Prozesse führen kann jeder
Referent. Dr. Thomas Floeth
Ein Blick in die Geschichtsbücher suggeriert dem Leser: Die Geschicke der Menschheit liegen in der Hand von „Führern“, seien es Kaiser, Könige, Fürsten, Stammeshäuptlinge oder manchmal auch geniale Wissenschaftler.
Anderseits scheint in jüngster Zeit ein anderer Wind zu wehen: da ist von Teams die Rede, hinter jedem Führer tauchen eine Gruppe von Beratern auf, an der Seite dominierender Männern werden nicht unbedingt dominierende, gleichwohl aber erfolgreiche Frauen sichtbar usw..
Wohin weht dieser Wind? Und was hat er zu bedeuten?
Diesen Fragen möchte der Vortrag nachgehen. Nach einem Rückblick auf die Vergangenheit will er herausarbeiten, welcher Art Leitung und Führung unsere Zeit braucht. Er zeigt, dass die heutige Entwicklung am ehesten in einem Prozessdenken verstanden werden kann. Ein Prozess wird jedoch nicht durch einen traditionellen Führer gesteuert sondern durch alle Prozessteilnehmer und zwar jeweils durch denjenigen, der ihm zur Zeit am besten dienen kann. Die Anführer von Prozessen sind wir alle im Zweifelsfall also selbst – mit gravierenden Folgen für die Weltgeschichte, aber auch für uns ganz persönlich: für unsere Arbeitswelt, unsere Partnerschaften, unser Familienleben usw..
Über diese Ideen und die konkreten Konsequenzen für unser Leben möchte der Autor gerne mit den Besuchern ins Gespräch kommen.
Vorrede
Was soll das ganze Gerede von den Prozessen?
- Ein neues Modewort, um zu zeigen, dass alles noch komplizierter ist als erwartet?
- Oder dass niemand so recht Schuld hat an dem was gerade passiert:
Die Trennung in einer Ehe liegt nicht daran, dass ein Mann seine Frau hintergeht. Nein, es war ein Prozess, innerhalb dessen die beiden sich auseinandergelebt haben „ Wissen Sie, das Ganze ist so im Laufe eines langen Prozesses entstanden ....“ – so einfach ist das ...
Also: Das Ende aller Verantwortung dank Prozessdenken? Wer Bahá'í kennt, weiß, dass die so nicht denken. Immerhin geht es in der Bahá'í-Religion wie in jeder anderen Weltreligion darum, eine neue (oder auch sehr alte) Ethik in der Welt wirksam werden zu lassen. Und Ethik hat immer etwas mit Verantwortung zu tun.
Ich behaupte, dass auch in jedem Prozess persönliche Verantwortungen zentral ist, dass Prozesse nicht einfach ablaufen, sondern von Menschen geführt werden. Und dass es sich hierbei um eine ganz besondere Art von Führung handelt.
Ich möchte heute Abend zeigen:
- dass es gar nicht dumm ist, in Prozessen zu denken.
- welche Folgen ein solches Denken hat und besonders
- wie in einem solchen Denken Führung und Verantwortung neu verortet werden können.
- und welche Folgen das für unseren Alltag haben kann.
Die Reise, auf die ich Sie mitnehmen möchte hat 4 Stationen:
I. Prozess: Wachstum, Systemlogik und Sachzwänge
II. Führung: traditionelle Führungsstile und der demokratische Führungsstil
III. Prozess-Führung
IV. Die ethische Prozessführung
I. Das Prozessdenken
Woher kommt dieses Denken eigentlich überhaupt und was will es bedeuten?
1. Wachstumsdenken.
Eigentlich ist das Denken in Prozessen des Wachstums sehr alt.
Jeder Landwirt oder Hobbygärtner kennt sich darin aus.
Ein Gärtner, der einen Apfelbaum pflanzt, wird motiviert vom Wissen um die Früchte. Er kann jedoch an den Früchten, dem Ergebnis eines Wachstumsprozesses, nichts ändern. Nur den Prozess des Wachstums selbst kann er beeinflussen
Hinderlich sind dabei:
Ungeduld: es gibt keine Abkürzungen, Trockenheit, Schädlinge, Sturm,
Förderlich sind dagegen:
Wasser, Dünger, Sonne, Beschneiden, Veredeln, Liebe / Zuwendung, Befruchtung, Schutz, Stütze
Was schadet dem Prozess: Die Illusion der Abkürzung!!
Die Idee, sofort Früchte zu bekommen, ein Leben nur auf der sonnigen Seite des Lebens usw.; führt zur eigenen Lösungsunfähigkeit/-unwilligkeit
Gegen Ungeduld – Geduld! Aber: Geduld setzt voraus, dass man den Wachstumsprozess kennt (Gärtner) und in ihn vertraut! Sonst ist Geduld nur Tatenlosigkeit.
Wir müssen dazu Wissen über den Prozess erlangen!
Ohne klare Ziele hat man kein klares Bewusstsein von Problemen in einer Entwicklung und von der Unterstützung, die ein Prozess gerade jetzt braucht.
Folgerungen: Eigenschaften für Wachstumsdenken:
- Erfahrung, Weitblick, Geduld
- Neugier, Lernbereitschaft und Fehlerfreundlichkeit
(Eigenschaften von Jugend + Reife; die Beziehung von Jung und Alt ein Grund für die fehlenden Problemlösungen in unserer Zeit?!
2. Systemlogik.
Ein zweites Standbein hat das Prozessdenken in der Systemlogik. Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass in den letzten 20, 30 Jahren verstärkt von Systemen die Rede ist? Nicht nur von Computersystemen, sondern auch von Handlungssystemen, von Systemzwängen, Systemfehlern, Systemopfern, Systemschwächen usw..
Gemeint ist damit meist, dass Dinge und Entwicklungen in irgendwie logischen Sinnzusammenhängen stehen. Man hat erkannt, dass Ursache und Wirkung oft sehr viel komplizierter zusammenpassen, als auf den ersten Blick erkennbar, dass sich Wirkungsketten über lange Zeiträume und große Entfernungen zurückverfolgen lassen. Man spricht von komplexen Systemen.
Und im Zusammenhang mit Wirtschaftsunternehmen aber auch mit Eingriffen in die Natur wird es immer wichtiger, möglichst weitblickende Zusammenhänge noch mitdenken zu können. In Debatten um das Ozonloch z.B. rechnet man bereits mit Wirkungsketten von Jahrhundertdauer ....
Die Regeln solcher Systeme zu bestimmen, ist hierbei die Kunst. Und man schafft immer aufwändigere Methoden, um dies zu tun.
Gleichzeitig entdeckt man aber, dass z.B. viele Ureinwohner über ein solches Systemwissen hinsichtlich ihrer Umwelt immer schon verfügt haben und ihr Handeln genau den Systemnotwendigkeiten vor Ort entspricht.
System + Entwicklung:
Als Zeichen des Lebens entwickeln sich auch Systeme weiter, d.h. sie kennen Wachstum, übersetzt in Systemlogik heißt das: Systeme haben Feedback-Schleifen, d.h. sie lernen und entwickeln sich dann, wenn es ein Feedback, eine Resonanz oder Blockade gibt: Man stößt an etwas, an eine Grenze. Das sind dann Systemkrisen, die zu neuem veränderten Handeln zwingen.
Folgerungen daraus:
Um in Systemen denken zu können brauche ich die Fähigkeit, Zusammenhänge überhaupt wahrnehmen zu lernen:
Wie komme ich von einem Denken in Einzelereignissen (ich halte hier und heute einen Vortrag) zum Denken in Zusammenhängen: In welchem Zusammenhang kann man dieses Ereignis „Vortrag“ verstehen: als Schritt in meinem Entwicklungsweg, als Element der Essener Bahá'í-Gemeinde-Entwicklung als Puzzlestein im Denken eines hier Anwesenden Zuhörers usw.
Es gibt eigentlich keine Ereignisse, die plötzlich alles ändern, immer existiert ein System, ein Sinnzusammenhang, der das Ereignis einbettet. Wachstumsprozesse innerhalb eines Systems haben keine Sprünge, d.h. wir machen nicht alles neu, sondern bauen auf den Taten und Erfahrungen der Vergangenheit auf.
Prozesswissen lässt sich auch durch das Studium des Vergangenen erwerben: was ist gut, was nicht so gut gelaufen. Viele Dinge sind vielleicht auf einer Ebene verloren gegangen, weil sie als misslungene Einzelereignis, nicht aber als Baustein von Prozessen verstanden wurden. Auf einer anderen Ebene ist überhaupt nichts verlorengegangen, weil alle Bemühungen irgendeine Resonanz im Wachstumsprozess finden.
3. Sachzwänge:
Heute redet man gerne, besonders in der Politik, von Sachzwängen. Da hinter verbergen sich zwei Tendenzen:
Der Sachzwang hilft als Argument dem einzelnen, keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Wenn in Berlin der Kulturetat aus Sachzwang heraus radikal gekürzt wird, liegt dies nicht in der Verantwortung der zuständigen Politiker, sondern ist ein von außen quasi unmenschlich vorgegebener Zwang. So können auch Mitarbeiter ohne Gewissensbisse entlassen oder Erziehungslücken übergangen werden. Und wenn Erwachsene ihr Leben eingerichtet haben, so kann dies manchen Sachzwang für die Kinder bedeuten, aber an dem kann man leider nichts ändern.
Der Sachzwang wird aber auch von der Erkenntnis um Systemlogiken gespeist. Man versteht, dass hier komplexe Zusammenhänge wirken, die vieles Tun quasi zwangsläufig nach sich ziehen. Die Verantwortung, die für solche Systeme angemessen ist, ist nicht unbedingt die gleiche, die wir von früher her gewohnt sind ...
Wie trägt man Verantwortung in Systemen?
Jetzt reden wir über Prozess-Führung .....
II. Führung
Was verbinden wir eigentlich normalerweise mit Führung?
Der Begriff ist in Deutschland ziemlich negativ besetzt seit hier der Führer sein tausendjähriges Unwesen getrieben hat. Worte wie Führung oder Führerschaft, die in anderen Ländern gang und gäbe sind, kommen manchem hier nur noch schwer von den Lippen.
Dennoch brauchen wir so etwas wie Führung und Führungsqualitäten, auch jetzt in Zeiten von Systemen und Prozessen, von Sachzwängen und ...
Allerdings könnte es sich um eine andere Art von Führung handeln als wir sie gewohnt sind.
Traditionell: Was sind wir gewohnt?
Ich will hier mal 4 Typen von Führung kurz vorstellen, die wir alle kennen:
- der autoriäre Führungsstil
- der paternalistische oder maternalistische Führungsstil
- der allwissende Führungsstil und
- der manipulative Stil
Sie kommen so nicht in Reinform vor, aber ihre Tendenzen sind unverkennbar. Dem einen oder anderen sind wir bestimmt schon häufiger begegnet. Ja, wir werden feststellen, dass wir in unserem eigenen Tun oft genug Aspekte des einen oder anderen selbst an den Tag legen.
a.) Der autoritäre Führer
- gibt Befehle
- hört nicht zu
- droht
- erwartet sofortigen, exakten Gehorsam
Von einer Gruppe kann ein solcher Führer erwarten:
- Widerstand
- Anpassung und Unterwerfung
- Zorn, Gewalt, offene Opposition
- Die eigene Initiative ist unterdrückt
b.) Der pater- bzw. maternalistische Führer
Ein solche Führungsperson
- wünscht das Wohlergehen der Gruppe
- ist Überprotektiv
- wirkt kontrollierend
- erfreut sich u.U. daran, die Abhängigkeit der anderen zu sehen
Die Gruppe reagiert mit:
- Abhängigkeit und Unbeholfenheit
- Passivität und vermindertem Selbstbewusstsein
- entwickelt ihre Fähigkeiten nicht
- bequem! (falls der Führer wechselt, wollen sie einen ähnlichen Führer)
c.) Der allwissende Führer:
Eine solche Führungsperson
- ist arrogant
- gibt mit seinem Wissen an
- ist ungeduldig
- hat ein Erhabenheitsgefühl
- vermindert Glaubwürdigkeit von anderen (indem er sie ins Lächerliche zieht)
Die Gruppe reagiert mit
- geringem Selbstbewusstsein
- Minderwertigkeitsgefühlen
- Angst und Frustration
- geringer Anteilnahme der Mitglieder
- Respekt für den Führer
- Abwesenheit von Initiativen
- manchmal auch offen mit Ärger
d.) Der manipulative Führungsstil
Eine solche Führungsperson:
- ist oft unehrlich
- täuscht nur vor, sich um das Wohlergehen der anderen zu sorgen
- glaubt, dass er über Gesetze hinweg gehen kann
- fördert seine eigenen Interessen
- benutzt eine versteckte Agenda
- nutzt die Schwächen der anderen aus
Die Gruppe reagiert mit
- Desillusion
- Misstrauen (danach ist es schwer, wieder Vertrauen zu bekommen)
- Zynismus
- Mangel an Initiativen
- Gesetze verlieren ihre Wirkung
- Der Einzelne wendet sich von der Gruppe ab, fühlt sich hintergangen.
e.) Führung in einer Demokratie
Uns ist natürlich irgendwie klar, dass in einer Demokratie Führung anders ablaufen sollte als nach den vier o.g. Modellen. Gucken wir uns mal den demokratischen Führungsstil an.
Eine solche Führungsperson
- ist allen Ideen gegenüber aufgeschlossen
- fördert Beteiligung
- hilft, Alternativen zu bedenken und Entschlüsse zu fassen
- nimmt sich der Probleme einer Gruppe an
- versucht Konsens zu erzeugen
- sorgt dafür, dass die Interessen aller sind per Wahl repräsentiert sind
Die Gruppe:
- fühlt sich einbezogen
- Initiativen entstehen
- Selbstbewusstsein der Beteiligten wächst
- Persönliche Weiterentwicklung ist erwünscht
- allgemeine Beteiligung erscheint möglich
Einschätzung zum demokratischen Führungsstil:
Allerdings ist auch dieser Führungsstil nicht ganz unproblematisch, besonders in der momentan vorherrschenden parteienzentrierten Demokratie.
Die Basis der Führung geschieht durch Wahl.
Hier wird aus einer begrenzten Anzahl von Kandidaten und nach oft aufwändiger Wahl-Propaganda (Geld!) eine Person gewählt. Um in einer Demokratie gewählt zu werden, muss ein Kandidat aber gerade nicht demokratische Führungseigenschaften aufweisen: er muss an sich selbst denken, sich durchsetzen, andere in die Ecke drängen, sich in den Mittelpunkt stellen usw.. Und nach der Wahl sind es oft jene traditionellen Führungsstile, die einen Führer erfolgreich werden lassen: der gute Führer setzt sich durch, er weiß alles, sagt wo es langgeht, kontrolliert und manipuliert erfolgreich unterschiedliche Gruppen usw.
