200. Geburtstag
„Gefühl von weltweiter Solidarität“ – Wittener Bahá’í feiern 200. Geburtstag ihres Religionsstifters
Witten, September 2017 - Vor 200 Jahren wurde der Stifter der jüngsten Weltreligion geboren. In diesem Herbst begehen mehr als sieben Millionen Bahá‘í weltweit sein Jubiläum.
Mehr als sieben Millionen Bahá‘í weltweit begehen im Herbst ein besonderes Ereignis vor. Am Wochenende des 21./22. Oktober 2017 feiern sie in rund 100.000 Orten in allen Ländern der Welt den 200. Geburtstag ihres Religionsstifters, Bahá’u’lláh (dt. „Herrlichkeit Gottes“, 1817-1992).
Die über 6000 Bahá’í in Deutschland begehen in allen Teilen des Landes dieses Jubiläum. Gemeinsam mit ihren Familien, Freunden, Nachbarn und Kollegen erinnern die Bahá’í anlässlich dieses Feiertages daran, welche Rolle das Leben und die Lehren Bahá’u’lláhs im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft spielen.
Auch die Bahá’í-Gemeinde Witten lädt alle Bürger herzlich ein, mit ihr dieses besondere Ereignis zu feiern und seine Lehren und die Bahá’í-Gemeinde näher kennenzulernen.
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Bahá’u’lláh wurde 1817 in Teheran als Sohn eines Ministers geboren. Die ihm offenstehenden Ämter lehnte er ab und entschied sich stattdessen, sich den Belangen der weniger Privilegierten zu widmen, weshalb er bereits in jungen Jahren als „Vater der Armen“ bekannt wurde. Die von Bahá’u’lláh gestiftete Bahá’í-Religion stellt das jüngste Glied in der Reihe der Weltreligionen dar. Ihre Lehren gehen davon aus, dass die ganze Menschheit eine Einheit in der Vielfalt bildet. Nur durch eine an dieser Einheit orientierte geistig-spirituelle Ausrichtung des Einzelnen lässt sich verhindern, dass sich die Menschheit auseinanderentwickelt und den Weltfrieden weiter gefährdet.
Mit den bevorstehenden Feierlichkeiten würdigt die Bahá’í-Gemeinde nicht nur den 200. Geburtstag Bahá’u’lláhs am 22. Oktober, sondern auch seinen Vorläufer, den Báb (dt. „das Tor“, 1819-1850), dessen Geburtstag auf den 21. Oktober fällt.
Tausende von Zusammenkünften, Feiern, soziale Projekte und künstlerische Aktionen, die das Leben Bahá’u’lláhs und seine einzigartige Mission in vielfältiger und kreativer Weise würdigen, zeugen von der weltweiten Dimension des Jubiläums. Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur, religiösen Hintergrunds und Nationalität kommen zusammen, um zu erkunden, wie sie gemeinsam Bahá’u’lláhs Prinzipien der Einheit der Menschheit, des Friedens und der Gerechtigkeit fördern und in die Gesellschaft hineintragen können.
Stimmen aus der Wittener Gemeinede: „Das Gefühl gemeinsamen Erlebens und weltweiter Solidarität wird ein außergewöhnliches Merkmal der Feiern sein. In einer Zeit, in der Religion kritisch und teilweise abwertend betrachtet wird, soll das Jubiläum auch eine Gelegenheit bieten, über die positiven Auswirkungen zu sprechen, die Religion auf die Gesellschaft hat und wie sie Impulse geben kann, die Zukunft mitzugestalten. Dazu gehört auch, dass die Menschen verschiedener Glaubensrichtungen nicht aufgeben, im offenen und ehrlichen Dialog und in Interaktion miteinander zu stehen“, sagt Jochen.
„Heute benötigen wir mehr denn je positive Modelle des gesellschaftlichen Wandels, die die Menschen zusammenführen anstatt sie einander zu entfremden“, sagt Jochen Kowalski, ein Mitglied der Wittener Gemeinde.
