Gibt es ein Leben nach dem Tod?
Religionen werden oft als Mittel gesehen, um Fragen darüber zu beantworten, was passiert, nachdem wir verstorben sind. Wird es nach dem letzten Atemzug unseres Körpers keine absolute Existenz mehr geben? Gibt es überhaupt ein Leben nach dem Tod? Und wenn ja: werden wir uns an unser Leben auf dieser Erde erinnern? Kommen wir wirklich in den Himmel oder in die Hölle?
Um das Konzept des Lebens nach dem Tod besser zu verstehen, kann es hilfreich sein, zunächst die Realität der menschlichen Seele zu betrachten.
Bahá’u’lláh lehrt, dass die Seele unsterblich ist. Sie befindet sich auf einer ewigen Reise durch die Welten Gottes. Im Augenblick der Zeugung erscheint die Seele im Ungeborenen und erhält so ihre Individualität.
Die Seele hat ihren Ursprung in den geistigen Welten Gottes. Sie ist erhaben über die Materie und die physische Welt. Seele und Körper stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Die Beziehung der Seele zum Körper ist ähnlich wie jene des Lichts der Sonne zu einem Spiegel, welcher das Sonnenlicht reflektiert. Das Licht, welches im Spiegel erscheint, ist nicht in diesem; es kommt von einer Quelle außerhalb. Ebenso ist die Seele nicht im Körper; es besteht eine besondere Beziehung zwischen ihr und dem Körper, und zusammen bilden sie einen Menschen.
Bahá’u’lláh sagt uns im Buch 'Ährenlese':
»Wahrlich, Ich sage, die menschliche Seele ist über allen Austritt und alle Rückkehr erhaben. Sie ist in Ruhe und doch schwingt sie sich auf; sie schreitet fort, und doch ist sie in Ruhe. Sie ist in sich selbst Beweis für das Dasein einer bedingten Welt wie auch für die Wirklichkeit einer Welt, die weder Anfang noch Ende hat. Siehe, wie dein Traum nach vielen Jahren vor deinen Augen wieder abrollt. Bedenke, wie seltsam das Geheimnis der Welt ist, die dir im Traum erscheint. Bewege die unerforschliche Weisheit Gottes in deinem Herzen und versenke dich in ihre mannigfaltigen Offenbarungen...«
Die Seele ein Spiegelbild der Attribute Gottes
Ein "Zeichen Gottes" zu sein, kann also bedeuten, dass die Seele ein Spiegelbild der Attribute Gottes und damit ein Ausdruck Seiner Existenz ist. Deshalb sind die Attribute unserer Seele, wie Liebe, Geduld und Vergebung, Zeichen Gottes.
Wenn wir die Existenz der Seele betrachten, beginnen wir zu erkennen, dass das Leben nicht nur als Veränderungen und Chancen gesehen werden kann, welche wir erfahren, wenn wir diese materielle Ebene durchlaufen. Wir verstehen, dass diese Welt nur eine von vielen ist und dass die Seele diejenige Form ist, durch welche das Leben weitergeht, nachdem unser materieller Körper entschwindet.
Im Buch 'Ährenlese' lesen wir dazu die Antwort Bahá’u’lláhs:
»Nun zu deiner Frage über die Seele des Menschen und ihr Fortleben nach dem Tode. Wisse wahrlich, dass die Seele nach ihrer Trennung vom Leibe weiter fortschreitet, bis sie die Gegenwart Gottes erreicht, in einem Zustand und einer Beschaffenheit, die weder der Lauf der Zeiten und Jahrhunderte noch der Wechsel und Wandel dieser Welt ändern können. Sie wird so lange bestehen, wie das Reich Gottes, Seine Allgewalt, Seine Herrschaft und Macht bestehen werden.«
Ein relevanter Punkt aus diesem letzten Zitat ist die Vorstellung, dass sich die Seele immer weiter in Richtung ihres Schöpfers bewegen wird. Wir können uns dann das Leben als das Besteigen eines Berges vorstellen. Jeder Schritt auf dem Weg hilft uns, unsere Muskeln zu entwickeln und uns gleichzeitig der Spitze einen Schritt näher zu bringen. Schon der bloße Akt, ein Attribut Gottes auszudrücken, indem wir wie Er sind, bringt uns Ihm näher.
Die Idee der Bewegung zu Gott ist wichtig zu verstehen, da sie die Sichtweise der Bahá'í in Bezug auf zwei Konzepte vermittelt, die allgemein mit dem Jenseits verbunden sind - „Himmel" und „Hölle". Diese werden nicht als tatsächliche physische Räume angesehen, in die sich Menschen begeben, aber wenn man bedenkt, dass der Sinn des Lebens darin besteht, Gott näher zu kommen - und näher zu kommen bedeutet, dass wir uns mehr an göttlichen Attributen orientieren -, ist der Himmel derjenige Zustand, in dem ein Mensch seine Vollkommenheit entwickelt hat und dann Gott nahe ist. Und die Hölle ist der Zustand, dem diese göttlichen Potenziale fehlen, was zu einer Abgeschiedenheit von Gott führt. Wenn wir uns also fragen, wo das Paradies und die Hölle sein sollen, kann die Antwort so einfach sein, wie sie Bahá’u’lláh äußerte:
»Sie fragen: "Wo ist das Paradies und wo die Hölle?" Sprich: "Das eine ist die Vereinigung mit Mir, das andere dein eigenes Selbst…«
‘Abdu’l-Bahá führt im Buch 'Beantwortete Fragen' weiter aus:
»Die Verschiedenheit der Art und der Stufe wird bei allen Menschen naturgemäß wahrgenommen, wenn sie aus dieser sterblichen Welt gegangen sind. Sie bezieht sich jedoch nicht auf den Raum, sondern auf die Seele und ihr Bewusstsein. Das Königreich Gottes ist über Raum und Zeit geheiligt; es ist eine andere Welt und ein anderes Weltall.«
»Die Belohnungen der anderen Welt sind Friede, geistige Tugenden, verschiedene geistige Gaben im Reiche Gottes, Erfüllung der Wünsche von Herz und Seele und Begegnung mit Gott in der Welt der Ewigkeit. In gleicher Weise bestehen die Strafen der anderen Welt, das heißt ihre Qualen, im Beraubtsein der besonderen göttlichen Segnungen und vollkommenen Gnadengaben und im Herabsinken auf die niedrigste Stufe des Seins. Jeder, der von diesen göttlichen Gunstbezeigungen ausgeschlossen ist, wird, obwohl er nach dem Tode weiterbesteht, vom Volk der Wahrheit als tot angesehen.«
In ähnlicher Weise besteht der Zweck des Lebens eines Embryos in der Welt der Materie darin, die für das Leben in dieser materiellen Welt erforderlichen Organe zu entwickeln, den Zweck unseres Lebens in dieser Welt, die geistigen Fähigkeiten zu entwickeln, die wir im nächsten Leben benötigen.