Der demokratische Führungsstil, wie wir ihn häufig erleben,
- belohnt die Rücksichtslosen
- fördert Intrigen und verdeckte Koalitionen, faule Kompromisse
- basiert auf und verstärkt Parteienbildung und (künstliche) Unterschiede
- Minderheiten haben Schwierigkeiten, gehört zu werden
- ist anfällig für Lobbying
- konzentriert sich auf die kurzfristige Wählergunst statt der langfristigen Entwicklungsperspektiven
- Das Ideal ist nicht das Beste, sondern der Kompromiss; denn man braucht Mehrheiten
- fördert den Gruppenvorteil und nicht die Idee des Gemeinwohls
Zusammenfassung: Die uns vertrauten Führungsstile wirken bei Licht betrachtet alle nicht so ganz überzeugend. Neben einigen Vorteilen überwiegen bei allen doch die Nachteile.
III. Prozess-Führung
Meine Idee hier ist nun, dass das Führungsmodell für die heutige Zeit sich an ganz anderen Kriterien messen lassen muss. Ich nenne dieses Modell mit dem fürchterlichen Namen „Ethische Prozess-Führerschaft“ und werde es im Folgenden in zwei Stufen erläutern
Zunächst die Prozess-Führerschaft und dann die ethische Version dieser Prozess-Führerschaft.
Prozess-Führerschaft
Was bedeutet Führung im Prozess?
Werden wir jetzt mal konkret
Sehen wir uns z.B. mal die langfristige Beziehung von Menschen in einer Familie an. Wie sieht so etwas als Entwicklungsprozess aus?
Wenn Sie zurücktreten, sehen Sie einen gesamten Entwicklungsverlauf, einzelne Episoden daraus werden gerne erzählt (Wie sich die Eltern kennen gelernt haben, ein ganz besonderer Urlaub ...) andere lieber verschwiegen (ernsthafte Auseinandersetzung, Arbeitsplatzverlust usw.)
- Kennen lernen
- Verliebtheit
- Vertrautheit
- Heirat
- Wohnungswechsel
- Arbeitsentwicklung
- Kindergeburten
- Hauskauf
- Kinderwachstum
- Die Oma zieht ins Haus
- Die Kinder wechseln die Schule
- Die Frau wechselt die Arbeit
- Die Kinder verlassen das Haus
- Kinder heiraten
- Oma stirbt
- Enkelkinder werden geboren
Im Rückblick sieht man Zusammenhänge, erkennt das schleichende Schulversagen des Sohnes und seine sich entfaltenden künstlerischen Neigungen. Man bemerkt die wachsende Vertrautheit zwischen den Eltern, die eine Krise (auch deren langsames Entstehen kann man sehen) bewältigen usw..
Was man vermutlich nicht findet ist einen Prozessführer, einen der das alles steuert und an den entscheidenden Stellen beeinflusst.
Wenn man sich nun einen kleineren Teil dieses Familienprozesses wie durch eine Lupe ansieht, zeigt sich ein anderes Bild: Die Entwicklung des Sohnes hin zu einem begnadeten Restaurator führt uns z.B. zu vielen kleinen Förderschritten, die schon in frühester Kindheit beginnen. Als die Kindergärtnerin seine Freude am Malen und Gestalten zunächst unterstützt, später systematisch fördert. Als die Mutter den Jungen zu einem Urlaub zur malenden Tante schickt, als der Vater sein Bildungsideal vom Sohn als Arzt aufgeben konnte und sich mit ihm gemeinsam auf Ausbildungssuche begibt, und als der Malermeister seinen Malergesellen auf eine Weiterbildung zum Restaurator aufmerksam macht. Außerdem finden wir natürlich viele Momente, wo der Sohn selbst Entscheidungen fällt: lieber das Bild zu Ende malt statt draußen zu spielen, sich mit dem Vater über die Bedeutung der Schule streitet usw.
Wir sehen also selbst in dieser noch sehr groben Vergrößerung eine Vielzahl von Einflussfaktoren auf dem Weg des Sohnes vom Kleinkind zum Restaurator. Bei genauerem Hinsehen tauchen immer wieder Menschen auf, die zur rechten Zeit das Richtige für diese Entwicklung vorangetrieben haben. (Im Nachhinein betrachtet und im Wissen, dass vom Prozess der künstlerischen und beruflichen Entwicklung des Jungen die Rede ist)
Ich würde jetzt sagen: Solche Menschen haben in diesem Prozess zu einem spezifischen Zeitpunkt die Prozess-Führerschaft übernommen
Die Führung übernimmt derjenige in einem Prozess, der zur Zeit das Prozessförderliche tut.
D.h. der Prozess benötigt etwas Spezifisches und wer dieses bereitstellt, übernimmt die Prozessführerschaft. Oder umgekehrt: der Prozess entwickelt sich weiter durch die Interventionen eines Menschen, den ich Prozess-Führer nenne.
D.h. aber auch Prozessführung entsteht und vergeht. Jemand übernimmt die Führung in einem Prozess, indem er das zur Zeit Prozessnotwendige tut. Und schon gibt er diese Führung wieder ab an jemanden, der als nächster mit seinen spezifischen Fähigkeiten das Beste für den Prozess beitragen kann.
Voraussetzungen zur Prozessführerschaft:
Erfahrung: Ich muss Wissen um den Prozess haben (explizit oder implizit; sonst geschieht Führung durch Zufalls; Sachzwang!)
Achtsamkeit: Ich muss auf den Prozess und seinen jeweiligen Bedarf achten, ein Gespür für das Notwendige bekommen.
Fähigkeiten: ich muss mir bewusst darüber sein, was ich beitragen kann, wo ich gut bin und wo nicht so gut.
Verantwortung zum Handeln: Selbst aktiv werden, andere Geeignetere einbeziehen, abwarten können.
Anwendung:
Z.B. In der Beratung, von der Bahá'í immer wieder gern erzählen (vielleicht, weil sie ahnen, dass sie damit einen unschätzbaren Schatz haben, wenn wir auch noch wenig darüber Genaues wissen bzw. in der Anwendung herausbekommen haben) zeigt sich Führerschaftswechsel von Sekunde zu Sekunde. So kann man in einem Gesprächsverlauf sehr wohl den Wechsel festhalten, nicht aber einen Gesamtführer. Es ist am Ende einer guten Beratung fast nie festzustellen, woher ein Beschluss eigentlich gekommen ist ...
- Erfahrung: ich kenne Beratung und ihre Abläufe, vertraue in ihre innere Logik
- Achtsamkeit: was braucht die Beratung gerade jetzt (nicht unbedingt ausgerechnet mein nächstes Statement..)
- Fähigkeiten: Habe ich das, was gerade gebraucht wird?
- Handlungsverantwortung: zu reden, zu schweigen, nachzufragen, aufzufordern
Vom Nutzen für den Prozess zum Gemeinwohl.
IV. Ethische Prozess-Führerschaft
Soweit die Prozess- und Systemlogik.
Wenn man sich hinter den vielen Wörtern den Sinn ansieht, klingt das ja ganz gut.
Allerdings: Wenn man das jetzt noch etwas genauer ansieht, tut sich ein Abgrund von Willkürlichkeit auf.
Da sich Prozessführerschaft an dem Notwendigen des Prozesses ausrichtet, ist sie beliebig vorstellbar. Im Rüstungswettlauf großer Nationen, den man auch als Prozess rekonstruieren kann, bedeutet das Notwendige zwangsläufig etwas völlig anderes als in der Kindererziehung. Aber auch in der Kindererziehung sind völlig unterschiedliche Sinnzusammenhänge vorstellbar, die jeweils etwas gänzlich anderes als nötig und sinnvoll erachten (Kind in Mafia-Familie, in einer weißen Herrscherfamilie im Rahmen eines Apartheidstaates usw.).
Prozessführerschaft kann sich orientieren am Wohlergehen einer Person. Oder es handelt sich um Gemeinwohl, dann kann damit gemeint sein: das Wohl
- einer Gruppe (z.B. der Familie)
- einer Gemeinde,
- eines Staates,
- der Welt.
Reden wir von einem Beispiel, das hier ganz nahe liegt: Das Gemeindewohl der xxxxx Bahá'í-Gemeinde
Es gibt hier sagen wir mal 50 Bahá'í, die eine Gemeinde entwickeln (Wie jede Gruppe besteht eine Gemeinde nicht starr sondern verändert sich ständig, wächst oder vergeht an Zahl oder Geist). Viele Mitglieder dieser Gemeinde verfügen über eigene Erfahrungen in dieser oder einer ähnlichen Gemeindeentwicklung. Mit Achtsamkeit kann ein Gemeindemitglied feststellen, was der Gemeinde gut tut. Es kann seine Fähigkeiten einsetzen, um die jetzt gerade sinnvolle Entwicklung voranzutreiben. Es kann auch eigene Fähigkeiten neu entwickeln, um sie dann zur Gemeindeentwicklung einsetzen zu können. Und es kann die Verantwortung übernehmen, das Richtige zu tun, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Das Richtige kann ein Vortrag über den Wert der Einheit sein, eine Einladung zu einem Abendessen, ein Wunsch nach einem gemeinsamen Gebet, die Planung eines Gemeindeausflugs usw.. Die Fähigkeiten, die dafür nötig sind unterscheiden sich, wie es die Menschen tun: die Kunst der gelehrten, aber verständlichen Rede; die Kochkunst, die geistige Empfindsamkeit, die systematische Planung, die Kunst Freude zu vermitteln usw.
Und man stellt fest: Jeder, wirklich jeder kann zur Gemeindeentwicklung beitragen, jeder kann Prozess-Führerschaft übernehmen. Und eine weitere Erkenntnis hat inzwischen die Erfahrung gelehrt: je mehr Mitglieder an der Weiterentwicklung ihrer Gruppe aktiv beteiligt sind, desto erstaunlicher, reichhaltiger und ganzheitlicher gestaltet sich diese Gruppe.
Wenn man die Logik aber ganz zu Ende denkt, heißt die Zielorientierung einer ethisch begründeten Prozess-Führerschaft: Das Gemeinwohl ist das Wohl der ganzen Welt.
„Es rühme sich nicht der, der seine Heimat liebt, sondern der, der die ganze Welt liebt“
Erinnern wir uns also noch mal der Voraussetzungen zur Führerschaft in Prozessen.
Wir brauchen:
- Erfahrung: Ich muss Wissen um den Prozess haben (explizit oder implizit; sonst geschieht Führung durch Zufall; Sachzwang!)
- Achtsamkeit: Ich muss auf den Prozess und seinen jeweiligen Bedarf achten, ein Gespür für das Notwendige bekommen
- Fähigkeiten: Ich muss mir bewusst darüber sein, was ich beitragen kann, wo ich gut bin und wo nicht so gut.
- Verantwortung zum Handeln: Selbst aktiv werden, andere Geeignetere einbeziehen, abwarten können.
Ethische Prozess-Führung in dem letztgenannten Sinne setzt aber ein ganz besonderes Wissen voraus: Das Wissen um weltumspannende Zusammenhänge, um ausgesprochen langfristige Prozesse und deren Entwicklungsbedürfnisse.
Auf gut Deutsch:
Ich muss wissen
- was die Weltentwicklung braucht
- wie das, was ich in meine kleinen Alltag tue, am besten getan wird im Hinblick auf das Wohlergehen der ganzen Welt
- wo ich kleines Menschlein mit meinen winzigen Quantum an Eigenschaften im gigantischen Weltgeschehen meinen optimalen Platz habe.
Kann man so was überhaupt wissen?
Die Bahá'í sagen dazu: es gibt Menschen, die eine solche Weltsicht haben und diese weitervermitteln. Wir nennen diese Menschen Offenbarer und glauben daran, dass die jüngste Weltsicht von Bahá'u'lláh vermittelt wurde. Bei Ihm kann man eine Menge nachlesen über die momentanen Entwicklungsprozesse, in denen sich der Einzelne und die Welt befinden.
Und wie alle Gottesoffenbarer vor ihm gibt Bahá'u'lláh auch eine Fülle an Hinweisen, Empfehlungen und Weisungen, wie der Mensch sich für die Weltentwicklung und seine eigene Entwicklung optimal einbringen kann.
Und ist es nicht so, dass wir manchmal bei uns selbst das Gefühl haben, etwas völlig Richtiges zu tun, ganz im Einklang zu sein mit der Welt? Kein Wunder, denn wir haben das Gespür für das Richtige in uns. Bahá'u'lláh bestätigt uns, dass wir als ein Gottesgabe „Gerechtigkeit“ mit auf den Weg bekommen haben:
„O Sohn des Geistes! Von allem das Meistgeliebte ist Mir die Gerechtigkeit. Wende dich nicht ab von ihr, wenn du nach Mir verlangst, und vergiss sie nicht, damit Ich dir vertrauen kann. Mit ihrer Hilfe sollst du mit eigenen Augen sehen, nicht mit denen anderer, und durch eigene Erkenntnis Wissen erlangen, nicht durch die deines Nächsten. Bedenke im Herzen, wie du sein solltest. Wahrlich, Gerechtigkeit ist Meine Gabe und das Zeichen Meiner Gnade. So halte sie dir vor Augen.“ (Verb. Worte arab. 2)
Eigentlich fängt an dieser Stelle das Denken über ethische Prozess Führung erst an.
Wir müssten über Haltungen reden:
- Glaube an die edle Natur des Menschen
- Die Verantwortung nach der Wahrheit zu suchen und nach ihr zu handeln
- Dienstbarkeit als Handlungsbasis
Wir müssten über Entwicklungsziele reden:
Was heißt: „Der Mensch ist dazu erschaffen, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen?“
Was heißt angesichts der zunehmenden Individualisierung, dass persönlicher und gesellschaftlicher Wandel ineinander verwoben sind und nur gemeinsam betrieben werden können?
Und was sind es für spezifische Fähigkeiten, die uns zu einer ethischen Prozessführung befähigen?
Um nur einige zu nennen:
- Die Fähigkeit zu weitreichender Vision und zielorientiertem Handeln
- Die Fähigkeit zu Transzendenz (Das Geistige durchschimmern sehen)
- Die Fähigkeit, Einheit in der Vielfalt zu sehen und zu fördern
- Die Fähigkeit, miteinander zu beraten
- Die Fähigkeit, andere zu ermutigen
Vielleicht sollte man zusammenfassend sagen, die Fähigkeit, meinen Nächsten zu lieben wie mich selbst vor dem Hintergrund, dass der Nächste mein Mitmensch ist – und zwar überall auf der Welt.