Der Báb – das Tor
Im Jahr 1844 erhob der Báb (dt.: „Das Tor“, 1819-1850) den Anspruch, Stifter einer neuen Religion zu sein. Er brach mit alten islamischen Traditionen. Er forderte u.a. mehr Frauenrechte, Schulbildung für alle und stellte die Rolle des Klerus in Frage. Zudem betonte er die Einheit der Religionen sowie ihre aufeinander bauende Natur. Der Báb erklärte, Vorbote eines neuen Zeitalters der Gerechtigkeit zu sein. Durch seinen Bruch mit alten Traditionen bahnte der Báb den Weg für eine neue göttliche Botschaft. Bahá’u’lláh beanspruchte im Jahr 1963, dieser Bote Gottes zu sein.
Bahá’u’lláh – Stifter der Bahá’i-Religion
Bahá’u’lláh bedeutet „Herr der Herrlichkeit“. In ihm sehen die Bahá’í jene Person auf die der Báb in seiner Sendung hinwies. Bahá’u’lláh brachte den Menschen eine neue Botschaft von Gott, die der ganzen Menschheit den Weg zeigt, global in Frieden zusammen zu leben. – eine Botschaft, die der Menschheit verhilft in einer global in Frieden lebenden Welt zusammen zu leben.
In tausenden Versen, Büchern und Schriftbänden offenbarte Bahá’u’lláh einen Wegweiser, der die Menschheit dabei unterstützt, den heutigen gesellschaftlichen großen Herausforderungen auf dem Weg zu einer Einheit der Menschheit zu begegnen und eine geistig-spirituell ausgerichtete Zivilisation und materiell blühende Gesellschaft aufzubauen.
Bahá’u’lláh zählte zunächst zu den Anhängern des Báb, bis er 1853 - bereits in Kerkerhaft in Teheran - durch eine Vision Seine Berufung als der vom Báb angekündigte göttliche Verheißene und Erneuerer der Religion erfuhr. Kurz danach begannen vierzig Jahre des Exil, der Gefangenschaft und Verfolgung. Von Persien aus führte sein Verbannungsweg über Bagdad, Konstantinopel, über den Bosporus nach Adrianopel auf den europäischen Kontinent und schließlich nach ´Akká an der Bucht von Haifa im Heiligen Land, der letzten Station Seines Wirkens.
Bahá’u’lláh richtete Sendschreiben an die Herrscher der damaligen Zeit, darunter der deutsche Kaiser Wilhelm I., und rief sie auf, für die Vereinigung des Menschengeschlechts zu wirken. Sein Ruf stieß bei den Monarchen des 19. Jahrhunderts auf taube Ohren. Seine Botschaft verbreitete sich jedoch in allen Ländern und prägt heute das Bewusstsein von Millionen Menschen aus mehr als 2100 Ethnien, aus allen Kulturen und Nationen der Erde.
Was hat Bahá’u’lláh gelehrt?
• Gottesbild
Nach den Bahá’í-Lehren gibt es nur einen Gott. In den jeweiligen Kulturen und Religionen werden ihm lediglich verschiedene Namen und Eigenschaften zugeschrieben. Bahá’u’lláh erklärt, dass das Wesen Gottes nicht beschreibbar oder fassbar ist. Der Mensch ist Geschöpf, und das Geschöpf vermag seinen Schöpfer nicht zu erkennen. Obwohl das Wesen Gottes dem Menschen verborgen bleibt, kann er durch seine Sinne und geistig-spirituellen Kräfte Einblick in göttliche Eigenschaften erlangen. Diese zeigen sich als Zeichen Gottes überall in der Schöpfung, so auch in der Natur oder in den Eigenschaften von Menschen, wenngleich in unvollkommener Weise.
