auslese die komplexe biologische Ordnung nicht erzeugt, woher kommt sie dann? Vielleicht besteht die Ordnung bereits implizit, vielleicht sind komplexe Strukturen eine emergente Eigenschaft der Natur? Damit wird das Problem allerdings lediglich verschoben. Aber gibt es denn Hinweise, dass dies der Fall sein könnte? Eine einfache Wachskerze brennt unter bestimmten Bedingungen. Wir wissen aus der Geschichte, dass vor 1000 Jahren bereits derartige Kerzen verwendet wurden, also auch damals brannten. Unter geeigneten Bedingungen hätten sie sicher auch vor einer Million oder einer Milliarde von Jahren gebrannt. "Wenn zum Beispiel in hunderttausend Jahren Öl, Feuer, ein Docht, eine Lampe und jemand, der sie anzündet, kurz alles, was man jetzt braucht, zur Hand ist, wird diese Lampe genauso brennen."[27] Aus der Analyse des Lichtes entfernter Sterne weiß man, dass die Eigenschaften der chemischen Elemente sich über kosmologische Zeiträume praktisch nicht geändert haben. Mit anderen Worten, es wäre eine wissenschaftliche Sensation, wenn man feststellen würde, dass vor hunderttausend Jahren Kerzen nicht gebrannt hätten.
Im Vergleich zu den biochemischen Prozessen innerhalb von Organismen ist die Chemie beim Abbrennen einer Kerze relativ einfach. Kann man also diese Überlegung einfach auf Lebewesen übertragen? Die Funktionsweise der Zellen beruht auf der Biochemie der chemischen Elemente, wie die Funktion von Computern von den physikalischen Gesetzen seiner Hardware bestimmt wird. Da sich auch die Biochemie in den letzten Milliarden Jahren voraussichtlich nicht geändert hat, kann man davon ausgehen, dass unter geeigneten Bedingungen die heutigen Arten auch vor vielen Millionen Jahren lebensfähig gewesen wären: "Da die Vollkommenheit des Menschen völlig auf die Zusammensetzung der Atome der Elemente, auf ihr Verhältnis, auf die Art ihrer Verbindung und auf die gegenseitige Beeinflussung und Einwirkung der verschiedenen Seinsformen zurückzuführen ist und weil der Mensch vor zehn- oder hunderttausend Jahren aus diesen irdischen Elementen in demselben Verhältnis und der gleichen Ausgewogenheit, nach derselben Methode der Verbindung und Vermischung und unter der gleichen Einwirkung der Umwelt geschaffen wurde, lebte genau derselbe Mensch damals wie heute. Dies ist offensichtlich und keiner weiteren Erörterung wert. In tausend Millionen Jahren wird genau derselbe Mensch leben, wenn seine Elemente zusammengebracht und in diesem besonderen Verhältnis geordnet werden, wenn die Elemente auf dieselbe Art verbunden werden und wenn sie durch die gleiche Einwirkung der Umwelt beeinflusst werden."[28] Wenn diese Überlegung aber stimmt, dann wird die komplexe biologische Ordnung nicht von der natürlichen Auslese erschaffen, sondern in einer praktisch unbeschränkten Fülle von Möglichkeiten gefunden. Zunächst potenzielle Ordnung wird in tatsächliche umgewandelt. Dieses zweite Argument von 'Abdu'l-Bahá verwendet das Prinzip, dass nur solche Phänomene wissenschaftlich analysiert werden können, die sich zumindest im Prinzip immer und überall wiederholen lassen.
Aber ist die darwinsche Evolutionstheorie nicht viel zu gut experimentell bestätigt, als dass man sie durch ein paar einfache Argumente widerlegen könnte? Neben streng wissenschaftlichen Komponenten, die sich empirisch gut bewährt haben, gibt es in Darwins Evolutionstheorie auch mehr naturphilosophische Aspekte[29]. Die Gültigkeit der durch Tatsachen belegten wissenschaftlichen Aspekte dieser Theorie wird ohne weitere Prüfung auf ungetestete philosophische Gedanken übertragen. Wie ließe sich zum Beispiel die Kreativität, die Allmacht der natürlichen Auslese durch Fakten stützen? Wenn die natürliche Auslese wirklich neue Ordnung schafft, bedeutet das, dass die Wirkung einer bestimmten Mutation zu einem bestimmten Zeitpunkt geschaffen wurde. Vor diesem Zeitpunkt hätte die selbe Mutation eine andere Wirkung gehabt, als danach.[30]
Andernfalls gilt 'Abdu'l-Bahás Argument, dass vor einer Milliarde Jahre derselbe Mensch gelebt hätte wie heute. Mit anderen Worten, die Bahá'í-Schriften kritisieren nicht die Evolutionstheorie als solche, sondern lediglich gewisse empirisch unbestätigte naturphilosophische Aspekte.