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Dieser Vortrag ist einfach zu schade für die Schublade "Aus meiner Schatztruhe"
Verfasst von Gerhard Bähr am 7 November, 2015 - 09:46
Termin: 07.11.15 09:36
Botschaft an einen Bahá'í zur Sozialpolitik vom 23. Dezember 2008
DAS UNIVERSALE HAUS DER GERECHTIGKEIT
SEKRETARIATSABTEILUNG
23. Dezember 2008
[An einen einzelnen Gläubigen]
Lieber Bahá'í-Freund,
Ihre E-Mail, in der Sie sich erkundigen, bis zu welchem Grad ein Bahá'í, insbesondere ein Sozialwissenschaftler oder Dozent, sich öffentlich über sozialpolitische Fragen äußern darf, hat das Universale Haus der Gerechtigkeit erhalten. Wir sind gebeten worden, Ihnen folgende Antwort zu übermitteln.
Selbstverständlich ist Ihnen das von Shoghi Effendi verkündete Prinzip der Nichteinmischung in Politik bekannt. Bahá'í sollen davon „Abstand nehmen, sei es durch Worte oder durch Taten, sich mit den politischen Zielen ihrer jeweiligen Länder, mit den politischen Bestrebungen ihrer Regierungen und den Machenschaften und Programmen von Parteien und Fraktionen zu assoziieren. Sie beschuldigen nicht, ergreifen niemandes Partei, unterstützen keine Pläne und identifizieren sich mit keinem System, das den besten Interessen des Glaubens zuwiderläuft und vermeiden das Gezänk und die Verstrickungen, die untrennbar sind von den Bestrebungen eines Politikers. Sie sollen sich erheben über jeglichen Partikularismus und Parteilichkeit, über leere Dispute, belanglose Berechnungen, über vorübergehende Leidenschaften, welche das Antlitz einer im Wandel begriffenen Welt erregen und ihre Aufmerksamkeit in Beschlag nehmen.“ Dieses Prinzip, welches strikte Vermeidung von parteigebundener politischer Aktivität jeglicher Art verlangt, muss peinlich genau eingehalten werden. Da sich jedoch einerseits die Gesellschaft und ihre politischen Prozesse entwickeln und andererseits der Glaube wächst, wird die Wechselwirkung zwischen den beiden zunehmend komplexer. Das Haus der Gerechtigkeit wird im Laufe der Zeit die nötige Führung bereitstellen, um dieses Prinzip den jeweils vorherrschenden Umständen anzupassen.
Der Ausdruck Politik kann breitgefächerte Bedeutungen haben, und daher ist es wichtig zu unterscheiden zwischen parteipolitischer Aktivität und dem Diskurs und den Handlungen, die darauf ausgerichtet sind, konstruktiven gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. Ersteres wird verboten, Letzteres stark angeraten; in der Tat ist das Hauptanliegen der Bahá'í-Gemeinde der gesellschaftliche Wandel. 'Abdu'l-Bahás Abhandlung Das Geheimnis göttlicher Kultur zeigt sehr deutlich, wie sehr sich der Glaube dem Ziel verpflichtet fühlt, gesellschaftlichen Wandel zu fördern, ohne sich in die Arena der Parteipolitik zu begeben. Unzählige Passagen in den Bahá'í-Schriften ermutigen zudem die Gläubigen, zur Verbesserung der Welt beizutragen. Befasst euch gründlich mit den Nöten der Zeit, in der ihr lebt, sagt Bahá'u'lláh, und legt den Schwerpunkt eurer Überlegungen auf ihre Bedürfnisse und Forderungen. 'Abdu'l-Bahá ermahnt die Freunde, sich in allen Tugenden der Menschenwelt hervorzutun durch Ergebenheit und Aufrichtigkeit, durch Gerechtigkeit und Treue, durch Festigkeit und Standhaftigkeit, durch philanthropische Taten und Dienst an der Menschenwelt, durch Liebe zu jedem Menschen, durch Einheit und Eintracht mit allen Menschen, durch ihre Anstrengungen, Vorurteile zu beseitigen und den Weltfrieden zu fördern.
Weiterhin erklärt Shoghi Effendi in einem Brief, der in seinem Auftrag geschrieben wurde: „Wie sehr sich die Freunde auch davor hüten müssen, den Anschein zu erwecken, dass sie oder der Glaube sich mit irgendeiner politischen Partei identifizieren, müssen sie sich doch auch vor dem anderen Extrem hüten, nämlich niemals mit anderen fortschrittlichen Gruppen bei Konferenzen oder Komitees zusammenzuarbeiten, welche die eine oder andere Aktivität fördern, die völlig im Einklang ist mit unseren Lehren.“
In einem anderen in seinem Auftrag geschriebenen Brief aus dem Jahre 1948, als rassische Ungleichheit in vielen Staaten der USA gesetzlich festgelegt war, weist er darauf hin, dass überhaupt nichts dagegen spricht, dass Studenten an etwas teilnehmen, das dem Geist unserer Lehren offensichtlich so verwandt ist wie eine Campus-Demonstration gegen Rassenvorurteile. Daher müssen sich die Bahá'í unermüdlich, durch Wort und Tat, mit einer Anzahl sozialer Fragen befassen.
Als die Bahá'í-Gemeinde noch klein war, war ihr Beitrag zum sozialen Wohlergehen natürlicherweise begrenzt. 1983 verkündete das Haus der Gerechtigkeit, dass das Wachstum des Glaubens es notwendig gemacht habe, sich mehr mit dem Leben der Gesellschaft zu befassen. Die Bahá'í begannen, sich systematischer durch Aktivitäten unterschiedlicher Komplexität bei der Arbeit sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung einzubringen. Die Bemühungen, zum sozialen Wandel beizutragen, beinhalteten auch die Teilnahme am öffentlichen Diskurs über die Menschheit betreffende Themen, wie Frieden, das Ablegen von Vorurteilen aller Art, die geistige und moralische Befähigung der Jugend und das Fördern von Gerechtigkeit. Diese beiden Arten von Aktivitäten haben im Verlauf der letzten fünfundzwanzig Jahre ständig zugenommen und werden künftig an Umfang und Einfluss zunehmen.
Die organisierten Bemühungen der Bahá'í-Gemeinde auf diesen Gebieten werden verstärkt durch diverse Initiativen von Seiten einzelner Gläubiger, die auf verschiedenen Gebieten arbeiten als Freiwillige, Professionelle und Experten mit dem Ziel, zum gesellschaftlichen Wandel beizutragen. Was deren Arbeitsweise von anderen unterscheidet, ist, dass die Bahá'í Konflikte und Machtstreben vermeiden und sich zugleich bemühen, die Menschen zu einen auf der Suche nach den zugrundeliegenden moralischen und geistigen Prinzipien und nach praktischen Maßnahmen, die zu einer gerechten Lösung der Probleme führen, welche die Gesellschaft heimsuchen. Die Bahá'í sehen die Menschheit als einen einzigen Organismus.
Alle sind untrennbar miteinander verbunden.
Eine soziale Ordnung, die darauf abzielt, die Bedürfnisse einer Gruppe auf Kosten einer anderen zu befriedigen, hat Ungerechtigkeit und Unterdrückung zur Folge. Im Gegensatz dazu wird den besten Interessen eines jeden Teils Rechnung getragen, wenn man dessen Bedürfnisse im Licht des Wohlergehens des Ganzen sieht.
Eine Beteiligung am gesellschaftlichen Diskurs und Handeln wird manchmal erfordern, dass Bahá'í sich bei der Entwicklung von politischen Aktionsplänen einbringen. In diesem Zusammenhang hat das Wort politischer Aktionsplan, ebenso wie der Begriff Politik, eine breitgefächerte Bedeutung. Zwar werden Bahá'í sich zurückhalten, wenn es darum geht, Vorgehensweisen zu diskutieren, die sich auf politische Beziehungen zwischen Ländern beziehen oder auf parteipolitische Angelegenheiten innerhalb eines Landes; sie werden jedoch zweifellos ihren Teil beitragen zu der Formulierung und Umsetzung von politischen Entscheidungen, die sich mit bestimmten gesellschaftlichen Sorgen befassen. Beispiele solcher Anliegen sind die Wahrung der Rechte der Frauen, umfassende und effektive Bildung für alle Kinder, das Unterbinden der Verbreitung von ansteckenden Krankheiten, Schutz der Umwelt und Ausmerzung der Extreme von Armut und Reichtum.
Es ist daher offensichtlich, dass Sie als Bahá'í, der zugleich Politikwissenschaftler ist, eine große Bandbreite zur Verfügung haben, innerhalb derer Sie sich zu sozialen Angelegenheiten äußern können. Es ist jedoch auch möglich, bei der Erarbeitung und Anwendung von Wissen auf Ihrem Gebiet teilzunehmen und sich dabei mit Themen zu befassen, die ihrer Natur nach noch unmittelbarer politisch sind. Ohne Zweifel sind Sie sich des allgemeinen Rates bewusst, der im Namen des Hüters geschrieben wurde, dass eine Möglichkeit, die soziale und politische Ordnung der Zeit zu kritisieren, ohne dabei für oder gegen ein bestehendes Regime zu sprechen, darin besteht, eine eingehendere Analyse auf der Ebene politischer Theorie anzubieten, ohne sich über die Praxis der Politik zu äußern.
Ein anderer Weg könnte darin bestehen, mit Hilfe wissenschaftlicher Forschung die gegensätzlichen Standpunkte zu beleuchten, um ein gemeinsames Verständnis und effektive Lösungen zu finden, ohne dabei parteipolitischen Interessen und Verschleierung zu unterliegen. Bahá'u'lláh sagt: „Alles Politische, was ihr erörtert, fällt unter den Schatten eines der Worte, die vom Himmel Seiner ruhmreichen, Seiner erhabenen Rede herniedergesandt sind.“
Sie haben die Gelegenheit, die Edelsteine Seiner Offenbarung aus ihrem Bergwerk zu bergen und sie derart zu bearbeiten und zu präsentieren, dass sie denen, die neue Einsichten suchen, anziehend erscheinen. Auf die Dauer werden Sie lernen müssen, das Gleichgewicht zu finden zwischen den Prinzipien und Ideen, die Sie für wahr halten, die von den Lehren des Glaubens stammen, und solchen, die aus Ihren wissenschaftlichen Studien resultieren.
Ohne Zweifel werden Herausforderungen erstehen. So werden Sie zum Beispiel finden, dass ein Fragenkomplex, der sich mit sozialer Aktion befasst, auch Thema der politischen Debatte zwischen konkurrierenden Fraktionen geworden ist, und es bedarf der Weisheit, um zu bestimmen, ob Sie Ihre Vorgehensweise anpassen oder die Angelegenheit für eine Weile ruhen lassen wollen. In manchen Fällen mag es notwendig sein, Gelegenheiten vorbeigehen zu lassen, die Sie in eine politische Debatte verwickeln könnten oder die als Kritik an der Parteipolitik von Regierungen erscheinen mag.
In anderen Fällen könnte es besonders heikle Themen geben, wie z.B. solche, die mit Ländern zu tun haben, in denen die Bahá'í-Gemeinde Verfolgung und Unterdrückung erleidet, wobei Kommentare den Eindruck erwecken könnten, dass sich die Freunde an politischen Aktivitäten beteiligen, die den Interessen einer bestimmten Regierung entgegengesetzt sind. Diese gleichen Bedenken entstehen, wenn es darum geht, Einladungen der Medien zu beurteilen, die darum bitten, sich an Diskussionen über politische Tagesthemen zu beteiligen oder zu engagieren. Ihr Nationaler Geistiger Rat steht Ihnen zur Verfügung, um Ihnen dabei zu helfen, spezielle Fragen zu klären, falls diese Notwendigkeit auf Sie zukommt.
Seien sie der Gebete des Hauses der Gerechtigkeit an der Heiligen Schwelle versichert, dass Ihre Bemühungen, die Prinzipien des Glaubens in Ihren beruflichen Aktivitäten widerzuspiegeln, die Segnungen und Bestätigungen der Altehrwürdigen Schönheit anziehen mögen.
Mit liebevollen Bahá'í-Grüßen,
Sekretariatsabteilung
Andachtstexte zu Weihnachten
Erinnert euch daran, wie die heiligen Düfte des Geistes Gottes ihre Süße über Palästina und Galiläa, über die Ufer des Jordan und die Gefilde um Jerusalem ergossen, wie die wundersamen Melodien des Evangeliums in den Ohren der geistig Erleuchteten klangen: Alle Völker von Asien und Europa, von Afrika und Amerika, von Ozeanien, das die Inseln und Inselgruppen des Pazifischen und des Indischen Ozeans umfasst, waren Feueranbeter und Heiden, unbewusst der Göttlichen Stimme, die am Tage des Bundes sprach. Allein die Juden glaubten an die Göttlichkeit und Einheit Gottes. Nach der Erklärung Jesu hauchte der reine, erweckende Odem Seines Mundes drei Jahre hindurch ewiges Leben in die Bewohner jener Landstriche, und durch die Göttliche Offenbarung des Gesetzes Christi wurde damals dem siechen Körper der Welt die lebensspendende Arznei gereicht.
'Abdu'l-Bahá, Das Geheimnis göttlicher Kultur, S. 47
Betrachte die, welche den Geist verwarfen, als Er mit offenbarer Herrschaft zu ihnen kam. Wie zahlreich waren die Pharisäer, die sich in Seinem Namen in die Synagogen einschlossen und über ihre Trennung von Ihm klagten; als aber die Tore der Wiedervereinigung aufgestoßen wurden, als strahlend das Licht Gottes am Morgen der Schönheit aufzog, da leugneten sie Gott, den Erhabenen, den Mächtigen. Sie säumten, in Seine Gegenwart zu treten, obwohl ihnen Sein Kommen im Buche Jesajas wie auch in den Büchern der Propheten und Gottesboten verheißen war. Keiner von ihnen wandte das Angesicht dem Morgen göttlicher Großmut zu, die ausgenommen, welche aller Macht unter den Menschen ermangelten. Und doch brüstet sich heutzutage jeder, der mit Macht belehnt und mit Herrschaft bekleidet ist, Seines Namens... Nimm dich wohl in Acht und gehöre zu denen, die die Warnung befolgen.
Bahá'u'lláh, Botschaften aus 'Akká, S. 25-26
Ebenso wurden, als die Stunde der Offenbarung Jesu nahte, einige Magier dessen gewahr, dass der Stern Jesu am Himmel aufgegangen war. Sie suchten ihn und folgten ihm, bis sie zu der Stadt kamen, die der Königssitz des Herodes war, dessen Herrschaftsgebiet sich in jenen Tagen über das ganze Land erstreckte. Diese Magier sprachen: „Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben Seinen Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, Ihn anzubeten.“ Als sie nun nachforschten, fanden sie heraus, dass das Kind in Bethlehem im Lande Judäa geboren war. Dies war das am sichtbaren Himmel offenbarte Zeichen. Was nun das Zeichen am unsichtbaren Himmel betrifft, dem Himmel göttlicher Erkenntnis und Einsicht, so war es Johannes, der Sohn des Zacharias, der dem Volke die frohe Botschaft der Manifestation Jesu gab.