• Die Rolle der Gottesoffenbarer
Durch die Gottesoffenbarer findet der Mensch Zugang zu Gott. Moses, Buddha, Christus, Muhammad oder Bahá’u’lláh gehören zu diesen Boten. Sie können mit reinen Spiegeln verglichen werden, die das Licht der Sonne Gottes widerspiegeln und seine Botschaft verkünden. Die Lehren, die den Gottesboten vermitteln, helfen dem Menschen, Gottes Willen und seine Eigenschaften wie Liebe, Barmherzigkeit, Macht oder Gerechtigkeit, zu erkennen.
• Einheit der Menschheit
Das Thema „Einheit“ bildet den Kern aller Bahá’í-Lehren; ihr Ziel ist, die Einheit der Menschheit zu verwirklichen. Die lange Entwicklungsgeschichte brachte eine überwältigende menschliche Vielfalt hervor. Doch trotz dieser Unterschiede gehören alle zur menschlichen Familie. Die Bahá’í-Schriften betonen, dass Vielfalt einen großen Schatz darstellt. Verschiedenheit rechtfertigt weder Überheblichkeit, noch Streit oder gar Krieg – im Gegenteil: Vielfalt ist eine Quelle der Freude.
• Einheit der Religionen
Bahá’u’lláh betont die Einheit der Religionen. Demnach stammen alle Religionen vom selben Gott. Bahá’u’lláh erklärt, dass alle Religionsstifter die gleichen, ewigen Grundwahrheiten verkünden, doch verkündet auch jeder Gottesoffenbarer neue Lehren, die den Umständen, Bedürfnissen und Nöten der jeweiligen Zeit entsprechen. Jede Religion bringt der Menschheit neue Impulse und fördert ihre weitere Entwicklung. Dementsprechend bauen die Lehren der Gottesoffenbarer aufeinander auf. Das Ziel aller Religionen ist, „eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen“. Die Bahá’í glauben, dass nach Bahá’u’lláh nach Ablauf einer großen Zeitspanne auch weitere Gottesoffenbarer erscheinen werden.
• Frei sein von Vorurteilen
Die Bahá’i-Schriften fordern den Abbau von Vorurteilen und betonen, dass alle Menschen „aus dem gleichen Staub“ erschaffen wurden, „damit sich keiner über den anderen erhebe“.
Zitate aus den Heiligen Schriften der Bahá’í:
„Eine andere Lehre Bahá’u’lláhs ist, dass religiöse, rassische, politische, wirtschaftliche und vaterländische Vorurteile den Bau der Menschheit zerstören. Solange diese Vorurteile herrschen, wird die Menschenwelt keine Ruhe finden.“
„Das politische Vorurteil es ebenso verderblich. Es ist eine der größten Ursachen bitteren Streites unter den Menschenkindern. Es gibt Menschen, die sich freuen, wie sie Zwietracht stiften, die sich dauern bemühen, ihr Land in den Krieg mit anderen Nationen zu hetzen. Und warum? Sie vermeinen, ihrem eigenen Land zum Nachteil aller übrigen einen Vorteil zu verschaffen.“
„Vorurteil jeglicher Art zerstören des Menschen Glück und Wohl. Solange sie nicht ausgeräumt sind, ist der Fortschritt der Menschheit nicht möglich.“
• Die Natur des Menschen
Nach den Bahá’í-Lehren ist der Sinn unseres Lebens, Gott zu erkennen und Ihm nahe zu kommen. Wir erkennen Gott durch Seine Offenbarer und finden die Nähe zu Ihm, indem wir unser Leben nach ihren Lehren ausrichten.
Unsere wahre Identität verbirgt sich in der vernunftbegabten Seele. Sie entsteht im Moment der Zeugung und bildet für die Dauer des diesseitigen Lebens eine Einheit mit unserem Körper. Freier Wille und Verstandeskraft befähigen uns dazu, uns selbst und unseren eigenen und den Fortschritt der Gesellschaft voranzutragen. Dafür ist eine Haltung des Dienstes gegenüber Gott und unseren Mitmenschen notwendig. Wir entwickeln uns in dieser Welt weiter bis zum Moment des Todes, in dem sich die Seele vom Körper löst und die ewige Reise zu ihrer weiteren Vervollkommnung fortsetzt.