Der Tod ist dann eine Zustandsänderung in diesem Prozess der Bewegung der Seele zu Gott. Sie/Er beginnt, während der Mensch in embryonaler Form existiert, geht weiter durch unser materielles Leben und setzt sich nach dem Tod unseres Körpers fort.
Bei ‘Abdu’l-Bahá lesen wir im Buch 'Beantwortete Fragen':
»Anzunehmen, dass der Geist nach dem Tod des Körpers zugrunde gehe, ist wie die Vorstellung, daß ein Vogel in einem Käfig umkäme, wenn der Käfig zerbrochen wird, obwohl ja der Vogel von der Zerstörung des Käfigs nichts zu fürchten hat. Unser Körper ist dem Käfig und der Geist dem Vogel zu vergleichen. Wir sehen, dass ohne den Käfig dieser Vogel in der Welt des Schlafes fliegt; wenn daher der Käfig zerbricht, wird der Vogel unversehrt weiterleben; seine Empfindungen werden sogar tiefer, seine Wahrnehmungen weiter und sein Glück größer sein.«
Und während wir diese Reise fortsetzen, werden die Erfahrungen und das Leben, das wir in dieser irdischen Ebene haben, nicht vergessen:
Seelen erkennen einander wieder: lesen wir im Buch '... und zu Ihm kehren wir zurück':
»Zur Frage, ob die Seelen einander in der geistigen Welt wiedererkennen: Dies ist gewiss, denn das Gottesreich ist die Welt der Schau, wo alle verborgenen Wirklichkeiten erschlossen werden. Die Geheimnisse, die der Mensch in dieser irdischen Welt nicht beachtet, wird er in der himmlischen Welt entdecken, und dort wird ihm das Geheimnis der Wahrheit kund. Wieviel mehr noch wird er Personen, mit denen er zusammengewesen ist, wiedererkennen oder entdecken! Ohne Zweifel werden die heiligen Seelen, die zu reinem Schauen gelangen und mit Einblick begnadet sind, im Königreich des Lichts mit allen Geheimnissen vertraut, und sie werden nach der Gabe trachten, die Wirklichkeit jeder großen Seele zu bezeugen. Ja, sie werden die Schönheit Gottes in jener Welt deutlich schauen. Ebenso werden sie alle Freunde Gottes aus alten und jüngsten Zeiten in der himmlischen Versammlung vorfinden ...«
Bei der Erforschung der Natur unserer Seelen ist es vielleicht wichtig, sich daran zu erinnern, dass unser Verständnis von diesem "Geheimnis" immer unzureichend sein wird, Bahá’u’lláh schreibt im Buch 'Ährenlese':
»Die Geheimnisse des körperlichen Todes des Menschen und seiner Rückkehr sind nicht enthüllt und bleiben weiterhin ungedeutet.«
Und:
»Du hast Mich nach dem Wesen der Seele gefragt. Wisse wahrlich, dass die Seele ein Zeichen Gottes ist, ein himmlischer Edelstein, dessen Wirklichkeit die gelehrtesten Menschen nicht zu begreifen vermögen, und dessen Geheimnis kein noch so scharfer Verstand je zu enträtseln hoffen kann.«
Zur Bedeutung des Todes sagt Bahá’u’lláh im Buch 'Ährenlese':
»Der Tod bietet jedem vertrauenden Gläubigen den Kelch dar, der in Wahrheit Leben ist. Er schenkt Freude und ist ein Bote des Frohsinns. Er verleiht die Gabe ewigen Lebens.«
»Den Tod machte Ich dir zum Boten der Freude. Warum bist du traurig?«
»Du bist Mein Licht und Mein Licht verlöscht nie. Warum fürchtest du dein Verlöschen?«
Wollen wir uns zum Abschluss folgende Allegorie ‘Abdu’l-Bahás aus dem Buch 'Ansprachen in Paris' anschauen?
»Wenn ihr ein Spiegelglas zerbrecht, auf das die Sonne schien, so ist das Glas zerbrochen, die Sonne aber scheint noch immer. Wenn ein Käfig, in dem ein Vogel ist, zerstört wird, bleibt der Vogel unverletzt…. Das gleiche gilt für die Seele des Menschen. Wenn auch der Tod seinen Körper zerstört, so hat er doch keine Macht über seine Seele, die ewig, dauernd und frei von Geburt und Tod ist.«