Bahá'u'lláh, Das Buch der Gewissheit (Kitáb-i-Íqán), S. 54-55
Alle Herrschaft gehört diesem neugeborenen Kind, durch das der Schöpfung Antlitz mit strahlendem Lächeln geschmückt wurde, die Bäume hin und her schwankten, die Ozeane brandeten, die Berge die Flucht ergriffen, das Paradies seine Stimme erhob, der Fels ausrief, und alles Erschaffene kundtat: „O Scharen der Schöpfung! Eilt zum Aufgangsort des Antlitzes eures Herrn, des Barmherzigen, des Mitleidvollen!“
Bahá'u'lláh, Tablet zu den Heiligen Zwillingsgeburtstagen
Rufe dir die Tage ins Gedächtnis zurück, da der Geist Gottes erschien und Herodes das Urteil über Ihn sprach. Gott aber half Ihm mit den unsichtbaren Heerscharen, beschützte Ihn mit der Wahrheit und sandte Ihn nach Seiner Verheißung in ein anderes Land. Wahrlich, Er verordnet, was Ihm gefällt. Dein Herr behütet sicher, wen Er will, und sei er auch in der Mitte der Meere oder im Bauch der Schlange oder unter dem Schwerte des Tyrannen.
Bahá'u'lláh, Anspruch und Verkündigung, S. 103
Denke auch über die Lage Marias nach. So tief war die Bestürzung dieser edlen Gestalt, so schlimm ihre Lage, dass sie bitterlich beklagte, jemals geboren zu sein. Dies bezeugt der Text des heiligen Verses, worin berichtet wird, wie Maria nach der Geburt Jesu ihr Los beklagte und ausrief: „Ach, wäre ich doch zuvor gestorben und wäre ganz und gar vergessen!“ Ich schwöre bei Gott! Solche Klage verzehrt das Herz und erschüttert die Seele. Nur der Tadel der Feinde und der spitzfindige Spott der Ungläubigen und Verderbten konnte zu solcher Bestürzung und Verzweiflung führen. Bedenke, was konnte Maria den Leuten zur Antwort geben? Wie konnte sie behaupten, dass ein Kind, dessen Vater unbekannt war, vom Heiligen Geist empfangen sei? So nahm Maria, diese tugendsam verhüllte, unsterbliche Gestalt, ihr Kind und kehrte nach Hause zurück. Kaum waren die Augen der Leute auf sie gefallen, als sie schon ihre Stimme erhoben: „O Schwester Aarons! Dein Vater war doch kein schlechter Kerl und deine Mutter keine Dirne!“ Und nun meditiere über diese größte Erschütterung, über diese schmerzliche Prüfung. All diesen Geschehnissen zum Trotz verlieh Gott diesem Wesen des Geistes, Ihm, der bei den Leuten als vaterlos bekannt war, die Herrlichkeit des Prophetentums und machte Ihn zu Seinem Zeugnis für alle, die im Himmel und auf Erden sind.
Bahá'u'lláh, Das Buch der Gewissheit (Kitáb-i-Íqán), S. 47-48
Wir bezeugen, dass Er, als Er in die Welt trat, den Glanz Seiner Herrlichkeit über alles Erschaffene ergoss. Durch Ihn wurde der Aussätzige vom Aussatz der Verderbtheit und Unwissenheit befreit. Durch Ihn wurden der Unkeusche und der Widersetzliche geheilt. Durch Seine Macht, aus dem allmächtigen Gott geboren, wurden die Augen des Blinden geöffnet und die Seele des Sünders geheiligt. Aussatz mag als Schleier gedeutet werden, der zwischen den Menschen und die Erkenntnis des Herrn, seines Gottes fällt. Wer sich von Ihm trennen lässt, ist in der Tat ein Aussätziger, dessen im Reiche Gottes, des Allmächtigen, des Allgepriesenen, nicht gedacht werden soll. Wir bezeugen, dass durch die Macht des Wortes Gottes jeder Aussätzige gereinigt, jede Krankheit geheilt und jedes menschliche Gebrechen überwunden wurde. Er ist es, der die Welt läuterte. Selig der Mensch, der sich lichtstrahlenden Angesichts Ihm zugewandt hat!
Bahá'u'lláh, Ährenlese, S. 78
Ian Semple - Gehorsam
Eine Ansprache von Ian Sample, am 26. July 1991 im Empangsraum des Sitzes des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, anläßlich des Programmes Geistige Bereicherung am Bahá'í Weltzentrum.
GEHORSAM
Erkennen der individuellen Verantwortung
Die eigene Unzulänglichkeit erkennen
Anerkennung einer äußeren Autoritätsquelle
Verstehen der Anforderungen von Autorität
Die Rolle des Verstandes bei der Ausführung von Geboten
LITERATURVERZEICHNIS
Gehorsam
Das Internationale Lehrzentrum hat eine wunderbare Textsammlung zum Thema Gehorsam erstellt, die Sie alle erhalten haben. Ich gehe davon aus, daß Sie alle damit vertraut sind und möchte daher in meinen Ausführungen einige grundsätzliche Gedanken behandeln - hauptsächlich Gehorsam in Beziehung zur Freiheit der Gedanken und ebenso die Bedeutung des Gehorsams für die Entwicklung des einzelnen Menschen wie auch für die Gesellschalt als Ganzes.
Die Menschheit hat praktisch während ihrer gesamten Vergangenheit entsetzlich an Tyrannei gelitten. Dadurch wird Gehorsam heute häufig gleichgesetzt mit sklavischer Unterwürfigkeit und Ergebenheit in Unterdrückung - oder noch schlimmer: Sie wird als Entschuldigung für die Teilnahme an Verfolgungen genutzt. Da Sie eine Weile in Isreal gelebt haben, wissen Sie, daß dies häufig thematisiert wird, wenn über den Holocaust gesprochen wird. Jene, die am Holocaust beteiligt waren, sagten: "Nun, ich gehorchte lediglich den Befehlen; dafür kann man mich doch nicht belangen." Wegen dieser Vergangenheit der Unterdrückung wurde dem Gehorsam eine große Verachtung zuteil und "rücksichtslose" Individualität wird als das wahre Ziel des sozialen Lebens gepriesen. Wie ist dann vor diesem Hintergrund das folgende Zitat Bahá'u'lláhs zu verstehen:
Was der Menschheit an diesem Tage nottut, ist Gehorsam gegen die, welche die Gewalt in Händen haben, und gewissenhaftes Festhalten am Seile der Weisheit.
(ÄL 102)
Um dies zu verstehen, sollten wir die Kehrseite dieser Medaille betrachten. Wir müssen die unwahrscheinlich großen Probleme der Menschheit schätzen lernen, die durch gewaltsamen Nationalismus und Stammesstrukturen entstehen, durch die Gier der Einzelnen und den entwurzelten Vergleichskampf im Wirtschaftsleben, durch zügellose, unzulässige Unmoral und durch das ständig wachsende Vorkommen von Kriminalität und Terrorismus. Dies alles sind Verzerrungen der Freiheit.
Die Vergangenheit hat in der Tendenz gezeigt, daß die Menschheit zwischen den beiden Extremen, Tyrannei und zügelloser Ausschweifung, hin- und herpendelt und dabei auch glückliche Zeiten erlebt, wenn sie einen gemäßigten Bereich erreicht hat. In der Bahá'í-Gemeinschaft streben wir kein gemäßigtes Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gehorsam an. Stattdessen lernen wir durch die Lehren Bahá'u'lláhs, wie wir in Freiheit der göttlichen Richtschnur Gehorsam leisten können und erkennen somit Gehorsam und Freiheit als ein harmonisches Ganzes an. Wir sollten sie nicht länger als Gegenspieler betrachten.
Um dieses Konzept genauer zu untersuchen, möchte ich es in das Licht der folgenden fünf Prozesse stellen:
- Der erste ist, daß wir uns als die höchsten Quellen der Autorität betrachten.
- Beim zweiten geht es darum, die eigene Mangelhaftigkeit zu erkennen.
- Der dritte besteht darin, eine Quelle der Autorität außerhalb des eigenen Seins zu anzuerkennen.
- Der vierte ist es, die Anforderungen dieser Autoritätsquelle verstehen zu lernen.
- Der fünfte ist die Rolle der Entscheidung bei der Durchführung dieser Anforderungen.
Die Grundlage für jegliche Entwicklung ist die Selbsterkenntnis und die Anerkennung der Verantwortung für das eigene Leben.
Der nächste Schritt ist die Erkenntnis, daß es zum Chaos im Leben einer Person und in der gesamten Gesellschaft führt, wenn jeder seinen eigenen Neigungen folgt.
Dies führt uns dazu, die äußere Autoritätsquelle für das Wahre und Richtige zu suchen. Wenn wir glauben, diese gefunden zu haben, ist es wichtig, sie zu bestätigen. Wenn wir das nicht tun, opfern wir eine der grundlegendsten Rechte und Pflichten der Menschheit.
Haben wir uns entschieden, daß eine Quelle Gültigkeit besitzt und wollen wir ihr gehorchen, können wir dies nur in das tägliche Leben umsetzen, wenn wir verstehen, was diese Quelle der Macht von uns erwartet.
Sollten wir schließlich unsere Intelligenz und Urteilsfähigkeit bei der Ausführung von Gehorsam gegenüber der Autorität nicht einsetzen, kann es darauf hinauslaufen, daß wir das Gegenteil dessen tun, was sie wirklich beabsichtigt.
Alle fünf der genannten Vorgänge erfordern die Übung unserer Urteilskraft. Sie stellen die Ablehnung der Vorgehensweise des "blinden Gehorsams" dar und ich glaube, daß dieser blinde Gehorsam im Widerspruch zum Glauben steht. Gehorsam besteht für einen Bahá'í darin, durch eigenen Willen dem zu folgen, was man als Recht erachtet. Blinder Gehorsam ist ein Verzicht auf den freien Willen.
Erkennen der individuellen Verantwortung
Die durch Gott jeder einzelnen Seele übergebene Verantwortung, sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen, wird immer wieder in den Schriften betont. Betrachten Sie die folgenden Worte Bahá'u'lláhs. Der erste Abschnitt ist so vertraut, daß man in Gefahr gerät, zu versäumen, über die vielen Elemente nachzudenken, die er enthält. Deshalb werde ich ihn mit Unterbrechungen lesen:
O Sohn des Geistes!
Von allem das Meistgeliebte ist Mir die Gerechtigkeit. Wende dich nicht ab von ihr, wenn du nach Mir verlangst, und vergiß sie nicht, damit Ich dir vertrauen kann. Mit ihrer Hilfe sollst du mit eigenen Augen sehen, nicht mit denen anderer, und durch die eigene Erkenntnis Wissen erlangen und nicht durch die deines Nächsten. Bedenke im Herzen, wie du sein solltest. Wahrlich: Gerechtigkeit ist Meine Gabe und das Zeichen Meiner Gnade. So halte sie dir vor Augen.
(VW, 2)
Weiter besitzen wir die drei folgenden Textstellen, die das gleiche Thema behandeln:
Urteilt gerecht über die Sache Gottes, eures Schöpfers, schauet, was vom Throne der Höhe herabgesandt ist, und denkt darüber nach mit reinem, geheiligtem Herzen. Dann wird euch die Wahrheit dieser Sache so offenbar erscheinen wie die Sonne in ihrer Mittagsherrlichkeit. Dann werdet ihr zu denen gehören, die an Ihn glauben.
(ÄL 52)
Vergeßt nicht die Ehrfurcht vor Gott, ihr Gelehrten der Welt, und urteilt gerecht über die Sache dieses Ungelehrten, für den alle Bücher Gottes, des Beschützers, des Selbstbestehenden, gezeugt haben.
(ÄL 44)
Dies ist wahrlich ein Zeichen Seiner sanften Barmherzigkeit für die Menschen, jeder Seele hat Er die Fähigkeit verliehen, Gottes Zeichen zu erkennen. Wie sonst hätte Er den Menschen Sein Zeugnis erbringen können - gehörtet ihr doch zu denen, die im Herzen über Seine Sache nachdenken. Niemals wird Er ungerecht mit irgend jemandem verfahren, noch wird Er eine Seele über ihr Vermögen belasten. Er, wahrlich, ist der Mitleidige, der Allbarmherzige.
(ÄL 52)
In diesen und vielen weiteren Texten ruft uns Bahá'u'lláh auf, nicht einfach zu gehorchen, sondern unseren Verstand zu gebrauchen, gerecht zu urteilen, anzuerkennen und dann zu glauben und zu gehorchen. Er versichert uns, daß wir alle die Fähigkeit besitzen, die Wahrheit zu erkennen und ihr zu folgen.
Daß eine absolute Autorität in uns wohnt, trifft für jeden Menschen zu, ob er dies nun versteht oder auch nicht. Man mag diese Autorität nicht anerkennen, um sich wie Treibgut in der Strömung der Gezeiten umhertreiben zu lassen, und man wird für sein eigenes Leben sorgen.
Allzu oft suchen wir heutzutage Gründe für unsere Handlungen, die Bedingungen und Begebenheiten, die außerhalb unserer Kontrollmöglichkeit liegen und die durch unsere Vererbung, unsere Erziehung oder unsere derzeitige Lage vorgegeben sind. Da ist sicher etwas Wahres dran und ich behaupte nicht, daß keine Einflüsse auf uns ausgeübt werden.Aber in den meisten Fällen sind es doch vollkommen schwache Entschuldigungen dafür, etwas falsches zu tun oder zu versäumen, das zu tun, wovon man im tiefsten Inneren weiß, daß es richtig wäre.
Jeder hat immer die Wahl, sich äußerlichen Einflüssen zu beugen oder Schritte zu unternehmen, diesen zu begegnen, also einer äußeren Autorität zu gehorchen oder auch nicht. Schritte zur Veränderung unserer Bedingungen zu unternehmen, erfordert Anstrengungen, was dazu führen kann, daß wir diese Schritte nicht gehen - aber dies ist dann unsere eigene Entscheidung.