Ursprung der Bahá’í-Religion
Die Bahá’í-Religion ist eine sich schnell ausbreitende Weltreligion, entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts im heutigen Iran. Hinter dem Christentum liegt sie an zweiter Stelle in der globalen geographischen Ausbreitung. Die Bahá’í-Gemeinschaft stellt ein Abbild menschlicher Vielfalt dar. Sie setzt sich aus ca. 7,5 Millionen Gläubigen weltweit zusammen, die in mehr als 100.000 Orten leben und über 2100 verschiedene ethnische Gruppen repräsentieren.
Die Bahá’í-Gemeinde in Deutschland
Die Geschichte der deutschen Bahá’í-Gemeinde nahm vor über 100 Jahren ihren Anfang, als 1905 der erste Bahá’í nach Deutschland kam. Für die frühen deutschen Gläubigen war die Begegnung mit `Abdu’l-Bahá, dem Sohn Bahá’u’lláhs, der 1913 Stuttgart besuchte, ein großer Impuls. So entfaltete sich eine lebendige Gemeinde und seither engagieren sich Bahá’í hierzulande für Verständigung und Zusammenhalt in der Gesellschaft. Ihr Glaube motiviert sie, sich für Projekte einzusetzen, deren Ziel es ist, Vorurteile zu überwinden und geistige, kulturelle wie soziale Entwicklung zu fördern. Ihre Inspiration beziehen sie dabei aus den Schriften und Lehren Bahá’u’lláhs.
Heilige Schriften
Bahá’u’lláh verfasste über 15.000 Schriftstücke, Sendbriefe und Bücher in arabischer und persischer Sprache, die weitgehend im Originaltext erhalten sind. Dieses umfangreiche Schrifttum enthält unter anderem Gebete, mystische Werke, Auslegungen anderer heiliger Bücher, Gesetze und Verordnungen, Schriften mit Bezug auf weltpolitische Fragen und verschiedene Wissenschaften sowie ethische Grundsätze, als Grundlage für persönlichen und gesellschaftlichen Wandel.
Andacht
Das Gebet und das Lesen von Heiligen Schriften gehören zum Alltag vieler religiöser Menschen. Im persönlichen Gespräch mit Gott wird Dank ausgedrückt oder um Beistand und Führung gebeten. Bahá’í beten gemeinsam mit ihren Freunden, Bekannten und Nachbarn – unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund – in Gemeindezentren oder privaten Wohnstätten. Bei diesen Andachtsversammlungen werden Texte aus den Heiligen Schriften der Bahá’í-Religion und anderer Religionen gelesen und rezitiert, oft gehört auch Musik zur Andacht. Das gemeinsame Beten und Zusammensein bei einer Andacht verbindet Menschen auf eine geistige Art und Weise. Die aus den heiligen Texten gewonnene Inspiration kann im Handeln ihren Ausdruck finden – sei es als Dienst am Nächsten, oder als gemeinschaftliches Handeln für das Wohl der Gesellschaft.
An der Besserung der Welt mitwirken
Bahá’u’lláh sieht die ganze Menschheit als eine Einheit und einen einzigen, unteilbaren Organismus. Mit dieser Vision engagieren sich Bahá’í gemeinsam mit ihren Freunden und zahlreichen Menschen aus ihrem Umfeld dafür, die Einheit der Menschheit in ihrer Vielfalt in kleinen Schritten sichtbar werden zu lassen. Bahá’u’lláh erläutert in Seinen Schriften dazu wesentliche Aspekte, wie die eigenständige Suche nach Wahrheit, die Gleichberechtigung von Frau und Mann, den Abbau von Vorurteilen, die Stärkung der Einheit in der Familie oder den offenen Meinungsaustausch.