Die Bahá'í-Schöpfungsmythologie dreht sich zuallererst um den freien, uneingeschränkten, kreativen Willen Gottes, der die gesamte Schöpfung gebiert. Diese Welt ist im innersten Wesen als Abbild Gottes komplex und drängt danach, die Eigenschaften Gottes immer vollkommener widerzuspiegeln. Dabei schöpft sie in einem organisch dynamischen Prozess aus der Fülle der Möglichkeiten, den Willen Gottes auszudrücken.
Das Paradigma der Evolution durchzieht in den Bahá’í-Schriften alle Seinsebenen: das Universum als ganzes, das Leben auf der Erde, die menschliche Gesellschaft und sie zeigt sich in der Entwicklung jedes Einzelnen.
Die edle Natur des Menschen beruht auf seinen Anlagen und Fähigkeiten, und nicht auf seiner biologischen Herkunft. Durch seine Gesinnung und sein Handeln kann er sich der Stufe als Krone der Schöpfung würdig erweisen.
[1] zum Beispiel Richard Dawkins, Der blinde Uhrmacher, DV München, 1996
[2] zum Beispiel Spiegel 2005 (52), 136-141, Spektrum der Wissenschaften 2000 (9), 62-67
[3] A. Weismann, Comtemp. Rev. 1893 (64) 309-338
[4] Peter Atkins, Schöfpung ohne Schöpfer, Rohwohl, Hamburg 1984
[5] Jaques Monod, Zufall und Notwendigkeit, DTV München, 1975
[6] zitiert in Chet Raymo, Skeptics and True Believers, Warner, New York, 1998, S. 122
[7] Spiegel, ibid.
[8] siehe auch: Keven Brown, Evolution & Bahá'í Belief, Kalimát, Los Angeles, 20001 und Eberhard von Kitzing, Evolution oder Schöpfung - zwei sich ausschließende Konzepte? S. 179 ff in 'Irfán-Studien zum Bahá'í-Schrifttum, Bahá'í-Verlag, Hofheim, 2004
[9] The Báb Amr va Khalq, Band 1, S. 100, nicht überprüfte Übersetzung von Keven Brown: "God, verily, created the Will from nothing through itself, then He created through it all that to which the name 'thing' can be applied."
[10] Bahá'u'lláh, Botschaften aus Akká, Bahá'í-Verlag, Hofheim, 1982
[11] Bahá'u'lláh, Verborgene Worte, arabisch 4, Bahá'í-Verlag, Hofheim, 2003
[12] Bahá'u'lláh, Ährenlese, 27:2, Bahá'í-Verlag, Hofheim, 2003
[13] 'Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen, 47:3, Bahá'í-Verlag, Hofheim, 1998
[14] 'Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen, 51:6
[15] 'Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen, 47:5
[16] Bahá'u'lláh, Ährenlese, 109:2
[17] Bahá'u'lláh, Ährenlese, 106:1
[18] Shoghi Effendi, Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 71, Bahá'í-Verlag, Hofheim, 1977
[19] Bahá'u'lláh, Ährenlese, 122:1
[20] 'Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen, 64:2
[21] Udo Schaefer, Was ist der Mensch?, Bahá'í-Verlag, Hofheim, 2003
[22] Carl von Weizsäcker, "Die Geschichte der Natur", Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 1992, S. 92
[23] Aber was versteht man genau unter natürlicher Auslese? Sie besteht aus zwei Schritten. Mutation und Rekombination schaffen eine Vielzahl von Varianten. Es werden immer mehr Nachkommen gezeugt, als die Umwelt ernähren kann. Das Überleben des Tüchtigsten stellt anschließend sicher, dass vor Allem die erfolgreichen Gene überleben (Ernst Mayr, Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, Berlin 2002; Richard Dawkins, Der blinde Uhrmacher)
[24] eine sorgfältige Analyse der Voraussetzungen der darwinschen Theorie siehe Stephen Gould, The Structure Evolutionary Theory, Harward University Press, Cambridge 2002
[25] 'Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen 47:4
[26] So überlebt ein Hamster nicht lange in einer Mikrowelle.
[27] 'Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen 46:5
[28] 'Abdu'l-Bahá, Beantwortete Fragen, 46:5
[29] Ernst Mayr, Spektrum der Wissenschaften 2000 (9), 62-67, betont Darwins naturphilosophische Beiträge
[30] Denn wenn die natürliche Auslese die Wirkung bestimmter Mutationen nicht ändert, ist sie nicht schöpferisch, sondern finderisch.
Seite 7 von 7