Manchmal hat die Entscheidung, einer äußeren Autorität zu widersprechen, so unangenehme Folgen, daß man sich entscheidet, gegen die eigene Überzeugung zu gehorchen. Doch auch das ist dann eine eigene Entscheidung. Schließlich wird jemand, der glaubt, die Entscheidung ist von Wichtigkeit, eher den Tod akzeptieren, als falsch zu entscheiden. Aber es besteht immer wieder die Wahlmöglichkeit und das ist meiner Meinung nach sehr wichtig zu beachten, denn häufig findet man jemanden, sich entschuldigend sagen: "Es tut mir leid, aber ich konnte nicht handeln wie es richtig gewesen wäre - sonst wäre ich erschossen worden!" Das war dann auch seine Entscheidung: Er hätte auch die Erschießung hinnehmen können.
Im Iran waren die Verfolger der Sache häufig erstaunt, daß die Bahá'í hinnahmen - ehe sie ein Wort der Verleugnung des Glaubens über die Lippen brachten - sich hinrichten zu lassen. Dies ist, wo wir unabhängig und stark sein müssen.
Somit ist der erste Orientierungspunkt, den jeder Mensch an sich anlegen muß, er selbst und die ihm von Gott verliehene Fähigkeit, selbst zu entscheiden. Für einen Atheisten oder einen Agnostiker gibt es keinen zentralen Referenzpunkt außer ihm selbst und seinen eigenen Wünschen und Ideen. Selbst, wenn er überhaupt nicht denken sollte, läßt er sich vollkommen von seinen Wünschen und Vorlieben treiben - mit anderen Worten, nicht durch das, was er für richtig hält, sondern nur durch das, was er fühlt. Nur wenige Menschen existieren auf dieser, unter dem tierischen Verhalten anzusiedelnden, Ebene. Zum Glück beginnen sie früher oder später darüber nachzudenken, was am Besten für sie ist. Sie üben die Kräfte, die in der eigenen Entscheidung liegen. Aber gewöhnlich vollenden sie diesen Prozeß nicht. Viele leben nur von einem Tag zum anderen, indem sie den Moden und Launen der Gesellschaft, in der sie leben, folgen. Sie nehmen deren Vorurteile auf und folgen deren Maßstäben.
Folgt ein Individuum unkritisch seinen selbstbezogenen Entscheidungen, kommt es zwangsläufig in Konflikt mit anderen und erhöht somit die Gesamtheit der Probleme in der Welt. Unweigerlich geraten alle, wenn die Nummer 1 als erstes kommt, und jeder Mensch sich selbst als Nummer 1 ansieht, in eine Konfliktsituation. Dies passiert, egal ob er andere für die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu dominieren versucht oder auch nicht. Auf der anderen Seite hat das gedankenlose Befolgen von gesellschaftlichen Vorurteilen oder der Vorgaben eines Führers die Feinseligkeit von anderen Gruppierungen zur Folge. Beides führt zu geistigem Verfall und Chaos. In den "Sieben Beweisen" schreibt der Báb:
In jedem Lande siehst du zahllose geistliche Führer ohne Urteilskraft, in jedem Volk abertausend Mitläufer, denen dieselbe Eigenschaft fehlt. Denke in deinem Herzen eine Zeitlang darüber nach, habe Erbarmen mit dir selbst und wende deine Aufmerksamkeit nicht von Beweisen und Zeugnissen ab.
(AB, 4,9)
Weiter vorn, im gleichen Buch sagt er:
Nein, bei Gott, sei du weder ein Geistlicher ohne Urteilskraft noch Mitläufer ohne Urteilskraft, denn
am Tage der Auferstehung werden beide vergehen.
(AB, 4,9)
Die eigene Unzulänglichkeit erkennen
Sobald eine Seele beginnt, nachzusinnen, nicht darüber, was sie tun kann, um nur das eigene Selbst zufrieden zu stellen, sondern was sie tun sollte; wenn sie sich erlaubt, zu erwägen, was richtig oder falsch ist; wenn sie über den Sinn ihres Lebens nachdenkt; wenn sie mit anderen Worten eine erkennende Person wird, hat sie den ersten Schritt weg von der wirklichen Gottlosigkeit getan. Wirklichkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind Eigenschaften Gottes und wer immer eine solche sucht, sucht Gott. Viele der selbsternannten Atheisten sind nicht wirkliche Atheisten. Sie haben bei ihrer Suche nach Wahrheit lediglich hinter die Oberflächlichkeit der traditionellen Religion geblickt. Ich glaube, das ist es, was wir zur Zeit im Osten beobachten können. Viele Menschen, die sich als Atheisten bezeichnen, haben dennoch ein geistiges Herz und wissen nur nicht, wonach sie Ausschau halten. Sie sind nun dabei, es zu finden.
Jeder, der beginnt, auf diese Weise zu denken, wird sich nach Beispielen und Vorbildern für sein Handeln umsehen, die scheinbar erfolgreich sind und denen er folgen kann, um ähnlich erfolgreich zu sein. Dabei ist es unabhängig davon, ob er Atheist ist oder nicht. Als Grundlage hat er die ganzen Verhaltensmuster, die er in seiner Kindheit kennenlernte. Er wird sie behalten oder für andere neue Muster verwerfen. Aber selbst dann, wenn er einen Referenzpunkt außerhalb von sich selbst findet, wird es schwer für ihn sein, über seine derzeitige Ebene hinauszuwachsen. Es ist, als ob man sich an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf ziehen wolle - man ist dazu einfach nicht in der Lage.
Solange ein Mensch das Zentrum des eigenen Universums bleibt, wird er auf seine eigene Wesensart beschränkt bleiben. Wir haben alle schon Mitglieder der Bahá'í-Gemeinschaft getroffen, die an diesen Beschränkungen litten. Schauen wir uns zum Beispiel jemanden an, der sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt und der durch eigene Lebenserfahrungen und Ideen anderer eine Philosophie der sozialen Reform entwickelt hat, die sehr nahe verwandt mit den Lehren Bahá'u'lláhs ist. Wenn er dem Glauben begegnet, findet er eine ganze Gemeinschaft mit den gleichen Ideen. Er erklärt sich als Bahá'í und wird ein Mitglied dieser Gemeinschaft. Wenn sich die Grundlage für seine Anziehung nicht verändert, wird er früher oder später mit Bahá'í-Lehren in Kontakt kommen, die nicht in sein Weltbild passen. Sie werden eine Herausforderung für ihn sein und er wird versuchen, den Glauben so zu verändern, daß er besser zu seinen eigenen Idealen paßt. Dies wird ihm jedoch nicht gelingen und er wird in seiner Enttäuschung dem Glauben den Rücken kehren und sich mit anderen Gleichgesinnten zusammen tun, mit denen er jedoch auch keine absolute Übereinstimmung erreichen wird. D. h., da er selbstbezogen ist, wird er sein Leben lang auf eine gewisse Weise alleine bleiben. Er wird Verbindungen mit anderen Menschen eingehen, sie jedoch auch wieder brechen.
Das bedeutet, jeder Mensch muß seine eigene Unvollkommenheit erkennen und den gemeinschaftlichen Mittelpunkt außerhalb seines Selbstes suchen. Nur dann besteht für die einzelne Seele die Möglichkeit zur vollständigen Entwicklung und sie wird fähig, mit anderen zusammen in Harmonie für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu arbeiten.
Anerkennung einer äußeren Autoritätsquelle
Solange ein Mensch kein wirklich gebietendes Zentrum besitzt, das in Harmonie mit der Natur des Universums steht, wird keine Verbindung mit anderen Individuen bestehen bleiben. Deshalb werden sich rein soziale Bewegungen und politische Parteien verändern, aufspalten und abschließend zusammenbrechen. Dabei ist es egal, wie groß die Loyalität ist, die ihnen entgegengebracht wird. Wenn wir aber unsere individuelle Autorität und Freiheit einer externen Autorität unterwerfen, haben wir die Pflicht, diese Quelle der Autorität zu bestätigen, ob es eine bürgerliche Regierung, eine politische Partei oder was auch immer ist.
Der entscheidende Unterschied zwischen Religion und Philosophie ist, daß Religion für sich beansprucht, eine Verbindung zu Gott selbst, dem Schöpfer, dem Erhalter, dem Urheber des Universums zu haben. Sie stellt nicht lediglich die Zusammenfassung wohlüberlegter Ideen, sondern vielmehr die Offenbarung ewiger Wahrheit dar. Die Autorität, die sie beansprucht, ist absolut. Darin ist sowohl ihre Stärke als auch eine Gefahr enthalten. Die Stärke ist, daß jemand, der direkt mit Gott verbunden ist, zu Harmonie mit Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit gelangt. Die Gefahr liegt darin, einem falschen Propheten den Gehorsam zukommen zu lassen, der allein Gott selbst geschuldet werden kann. Dann verfällt man in eine Verwirrung, die weit schlimmer ist, als jede Form von Philosophie sie erzeugen kann. Bedenkt welche Verheerungen durch charismatische Führer wie Hitler ausgelöst wurden. Sie haben für sich absolute Loyalität und Gehorsam durch ihre Anhänger beansprucht. Solche Führer erzeugen Pseudo-Religionen, die mit politischen Parteien nichts mehr zu tun haben. Die Anerkennung der Quelle der Autorität ist bei den Religionen von höchster Wichtigkeit.
Kein Wissen ist von größerer Bedeutung für die einzelne Seele, als die Erkenntnis, daß jeder die Verantwortung hat, die Wahrheit zu suchen und dabei Fehlentscheidungen auszuschließen. Jeder hat sodann die absolute Pflicht, dieser Wahrheit zu folgen, wo auch immer sie hinführt. Wir müssen erkennen, daß Gott nicht mit sich handeln läßt.
Bahá'u'lláh enthüllt diese Wahrheit in einem Satz eines Seiner Gebete: "Welche Kraft können die schattenhaften Geschöpfe als ihr Eigentum beanspruchen, wenn sie Ihm, der der Ungeschaffene ist, gegenüberstehen.
Nun ist dies eine sehr wichtige, eine sehr folgenreiche und äußerst unbequeme Wahrheit. In diesem Zusammenhang möchte ich etwas über die Gottesfurcht sagen. Denn wenn jemand wirklich über Gott nachdenkt, ist dies eine beängstigende Aussicht. Wenn jemand ein Atheist ist, der überhaupt nicht an Gott glaubt, kann dieser sich bis zu einem bestimmten Punkt blind stellen für die Abscheulichkeiten dieses Universums, indem er von Tag zu Tag hetzt. Aber wenn er wirklich über es nachdenkt, wird das Universum zu einem entsetzlichen Ort. Wir brauchen nur die Größenordnung der Sterne zu betrachten, oder die Sonne selbst mit ihren Sonnenflecken und dann über uns winzig kleinen Mikroben nachdenken, wie wir uns auf der Erdoberfläche bewegen. Wir sind zutiefst machtlos; was können wir also tun? Was können wir für die Zukunft tun? Dies war eines der theoretischen Probleme, mit denen sich die kommunistischen Denker vor einigen Jahren befassen mußten. Sie hatten die großartige Idee, daß die Menschen für eine bessere Zukunft altruistisch und selbstlos sein sollten. Ein Individuum hatte nach ihren Vorstellungen kein zukünftiges Leben -- es gab kein ewiges Leben -- aber die Zukunft lag in einer aufzubauenden Gesellschaftsform. Man diente dort so gut man konnte, man liebte seine Mitmenschen und man schuf eine Welt, die ein Muster an Perfektion werden sollte. Diese Welt sollte dann jedermans ewiges Leben darstellten.
In Probleme gerieten sie, als sie bemerkten, daß die Menschen erkannten, diese Welt würde selbst nicht für ewig bestehen. Irgendwann würde auch sie zerstört werden. D. h. es gibt keine ewige Zukunft durch die Verbesserung dieser Welt. Und wenn es keine andauernde Zukunft gibt, fragt man sich: "Warum soll ich mich darum kümmern? Warum soll ich diese rund 70 Jahre für etwas Opfer erbringen, daß sowieso nicht für immer Bestand haben wird?" Pascal hat vor Jahrhunderten dieses Problem erkannt: Die Armut und das Elend dieser Welt sind ohne Gott für die Menschen unerträglich. Sie fangen dann an, nach Ablenkungen zu suchen, um sich davon abzulenken. Darum wird auch eine Gesellschaft, die mehr und mehr unreligiös wird, zunehmend von Vergnügungen und Ablenkungen und Kitzel eingenommen. Denn die Menschen können die Wahrheit nur schwer ertragen.
Festzustellen, daß diese Welt nicht nur eine Ansammlung von Atomen und Molekülen ist, sondern daß da etwas ist, das sie steuert -- daß da mit anderen Worten Gott ist -- kann für eine Weile ein interessantes philosophisches Konzept sein, bis man es ernsthaft untersucht. Wenn man dann feststellt, daß Gott wirklich Gott ist, kann man Ihn nicht mehr beliebig bezeichnen. Und: man kann nicht mit Ihm handeln. C.S. Lewis verfaßte hierüber einst einen Kommentar. Als er die Realität Gottes erkannte, stellte er auch eine Forderung fest, die durch Ihn gestellt wurde. Gott sagte nicht: "Gib mir alles oder nichts." Da gibt es keine Wahl. Er sagte: "Alles". Das ist es. Da gibt es keine Alternativen. Gott ist Gott.
Dies ist schwer, aber wichtig zu akzeptieren. Die unglaublichen Gnaden, die wir durch die Manifestationen erfahren, sind das Wissen, daß diese unverständliche Kraft hinter diesem Universum keine blinde und willkürliche Kraft ist. Vielmehr ist es das Wissen, daß die Kraft der Liebe, Wahrheit und Schönheit dahintersteckt, daß die einzelne menschliche Seele aus Seiner Sicht wichtig ist und daß sie in Seiner Obhut ist. Dies ist eine revolutionäre Idee und ist der Kern jeder wahren Religion.
Aber nach wie vor müssen wir hinnehmen, daß wir nicht mit Gott handeln können. Ich empfehle jedem von Ihnen, der Schwierigkeiten damit hat, das Konzept der Furcht vor Gott anzunehmen oder mit den Ungerechtigkeiten in dieser Welt hadert, daß er das Buch Hiob liest. Dies ist ein sehr altes Buch, aber behandelt dieses Problem. Hiob ist ein sehr aufrichtiger Mann, ein sehr gesunder Mann, ein sehr wohlhabender Mann und in der Geschichte -- bei der Geschichte handelt es sich um ein Gleichnis -- kommt der Teufel zu Gott und spricht: "Schau, er ist doch nur so gut, weil Du ihn so gut behandelst. Nimm ihm seine ganze Gesundheit, sein ganzes Glück und er wird Dir nicht mehr gehorchen." Da sagte Gott: "In Ordnung" und Er erlaubte dem Teufel, Hiob alles zu nehmen, was er hatte. Von da an lief bei Hiob alles schief. Es kommen eine ganze Reihe von Freunden und schlechten Tröstern, die wie ein Refrain in der Geschichte wirken und Hiob erklären, warum alles schief geht. Sie versuchen, ihm klar zu machen, daß alles so käme, weil er gesündigt haben muß. "Nein, ich habe nicht gesündigt," sagt Hiob. "Ich werde nicht sagen, daß ich gesündigt habe, denn ich habe nicht gesündigt! Ich werde nicht bestraft für etwas, das ich getan habe." Aber er verfolgte weiterhin seinen Weg des Gehorsams zu Gott und seiner Liebe zu Gott. Er erklärte: "Selbst, wenn Er mich hinrichtet, werde ich an Ihn glauben." Das ganze läuft so weiter und wir erhalten die verschiedensten Rechtfertigungen für das, was passiert. Schließlich ist Hiob davon überzeugt, daß er Gott befragen müsse. Und Gottes Stimme erklingt aus einem Wirbelwind:
Da antwortete der Herr dem Hiob aus dem Wettersturm und sprach: Wer ist es, der den Ratschluß verdunkelt mit Gerede ohne Einsicht? Auf, gürte Deine Lenden wie ein Mann: Ich will dich fragen, du belehre Mich! Wo warst Du, als Ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt. Wer setzte ihre Maße? Du weißt es ja. Wer hat die Meßschnur über ihr gespannt? Wohin sind ihre Pfeiler eingesenkt? Oder wer hat ihren Eckstein gelegt als die Morgensterne jauchzten, als jubelten alle Gottessöhne?
(Hiob, 38:1 ff)
Es gibt keine Möglichkeit für uns, das Wesen Gottes oder Seine Absichten zu verstehen. Wir müssen dies einfach hinnehmen. Dies ist, lassen Sie es mich so sagen, die Furcht und zugleich die Erhebung, wenn wir schließlich das Wesen Gottes akzeptieren. Ich habe nie die besondere Begebenheit vergessen, durch die ich diese Wahrheit erfuhr. Sie wurde mir klar durch einen jungen Mann, mit dem ich zusammen zu arbeiten hatte. Er war ein Büroangestellter in einer Firma, in der ich Buchhalter war. Irgendwann befragte er mich über den Glauben. Ich glaube, ich gab ihm damals "Bahá'u'lláh und das neue Zeitalter" und dann trennten sich unsere Wege. Eines Tages hatten wir wieder eine gemeinsame Aufgabe und er sagte zu mir: "Wissen Sie, ich hatte damals keine Wahlmöglichkeit mehr. Als ich anfing, das Buch zu lesen, stellte ich fest, daß es so wichtig war, daß ich keine andere Wahl hatte, als es zu Ende zu lesen und zu entscheiden, ob es wahr oder falsch ist. Und wenn ich es als wahr erachte, habe ich keine andere Wahl als dem zu folgen." Nun es gibt nicht so viele Menschen, die eine so tiefe Empfindungsgabe haben, so kurz, nachdem sie über den Glauben gehört haben -- er hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden, ob es wahr ist. Aber er studierte und er entschied und er nahm den Glauben an. Er verstand die Wahrheit folgender Worte Bahá'u'lláh's sehr gut:
Sie sollten keinesfalls ihrer Phantasie erlauben, ihre Urteilskraft zu trüben, noch sollten sie ihre eigenen Vorstellungen für die Stimme des Ewigen halten.
(ÄL 160)
Einzuräumen, daß Gott Gott ist, zu akzeptieren, daß man nur ein kleiner Teil Seiner Schöpfung ist und zu verstehen, daß die Erfüllung der Übung der eigenen unabhängigen Autorität die Unterordung unter die Autorität Gottes ist, kann eine sehr demütigende und schmerzliche Erfahrung sein. Einmal vollzogen, bringt es einen Zuwachs an Freude und Kraft, die man kaum erwartet hätte. Denn man hört auf, alleine zu sein. Man wird ein hilfreicher integrierter Bestandteil des ganzen Universums. Es ist eine Offenbarung des Geheimnisses des Opfers und der erstaunlichen Tatsache, daß Gott Liebe ist.
Eine Gefahr verbirgt sich darin, daß die Freude, die solch eine Selbstaufgabe mit sich bringt, in gewisser Weise auch von jemandem erfahren werden kann, der sich einem falschen Propheten hingibt, so wie von jenem, der sich der wahren Manifestation Gottes weiht. Selbstaufgabe ist als solches eine Tugend und man kann das gleiche erhebende Gefühl haben, wenn man sich dem Falschen weiht. Dies ist die Gefahr. Die Methoden, wie wir die Wahrheit suchen und akzeptieren können, kennen wir, weshalb ich hierüber keine Ausführungen machen werde. Sie erinnern sich alle an die vier Kriterien, die 'Abdu'l-Bahá uns zur Ermittlung der Wahrheit genannt hat: Die Sinne, den Verstand, die Tradition und die Inspiration. Jeder dieser Wege kann fehlbar sein, aber wir geben unser Bestes, sie alle zu kombinieren und es ist die Führung Gottes, die uns die endgültige unfehlbare Führung gibt.
Was passiert, wenn wir nach unseren besten Möglichkeiten unsere Sinne, unseren Verstand, unsere Traditionen und unsere Inspiration angewandt haben und wir dachten, daß die Quelle der Autorität gültig ist und haben ihr dann Gehorsam geleistet, dies aber trotz allem falsch war? Wie können wir unseren Fehler herausfinden?
Diese Frage bringt uns zum vierten Prozeß, den ich zu Beginn erwähnte.
Verstehen der Anforderungen von Autorität
In seinem Brief an die Palästina Sonderkommission der Vereinten Nationen hielt Shoghi Effendi fest, der Glauben "beinhalte für die Anhänger als erste Pflicht, sich auf die entfesselte Suche nach Wahrheit begeben.
Dieses Gebot bedeutet zur gleichen Zeit den Schutz davor, einem falschen Propheten zu folgen, den Ursprung des Lichtes der Beratung und die Garantie der erfolgreichen Umsetzung der Anweisungen Bahá'u'lláh's in den Worten des Paradieses:
Schulen müssen die Kinder zuerst in den Grundsätzen der Religion erziehen, so daß Verheißung und Drohung, wie sie in den Büchern Gottes geschrieben stehen, die Kinder von Verbotenem abhalten und mit dem Mantel der Gebote schmücken; aber dies muß in solchem Maß geschehen, daß es die Kinder nicht durch Abgleiten in eifernde, bigotte Unwissenheit schädigt.
(BOT 6,28)
Wir kehren wieder zurück zu der Antithese zwischen blindem Gehorsam und willentlichem, bewußtem Gehorsam, die ich zu Beginn des Vortrages erwähnte. Sie mögen fragen: "Aber warum sollen wir unsere unabhängige Suche nach Wahrheit fortsetzen, nachdem wir sie durch die Anerkennung Bahá'u'lláh's gefunden haben? Würde dies nicht andeuten, daß wir Zweifel an Seiner Position haben?" Glauben Sie etwa, daß die Erkenntnis Bahá'u'lláh's das Ende ist? Sicher ist es nur der Anfang. Wenn man akzeptiert, daß Bahá'u'lláh die Manifestation Gottes ist, daß Er, Seine Handlungen und Seine Worte ein perfekter Spiegel der Natur Gottes sind, Seiner Wahrheit, Seiner Absichten für dieses Zeitalter, dann beginnt eine lange Aufgabe, genau zu erfassen, was er uns sagen will, Seine Befehle in unserem täglichen Leben umzusetzen und es zuzulassen, daß das Licht Seiner Offenbarung unser Herz und unseren Verstand erleuchtet. Dies kann nicht passieren, wenn wir die Türen unseres Geistes verschließen.
Ein wahres Prinzip für eine Handlung bleibt wahr, egal auf wen es angewendet wird. Das anhaltende Suchen nach Wahrheit ermöglicht es den Anhängern eines wahren Propheten, Ihm immer näher zu kommen, Seine Lehren aufzunehmen und sie in ihr Leben zu integrieren. Das gleiche Prinzip, wenn es auf die Anhänger eines falschen Propheten angewendet wird, wird ihnen früher oder später ermöglichen, den Irrtum zu erkennen. Dies ist auch der Grund, warum falsche Propheten von ihren Anhängern blinden Gehorsam fordern. Sie fürchten die Wahrheit - und dies aus gutem Grund. Aber warum sollte Er, der die Wahrheit selbst ist, jemals leiden durch das Streben nach Wahrheit Seiner Anhänger?
Dann wäre da noch die Sache mit unserer Vertiefung in die Lehren. Wie können wir uns vertiefen, wenn wir nicht über sie nachdenken, wenn wir sie uns nicht gegenseitig erzählen, wenn wir sie nicht ausprobieren und sie untersuchen im Lichte der Erfahrung? Die Lehren Bahá'u'lláh's sind dazu da, die Menschheit für mindestens die nächsten 1.000 Jahre zu bereichern. Ist es dann überhaupt vorstellbar, daß wir ohne eine Menge tiefgreifender Überlegungen wirklich verstehen, was Er uns sagt und was Er von uns an Handlungen erwartet.
Nur durch unabhängiges, klares Nachdenken über den großen Umfang der Lehren kann man das Wachstum seines Verständnisses fördern.
Aber nicht nur die Texte sind Quelle der Führung. Bahá'u'lláh hat uns auch noch die Beratung als Instrument der Führung an die Hand gegeben. Damit dieses funktioniert, müssen wir die Freiheit der Gedanken ebenso üben, wie die aufrichtige Äußerung, Höflichkeit und Gehorsam. Ohne die Anwendung der ungehinderten Suche nach Wahrheit und ohne den Gehorsam gegenüber Beschlüssen, wird Beratung fruchtlos sein.
Somit haben wir den Bedarf an uneingeschränkter Suche nach Wahrheit im Verstehen der Voraussetzungen von Autorität begründet. Was können wir tun, wenn wir feststellen, daß wir diese Voraussetzungen nicht akzeptieren können. Dies kann auf verschiedenen Ebenen geschehen und ist ein Problem, dem ehrlich gegenübergetreten werden sollte und das es gilt, anzugehen.
- Da könnte z.B. ein Gebot von Bahá'u'lláh selbst sein, welches wir nicht verstehen oder bei dem es uns schwer fällt, zu gehorchen.
- Es könnte aber auch ein Prinzip des Glaubens oder eine Anweisung des Hüters oder des Universalen Hauses der Gerechtigkeit sein, welches uns große Unannehmlichkeiten beschert oder das uns bei Befolgung in Gefahr bringt.
- Oder es handelt sich um eine Entscheidung eines Geistigen Rates, von der wir überzeugt sind, daß sie falsch ist.
Wie können wir in solchen Fällen reagieren. Sie alle führen uns zurück zum früheren Stadium des Prozesses: Die Bestätigung der Quelle der Autorität. Wenn wir Schwierigkeiten mit dem Verständnis oder dem Gehorsam gegenüber Gesetzen Bahá'u'lláh's haben, sollten wir keine Hemmungen haben, die Basis unseres Glaubens zu überprüfen. Wir haben Bahá'u'lláh als die Manifestation Gottes aus Gründen anerkannt, von denen wir überzeugt sind, daß sie Gültigkeit hatten.
Was bedeutet nun diese eine Unstimmigkeit mit Seinen Schriften? Ist sie ernst genug, um die Beweise, die mich zunächst zu Seiner Anerkennung führten, in Zweifel zu ziehen? Oder ist es ein Hinweis auf meine eigene Unzulänglichkeit? Stellt man dann fest, der Glaube in Bahá'u'lláh ist nicht erschüttert und lediglich ein bestimmtes Gesetz bereitet das Problem, dann sollte man auf der Grundlage des Glaubens gehorchen. Eine weitere Qualität ist in diesen Prozeß mit einbezogen und dies ist die Loyalität. Wenn jemand eine Manifestation Gottes anerkennt, beginnt er, eine Beziehung zu Ihr aufzubauen. Diese Beziehung läßt ein tieferes Verständnis wachsen. Dies wiederum ist verbunden mit einer wachsenden Loyalität. Loyalität hat ihre Grundlagen in der Erfahrung, dem Wissen und der Verpflichtung. Sie schützt einen davor, durch jede Anspielung gegen Ihn, dem man die Loyalität ausgesprochen hat, aus dem Gleichgewicht geworfen zu werden. Ich muß noch einmal betonen: Dies ist nicht blinder Glauben oder blinder Gehorsam: 'Abdu'l-Bahá sagt in diesem Zusammenhang:
Unter Glauben versteht man zuerst bewußtes Wissen, dann das Tun guter Taten.
(GL, S. 58)
Wir haben ein dauerhaft gegründetes Vertrauen in Bahá'u'lláh als eine Autoritätsquelle in allen Dingen. Manchmal schreiten wir voran mit einem klaren Verständnis für das, was Er von uns erwartet. Manchmal fühlen wir uns im Dunkeln zurückgelassen, weil unser Verständnis noch nicht genügend gewachsen ist. Das Licht, das uns durch solch dunkle Flecken führt, ist unser Glauben an Ihn; unser Wissen, daß Er, obwohl es uns im Moment anders erscheint, recht hat, und daß Er es wirklich besser weiß als wir. Dieses Wissen läßt uns in vollstem Vertrauen entsprechend handeln und ich betone dieses "vollste Vertrauen". Es handelt sich nicht um abgeneigten Gehorsam gegenüber einem Gesetz, mit dem wir nicht übereinstimmen. Es ist Gehorsam aus vollem Herzen, wenn wir einem Gesetz folgen, das wir nicht verstehen können, von dem wir aber wissen, daß es richtig ist. Wie Shoghi Effendi bereits schrieb:
Können wir anzweifeln, daß die Wege Gottes nicht notwendigerweise auch die Wege der Menschheit sind? Ist nicht Glaube ein anderer Begriff für hintergründigen Gehorsam, vollherzige Ergebenheit, kompromißlose Befolgung dessen, von dem wir glauben, daß es die Offenbarung und der Ausdruck des Willens Gottes ist? Es mag jedoch verwirrend erscheinen, oder als Abweichung von der beschränkten Sichtweise, der machtlosen Lehren, der ungeschliffenen Theorien, der eitlen Einbildungen, der modernen Vorstellungen dieses vergänglichen und geplagten Zeitalters. Wenn wir wanken oder zögern, wenn unsere Liebe zu Ihm versagen sollte, uns zu führen und uns auf Seinem Pfad zu halten, wenn wir die göttlichen und eindringlichen Prinzipien verlassen, was nährt dann noch unsere Hoffnungen auf die Heilung der Krankheiten und Übel dieser Welt ?
(BA p. 62, unautorisierte Übersetzung)
Die Autorität des Hüters und des Universalen Hauses der Gerechtigkeit ist zurückzuführen auf die Autorität Bahá'u'lláh's selbst. Somit sind hier gleiche Prinzipien anzuwenden. Man sollte ihnen gehorchen, weil man weiß, daß sie göttlich geführt sind. Ich kann mich an mehr als eine Situation erinnern, in der ich mich unfähig erkannte, die Entscheidung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit zu verstehen oder in der ich nicht übereinstimmte. Sie wissen, das Universale Haus der Gerechtigkeit fällt auch nicht immer einstimmige Entscheidungen. Manchmal fällt es auch Mehrheitsentscheidungen. Solche Situationen sind auf keinen Fall erstaunlich. Das Haus der Gerechtigkeit ist unfehlbar, aber die einzelnen Personen sind es nicht. Somit ist es logisch, daß manchmal einzelne im ersten Moment mit einer gefällten Entscheidung nicht einverstanden sind. In allen Fällen habe ich selbstverständlich die Entscheidungen akzeptiert. Und nach einer gewissen Zeit habe ich immer erkannt, warum das Universale Haus der Gerechtigkeit recht hatte und ich nicht.
Das Interessante an der Sache ist, daß es nicht nur an Dingen lag, die ich nicht gleich erkannte -- "In Ordnung, dies war es, was ich in der Beratung falsch verstand, nun weiß ich, wie es richtig ist -- sondern manchmal auch Informationen, die ich zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht wissen konnte. Die Wege Gottes sind geheimnisvoll, sogar, wenn Sie durch Ihn verordnet wurden. Man kann nicht erwarten, immer alles von Anfang an zu wissen.
Solche Erfahrungen lassen einen geistig wachsen und bereichern das eigene Verständnis bis zu einem einzigartigen Grad. Intelligenter und wachsamer Gehorsam unterstützen somit das Wachstum der Seele.
Einer Entscheidung eines Geistigen Rates zu folgen, von der man meint, daß sie falsch ist, kann viel schwieriger sein. Hier gehorcht man wegen des unumstößlichen Prinzips des Erhaltes der Einheit im Glauben. Außerdem kann man, wenn man den Fall für wichtig genug erachtet, darum bitten, die Entscheidung nochmals zu überdenken. Hierbei sollte man jedoch Weisheit walten lassen. Jeder hat das Recht, gegen die Entscheidung Einspruch zu erheben. Man sollte jedoch nicht nur seine eigenen Interessen in dem Fall vor Augen haben, sondern auch die Interessen des Glaubens. Ist es richtig, die Zeit des Geistigen Rates zu beanspruchen, indem man beharrlich diesen Punkt verfolgt? Insbesondere dann, wenn man sicher ist, daß dessen Entscheidung falsch ist? Oder ist es besser, darüber hinweg zu sehen und dem Geistigen Rat zu erlauben, seiner eigentlichen Aufgabe nachzugehen, die das Lehren der Sache Gottes ist? Manchmal ist es richtig, manchmal ist es falsch. Manchmal sollte man darauf bestehen, manchmal sollte man es laufen lassen. Nochmals, es ist eine Sache der Beurteilung und guter Gründe. Somit gelangt man zu der Bedeutung des Verstandes, wenn es darum geht, die Anordnungen einer autoritären Führung auszuführen.
Die Rolle des Verstandes bei der Ausführung von Geboten
Es gibt an dieser Stelle zwei Quellen von Autorität, über die wir nachdenken sollten, da sie sich voneinander unterscheiden. Die eine ist der Herausgeber von Befehlen, die andere sind Gesetze und Regeln.
Der Unterschied zwischen beiden ist, daß ein bestimmter Befehl einer Autoritätsquelle häufig sehr klar, ausdrücklich und auf einen bestimmten Fall bezogen ist. Ein Gesetz oder eine Regel ist ein mehr allgemeines Gebot und seine Anwendung auf einen speziellen Fall erfordert die Berücksichtigung weiterer Regeln.
Ein interessantes Beispiel, an dem der Unterschied dieser beiden Varianten deutlich wird, entstand während der 60er Jahre in Amerika. Es war in der Zeit, als große Spannungen zwischen den Rassen herrschten. Die Bahá'í strengten sich sehr an, die Rassenvorurteile zu überwinden und die Einheit so gut wie möglich sowohl innerhalb der Gemeinde als auch außerhalb herzustellen. Die Frage, die auch dem Universalen Haus der Gerechtigkeit vorgelegt wurde, war: Was passiert, wenn man in einem südlichen Staat lebt, wo ein Gesetz eine bestimmte Form des Kontaktes zwischen Menschen verschiedener Hautfarben verbietet? Insbesondere, wenn es dahin gekommen ist, daß Nicht-Bahá'í dieses Gesetz diskutieren? Müssen die Bahá'í diesem Gesetz dann folgen, weil wir das Prinzip haben, der Regierung zu gehorchen, egal um welches Gesetz es sich handelt? Das Haus der Gerechtigkeit sagte: "Nein". Es erklärte, daß die Bahá'í die Gebote des Glaubens so gut es geht befolgen sollten. Wenn aber eine Autoritätsperson ihnen gebieten sollte, es nicht zu tun, dann sollten sie es nicht tun. Mit anderen Worten: Das Gesetz mag den Weißen und Schwarzen den Kontakt miteinander verbieten, wogegen der Glaube sie offensichtlich dazu aufruft. Dann sollten die Bahá'í solange die Freundschaft untereinander pflegen, solange kein Polizist käme und ihnen gebieten würde: "Setzt euch an verschiedene Plätze." Dann sollten sie sich voneinander entfernen. Es gibt demnach einen Unterschied zwischen einem geschriebenen Gesetz und einem Gesetz, das direkt eingefordert wird. Dieser Umstand kommt in vielen Beziehungen zwischen dem Bahá'í-Glauben und den Gesetzen zum Tragen. Dies war in ähnlicher Form während des Nazi-Deutschland der Fall. Mir wurde erzählt, daß die Nazi-Behörden den Bahá'í befahlen, die Treffen zwischen Juden und Nicht-Juden zu trennen. Die Lösung damals war, daß keine Treffen mehr stattfanden. Wir können solche Probleme also auf verschiedene Art und Weise lösen.
Es kann aber auch vorkommen, daß das Befolgen von Gesetzen und Prinzipien des Glauben Schwierigkeiten und Leiden verursachen können. Wie ich bereits gesagt habe, ist es meist der Gehorsam durch Glauben und die Annahme einer unangenehmen Wahl, die uns geistig und moralisch und in unserem Verständnis wachsen lassen. Diese Art von Gehorsam hat auch einen Effekt auf die Gemeinschaft als Ganzes. Dadurch entsteht eine Gesellschaft, die vereint, liebevoll, standhaft, rechtschaffen und beherzt ist. Und sie ist ebenso frei von unwissendem Fanatismus und Blindgläubigkeit. Es ist ein schwierig zu haltendes Gleichgewicht: Standhaft zu sein, Prinzipien zu haben, aber nicht fanatisch und genauso wenig blindgläubig zu sein.
Eine der Wahrheiten, die wir akzeptieren müssen, ist, daß das Leben nicht einfach ist. Es ist nicht dafür da, einfach zu sein. Wenn wir dies erkennen, annehmen und daran arbeiten, wachsen wir und schreiten voran, trotz aller Prüfungen und Widrigkeiten. Dies ist eine sehr tiefgreifende Erkenntnis. Ich glaube, es war Carl Jung, der Menschen in einer besonderen Form als psychologisch krank erachtete, die versuchten, "gesetzmäßige Schmerzen" zu vermeiden. Sie sehen: je des Wachstum im Leben bedingt Schmerzen einer gewissen Stufe. Betrachten Sie das Stadium des Heranwachsens, wenn wir nicht wissen, wie wir damit umgehen sollen, plötzlich erwachsen zu werden. Oder wenn wir heiraten, und zwei Menschen auf einmal miteinander leben müssen. Auch das ist mit Schmerzen verbunden. Und Jung, denke ich, legte seinen Finger auf einen sehr wichtigen Punkt: Zu versuchen, gesetzmäßige Schmerzen zu vermeiden, erzeugt einen psychologischen Zusammenbruch. Und dies gilt für die gesamte Gesellschaft. Es mag jedoch einem Menschen einen unbarmherzigen Anschein verleihen, wenn er zu bestimmten Zeiten mit Gehorsam und Annahme von Schmerz voranschreitet.
Wahrer Gehorsam darf nicht mit sklavischer Unterwürfigkeit verwechselt werden. Er erfordert Courage und Durchhaltevermögen. Ein wesentliches Element des Gehorsam ist die Ausübung von Gerechtigkeit bei der Ausführung der Anforderungen der Autorität, die man akzeptiert hat.
Es spielt keine Rolle, ob in einem bestimmten Fall eine Anweisung einer Amtsgewalt oder eine gesetzliche Vorgabe die Quelle der Autorität ist. Selten kann sie alle Möglichkeiten und Eventualitäten abdecken.
Ich habe einmal eine Geschichte gelesen, die von einem Mann handelt, der sich nicht von seinem Anzug trennen konnte -- Männer hängen häufig an einem ihrer Anzüge und wollen wollen sich nicht von ihnen trennen -- als er aber allzu abgetragen war, entschied er doch, ihn aufzugeben. Er nahm ihn und ging zu einem Schneider. Diesen beauftragte er, eine exakte Kopie zu erstellen. Der Schneider tat dies ordnungsgemäß. Er entschuldigte sich jedoch, er habe sein Bestes gegeben, eine originalgetreue Kopie zu erstellen. Es sei ihm jedoch nicht gelungen, den Kaffeefleck auf der Jackettvorderseite nachzuempfinden. Dies ist ein Beispiel mit einer Problemstellung, denen das Büro für die Gebäuderestaurierung täglich gegenübersteht. In diesem Fall will man, wenn man eine Heilige Stätte repariert, dies so genau wie möglich tun. Wenn man z. B. zwei nahe beieinander liegende Fenster hat, von denen eines ein wenig kleiner als das andere ist, dann möchte man nicht, daß eine aufmerksame Person vorbei kommt und sagt: "Es wäre schön, wenn beide die gleiche Größe hätten." Man möchte die neuen Fenster verschieden machen, genauso, wie die alten waren. Wenn wir andererseits ein leckendes Abflußrohr ersetzen wollen, dann soll das neue Rohr natürlich nicht wieder ein Leck haben. Hier ist also die Anwendung eines guten Urteilsvermögens angebracht. Und es ist erstaunlich, wie oft im Leben man Leute findet, die dies nicht anwenden und man kann geradezu verrückt werden, wenn man, wie man denkt, eine klare Anweisung gegeben hat und die Person kommt mit etwas völlig Durcheinandergeratenem zurück und sagt: "Aber Sie haben mir doch den Auftrag gegeben!" Und man weiß, daß man die Anweisung erteilt hat. Aber man hat erwartet, daß die Person ihren Verstand anwenden würde und dadurch den Sinn, der hinter den tatsächlich gesprochenen Worten steckte, erfaßt hätte.
Dies sind sehr deutliche Beispiele. Die gleichen Anforderungen werden jedoch auch fortwährend bei der Anwendung der Gesetze des Glaubens gestellt. Wann soll man auf ihrer Einhaltung bestehen, wann großzügig sein, welche Ausnahmen sind zu rechtfertigen, welche nicht? Wie nachsichtig darf man sein, ohne ein Prinzip zu opfern? Wie kann man rechtschaffen sein, ohne fanatisch zu wirken? Generell gesagt: Es ist eine gute Leitlinie, mit sich selbst sehr streng zu sein und mit anderen nachsichtig. Im zweiten Taráz schreibt Bahá'u'lláh:
Dieser Unterdrückte ermahnt die Völker der Welt, Duldsamkeit und Rechtschaffenheit zu üben; dies sind zwei Lichter im Dunkel der Welt, zwei Erzieher für die Bildung der Menschheit. Glücklich sind, die dazu gelangen, und wehe den Achtlosen.
(BA, S. 52)
Die Gleichstellung von Toleranz und Rechtschaffenheit macht diesen Text, wie ich meine, zu einem sehr interessanten Abschnitt.
Hier wird man auch wieder zurückverwiesen auf das Prinzip der abschließenden Verantwortlichkeit jedes Einzelnen. Wir müssen akzeptieren, daß uns Gott den Verstand zu seiner Benutzung gegeben hat. Er hat uns einen freien Willen gegeben und er hat uns ermahnt, Weisheit und gutes Urteilsvermögen anzuwenden.
Ich bezeichne es als einen Schmerz, denn wir müssen vorsichtig sein, diese Freiheit als eine Erlaubnis zu Ungehorsam zu betrachten. In einem der Briefe, die im Auftrag des Hüters geschrieben wurden, hat der Sekretär die nüchterne Warnung ausgesprochen: "Wir sollten auf die Gnade Gottes hoffen, aber wir dürfen nicht auf ihr bestehen."
(LG. #1223, unautorisierte Übersetzung)
Aber es gibt gültige Fälle, in denen weises Urteilsvermögen einem Menschen sagt: "In diesem Fall würde ich sicher freigesprochen, etwas zu tun, was normalerweise nicht angenommen werden könnte." Einige Gläubige, die sich davor fürchten, die Verantwortung hierfür zu übernehmen, bitten des Universale Haus der Gerechtigkeit um eine Ausnahmegenehmigung. Dies kann es häufig nicht gewähren, wie sie sicher verstehen. Denn es hätte meist viel weitreichendere Folgen, die sich nicht nur auf diesen einen Fall beschränkten. Ich erinnere mich an mehr als eine Begebenheit, wo das Haus der Gerechtigkeit solche Fragen beantworten mußte und die Antwort wie folgt lautete: "Es ist schade, daß er nicht selbst gehandelt hat, anstatt zu fragen". Ich erinnere mich an einen ähnlichen Kommentar, der von einem Pilger niedergeschrieben wurde, der dem Hüter eine Frage stellte. Bevor er antwortete, fragte der Hüter ihn: "Sind Sie sicher, daß Sie diese Frage beantwortet haben möchten?"
Es gibt eben Situationen, wo man einfach selbst entscheiden muß. Ich erinnere mich solch einer Situation eines jungen Mannes, der Student der vergleichenden Religionswissenschaften war. Er stellte Untersuchungen für den Abschluß seiner Doktorarbeit an. Und er meinte, daß es wichtig wäre, dazu einige Schriften über die Bündnisbrecher zu lesen. Also schrieb er an das Universale Haus der Gerechtigkeit und bat: "Können Sie mir bitte die Erlaubnis geben, diese Schriften über die Bündnisbrecher zu lesen?" Das Haus der Gerechtigkeit schrieb zurück und sagte: "Es ist Ihnen doch nicht verboten, Schriften über die Bündnisbrecher zu lesen; es wird davor gewarnt, daß es sehr gefährlich ist, aber es ist nicht verboten, also können wir Ihnen die Erlaubnis gar nicht geben." Er schrieb zurück: "Ja, ich weiß dies alles, aber bitte geben Sie mir die Erlaubnis." Also schrieb das Haus der Gerechtigkeit wiederholt, indem es seine frühere Anwort wiederholte. Er wollte nicht hinnehmen, daß die Verantwortung bei ihm selbst lag. Es war eine Gefahr für seine Seele, wie hätte also das Haus der Gerechtigkeit ihm sagen können: "Es ist Ihnen erlaubt, sich der Gefahr auszusetzen"? Es gab kein Verbot, er mußte für sich selbst beurteilen: "Ist es notwendig, dies zu tun, oder ist es das nicht? Kann ich mich in die Gefahr begeben oder kann ich es nicht?" Es gibt viele Bereiche unseres täglichen Lebens, wo wir diese Verantwortungen selbst übernehmen müssen.
Die Übung des eigenen Verstandes und die Anwendung des eigenen Urteilsvermögens beim Befolgen eines Gesetzes und von Anweisungen sind aber auch Wege der Göttlichen Führung. Ich war zutiefst beeindruckt von einer Sache, auf die die Hand der Sache Gottes Paul Haney einmal Bezug nahm. Er sagte, er habe manchmal, wenn das Universale Haus der Gerechtigkeit ihn bat, eine Aufgabe auszuführen, zunächst weder die Weisheit erkannt, die darin lag, noch habe er gewußt, wie er diese Aufgabe bewerkstelligen solle. Trotzdem begann er im Vertrauen auf die Göttliche Führung, die dem Haus der Gerechtigkeit zuteil wird. Und er erkannte, daß sich mit jedem Schritt, den er vorwärtsging, eine Tür öffnete und die weiteren Schritte klarer wurden. Am Ende wußte er, daß er befähigt wurde, das zu erreichen, worum er gebeten worden war. Und er erkannte auch den Grund für diese Aufgabe. Dies ist ein ideales Beispiel für Gehorsam, Glauben, Weisheit und Urteilsvermögen.
Der Prozeß, die Verantwortung für sich anzunehmen, die eigene Unzulänglichkeit zu erkennen, eine Quelle der Autorität zu suchen und anzuerkennen und dabei die Manifestation Gottes zu finden, Seine Lehren zu verstehen und die eigene Intelligenz zu nutzen, diese Lehren anzuwenden, sind wesentlich für die Entwicklung der individuellen Seele und befähigen sie, ihr Ziel zu erreichen, das da lautet, in Harmonie mit der Absicht Gottes zu gelangen und in absolutem Gehorsam gegenüber Seinen Plänen zu leben.
Um einiges wichtiger ist Gehorsam in diesem Zusammenhang für das Wohlergehen und die Entwicklung der gesamten Menschheit. In allen Teilen der Welt flehen die Menschen um Freiheit. Und dieses Streben nach Freiheit und den materiellen Gütern dieser Welt führt zu Konflikten und Kriegen, die die Zerstörer von Freiheit und Wohlergehen sind. Nur die Führung Gottes und Bahá'u'lláh's System des vereinten und willentlichen Gehorsams der einzelnen Seele gegenüber Seiner Führung, führen die Menschen wie eine Brücke über die abgrundtiefe Zersplitterung und das Chaos hinüber zu der Seligkeit des Königreiches Gottes auf Erden. Und dann werden alle Menschen die Wahrheit in den Worten Bahá'u'lláh's erkennen:
Die Freiheit, die euch nützt, ist nirgendwo zu finden außer in vollkommener Dienstbarkeit vor Gott, der Ewigen Wahrheit. Wer ihre Süße kostet, wird es verschmähen, sie gegen alle Herrschaft der Erde und des Himmels zu tauschen.
(I&S, S.43)
Gehorsam 26 Juli 1991
Programm Geistige Bereicherung
Literaturverzeichnis
AB Der Báb, Eine Auswahl aus Seinen Schriften
ÄL Bahá'u'lláh, Ährenlese
BA Bahá'í Administration: selected Messages 1922 - 1932 (Wilmette: Bahá'í Publishing Trust, 1980)
BOT Bahá'u'lláh, Botschaften aus Akka
GL Göttliche Lebenskunst
I&S Inhaltsübersicht und systematische Darstellung der Gesetze und Gebote es Kitáb-i-Aqdas, Haifa, Job Das Buch Hiob,
LG Hornby, Helen, comp. Lights of Guiance: A Bahá'í Reference File, rev. ed. (New Dehli: Bahá'í Publishing Trust, 1988)
VW Verborgene Worte (Arabisch)
Vertiefung: Ansprache von Ian Samle über Gehorsam im Weltzentrum am 26. Juli 1991
Der Geistige Rat als lernende Organisation
Es gibt Bahá‘í, die freuen sich, wenn sie an ihren Geistigen Rat denken. Sie freuen sich auf ihre gemeinsamen Sitzungen, weil sie etwas Spezielles miteinander gefunden haben. Sie fühlen sich eingeladen, miteinander zu denken und Lösungen von Problemen gemeinsam zu entwickeln. Jeder und jede fühlt sich angeregt, mitzudenken und eigene Ideen, Anregungen, Vorbehalte und Kritik einzubringen.
Im Rat denkt und suchen die Bahá‘í miteinander und erkunden gemeinsam neue Lösungsansätze, neue Wege für die Herausforderungen und Probleme, die sie in ihrer anspruchsvollen Aufgabe antreffen. Wenn sie dann alle wieder in ihren individuellen Lebensbereichen stehen, fühlen sie sich verbunden mit den anderen und getragen im Team, was eine tolle Erfahrung ist, überhaupt nicht selbstverständlich.
Nun, ich höre auch immer wieder von anderen GR-Teams: man diskutiert und streitet gegeneinander, ohne Lösungen zu finden, redet aneinander vorbei, hört sich nicht zu, und das Gefühl in der Beratung ist alles andere als angenehm.
Überall, wo Menschen zusammenarbeiten, entstehen Probleme. Das ist nichts Neues und auch nichts Besonderes. Wenn die Probleme auf der Sachebene liegen, lassen sie sich in der Regel leicht lösen.
Häufig liegen die Probleme aber auf einer anderen Ebene. Dann sind die Menschen auf einer anderen Ebene gefordert. Dann braucht es andere Vorgehensweisen, andere Fragen und andere Antworten.
Dann müssen alle Beteiligten lernen.
Kann der Geistige Rat als Ort der Beratung selber zu einer Lernenden Organisation werden?
Folgende Elemente sind Bedingungen, damit sich eine Lernende Organisation entwickeln kann:
Systemdenken
Wenn Probleme auftauchen, nehmen Entscheidungsträger den Geistigen Rat oft als Insel wahr, der für sich alleine lebt und funktioniert. Dabei ist er eingebunden in ein großes System von Zusammenhängen. Die gewählten Mitglieder mit ihren individuellen Voraussetzungen und Bedingungen gehören dazu, mit ihrem familiären Hintergrund, mit ihren eigenen Berufserfahrungen, mit ihren Erlebnissen untereinander.
Es kommt immer wieder vor, dass jemand in die Position des Schuldigen kommt, und dass Probleme im Team bei dieser Person identifiziert werden. Polarisierungen passieren, und oft verlässt dann diese Person den Rat, ohne dass die Hintergründe der Probleme gelöst sind.
Systemische Lösungsansätze verzichten auf die Konstruktion einfacher, linearer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Sie verzichten darauf, Probleme bei einzelnen Akteuren im ganzen System zu identifizieren und dort zu 'lösen'.
Es ist hilfreich, wenn der Rat als System verstanden wird, das eingebunden ist in größere Zusammenhänge, und wenn der Rahmen für Lösungen weit genug gesteckt wird.
Die Gemeinsame Vision
Wagen die Bahá‘í, heute noch, eine Vision von der Beratung im Geistigen Rat zu haben? Von besseren Beratungen zu träumen? Oder breitet sich Ernüchterung, Müdigkeit und Resignation aus?
Eine gemeinsame Vision steht am Anfang eines speziellen Engagements für die Beratung.
Als Sie sich als Bahá’í erklärten: was waren Ihre Ideale? Wie soll die Beratung aussehen, welche Atmosphäre wollen Sie in Ihrer Gemeinde? Glauben Sie noch an Ihre Ideale von damals? Gibt es eine reelle Chance zur Verwirklichung?
Eine gemeinsame Vision kann nicht von der Administration verordnet werden. Die Ideen, Vorstellungen und Hoffnungen aller Beteiligten müssen zusammenfließen, damit die Herzen berührt werden. Dann kann der Funken der Begeisterung springen, und es hat eine Bedeutung, was die Bahá’í-Freunde tun. Sie können teilhaben an einer speziellen Energie, die sich im Geistigen Rat entwickelt. Und sie spüren sich selber in einer anderen Qualität, wenn sie als Rat zusammen treten.
Mentale Modelle
Mentale Modelle sind unsere Entwürfe über die Realität. Diese Entwürfe, Ideen und Konstrukte sind häufig implizit, uns nicht bewusst, weil wir nicht darüber nachdenken können.
Aber sie haben Wirkung, weil wir aus diesen Modellen heraus denken, Dinge überlegen, Geschehenes interpretieren und Probleme verstehen. Es gibt keine 'objektive' Wahrnehmung der Realität. Wir schauen die Welt da draußen an, und wir verstehen und interpretieren das, was wir da sehen, in unserer ganz und gar persönlichen Art und Weise. Und formen so ein individuelles Bild der Welt, des Lebens, der Bahá’í-Gemeinde, der Geistigen Räte und der Beratung.
Die Freunde haben alle ihre eigenen Entwürfe und Konstrukte über das Bahá’í-Sein und über die Hintergründe von Problemen. Solange sie nicht die Möglichkeit haben, ihre mentalen Modelle miteinander zu erkunden und miteinander auszutauschen, haben sie kaum eine Chance, eine gemeinsame Vision zu entwickeln und flexibel auf sich verändernde Umstände zu reagieren. In Phasen von neuen Entwicklungen ist es für die Beteiligten ein Muss, ihre mentalen Modelle anzuschauen.
Welche Ideen und Entwürfe benutzen die Freunde, wenn sie versuchen, die Probleme in der Gemeinde und im Rat zu verstehen? Und welche Konstrukte sind aktiv, wenn sie darüber nachdenken, warum sich manche Probleme wiederholen?
Wenn die Freunde versuchen, gemeinsam ihren mentalen Modellen auf die Spur zu kommen, gibt es plötzlich eine Ausweitung des Verständnisses, neue Ideen tauchen auf, neue Modelle, vielleicht geeignetere, breiter abgestützte. Das Denken wird fruchtbarer.
Die Persönliche Entwicklung
In der Bahá’í-Gemeinde ist es offensichtlicher als anderswo: die Qualität der Beratung steht und fällt mit der Persönlichkeit der Bahá’í. Die Freunde sind gefordert als ganze Personen, sie können nicht Teile ihres Wesens außerhalb der Beratung lassen. Deshalb brauchen wir in unserem Rat eine Kultur, die das anerkennt. Wir brauchen Bedingungen, die es den Freunden ermöglichen, in einem guten Bezug zu sich selber zu stehen und sich selber als Person im Blick zu haben.
Gerade das ist für Mitglieder von Geistigen Räten nicht einfach, stehen sie doch in einer langen Tradition von Autoritätspersonen, die alles wissen und alles im Griff haben müssen, und die Vorbild für die ganze Gemeinde sein mussten. Viele haben diese Erwartungen verinnerlicht, und so ist es heute manchmal schwierig, mit Bahá’í über Dinge zu reden, die sie nicht so gut können, über Schwächen und Misserfolge in der Beratung. Sie sind oft Einzelkämpfer geblieben, die sich nicht gerne in Frage stellen lassen.
Gemeinsames Lernen
Lernende Teams lernen, gemeinsam zu erkunden, gemeinsam zu erforschen, gemeinsam zu denken. Sie lernen, gemeinsam zu lernen. Und der Lern-Ort ist die Beratung, sie lernen an den realen Situationen und Problemen, die sie antreffen.
Kennen sie diese Erfahrung: eine Beratung vergeht wie im Flug, die Beteiligten erinnern sich nicht mehr genau, wer was gesagt hat, aber irgendwann sind sie zu einer gemein-samen Erkenntnis gelangt, alle wussten, was zu tun war, ohne dass sie abgestimmt hätten.
Und alle fühlten sich nach der Besprechung angeregt und erfrischt?
Es hat etwas Magisches, wenn sich dieser Raum öffnet, es zieht die Menschen in Bann, es begeistert sie, und sie lieben es. Es hat eine ganz andere Qualität, mit den Bahá’í-Freunden gemeinsam nach Lösungen zu suchen, statt gegeneinander zu diskutieren und immer schon zu wissen, was Sache ist.
Eigentlich ist es ja klar, dass viele Köpfe mehr wissen als einer. Und dass die Intelligenz eines Teams viel größer ist als die Summe der Einzelteile, wenn die Beteiligten Zugang zu dieser größeren Intelligenz herstellen können.
Im Dialog lernen wir, frei und kreativ komplexe Fragen zu erforschen, einander intensiv zuzuhören und nicht schon von vornherein die eigenen Ideen und Ansichten durchzusetzen.
Dann wird das Denken zu einem kollektiven Phänomen. Und wir machen die Erfahrung, dass wir miteinander besser denken können als alleine.
Der Dialog nach David Bohm steht im Zentrum all dieser Elemente. Er ist die Methode, die es den Bahá’í-Freunden ermöglicht, die Voraussetzungen und persönlichen Bedingungen zu erwerben, um ihren Geistigen Rat zu einer Lernenden Organisation zu entwickeln.
Kann der Geistige Rat als Ort der Beratung selber zu einer Lernenden Organisationen werden?
Ich habe eine Vision: in einem Geistigen Rat üben die Bahá’í-Freunde miteinander den Dialog nach David Bohm. Dabei lernen sie die spezifischen Fähigkeiten des Zuhörens, Erkundens, Artikulierens, Partizipierens, Suspendierens.
Wenn sie Erfahrungen haben mit dem Dialog, werden die Mitglieder des Geistigen Rates den Dialog in die Gemeinde tragen und z.B. pro Monat eine Dialog-Runde à 1,5 Stunden machen. In diesen Dialog-Runden werden die Bahá’í-Freunde ihre Probleme erkunden, die sie als Gemeinde haben und gemeinsam nach Lösungen für ihre Probleme suchen.
Möchten sie in dieser Gemeinde leben? Dann setzen sie sich dafür ein!
Jürgen Knier: Übertragung aus einer Abhandlung aus dem Bereich Schule
in www.lernende-organisationen.ch/schule.html
2014-02-14
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