Die Auswirkungen der Offenbarung von Bahá'u'lláh auf das wirtschaftliche Leben
DAS UNIVERSALE HAUS DER GERECHTIGKEIT
1. März 2017
An die Bahá’í der Welt
Innig geliebte Freunde,
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in einer zunehmend vernetzten Welt werden die gesellschaftlichen Verhältnisse aller Völker klarer erkennbar und ihre Lebensbedingungen deutlicher sichtbar. Zwar gibt es einige Entwicklungen, die hoffnungsvoll stimmen, aber vieles sollte doch schwer auf dem Gewissen der Menschheit lasten. Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Ausbeutung zerstören das Leben der Menschheit und sind dabei scheinbar immun gegen die Maßnahmen, mit denen politische Programme gleich welcher Couleur ihnen zu Leibe rücken wollen. Das andauernde Leid so vieler Menschen gehört ebenso zu den wirtschaftlichen Folgen dieses Elends wie die tiefreichenden strukturellen Defizite in der Gesellschaft. Niemand, dessen Herz von den Lehren der Gesegneten Schönheit angesprochen wurde, kann unberührt bleiben angesichts dieser Auswirkungen. „Die Welt ist in großem Aufruhr“, stellt Bahá’u’lláh im Lawḥ-i-Dunyá fest, „und der Geist ihrer Bewohner im Zustand völliger Verwirrung. Wir flehen zum Allmächtigen, dass Er sie gnädig erleuchte durch die Pracht Seiner Gerechtigkeit und sie befähige, dessen gewahr zu werden, was ihnen zu allen Zeiten und unter allen Umständen zum Vorteil gereicht.“ Während die Bahá’í-Gemeinde danach strebt, im Denken und Handeln zur Besserung der Welt beizutragen, verlangen die widrigen Bedingungen, unter denen viele Bevölkerungsgruppen leiden, zunehmend ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wohlergehen jedes einzelnen Segments der Menschheit ist mit dem Wohlergehen des Ganzen untrennbar verbunden. Die Menschheit als ganze leidet, wenn eine Gruppe nur an ihr eigenes Wohlergehen denkt, losgelöst von dem ihrer Nachbarn, oder wenn sie nach wirtschaftlichem Gewinn strebt ohne Rücksicht auf Folgen für die Natur, die Lebensgrundlage aller. Bedeutender sozialer Fortschritt wird so hartnäckig blockiert: Immer wieder setzen sich Habgier und Eigennutz auf Kosten des Allgemeinwohls durch. Hemmungslos wird exzessiver Reichtum zusammengerafft, und die so geschaffene Instabilität wird dadurch verstärkt, dass Einkommen und Chancen innerhalb wie zwischen den Nationen derart ungleich verteilt sind. Aber das muss nicht so sein. Ganz gleich wie sehr derartige Verhältnisse historisch bedingt sind – die Zukunft müssen sie nicht bestimmen; und selbst wenn die derzeit gängigen ökonomischen Vorstellungen und Methoden der Menschheit in der Zeit ihrer Adoleszenz genügten, so sind sie doch für die anbrechende Zeit ihrer Reife schlicht unzureichend. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, an Strukturen, Regeln und Systemen festzuhalten, die ganz offenkundig nicht den Interessen aller Völker dienen. Die Lehren des Glaubens lassen hier keinen Raum für Zweifel: Aufbau, Verteilung und Verwendung von Reichtum und Ressourcen haben eine inhärente moralische Dimension.
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Aus dem andauernden Prozess des Übergangs von einer geteilten zu einer geeinten Welt ergeben sich Spannungen, die in den internationalen Beziehungen ebenso zu spüren sind wie in den sich vertiefenden Rissen, die kleine wie große Gemeinschaften spalten. Da die vorherrschenden Denkweisen offensichtlich unzureichend sind, braucht die Welt dringend eine gemeinsame Ethik, ein festes Rahmenwerk, um den Krisen begegnen zu können, die sich wie Gewitterwolken auftürmen. Die Vision Bahá’u’lláhs stellt viele der Annahmen infrage, die man den derzeitigen Diskurs bestimmen lässt – beispielsweise, dass Eigennutz nicht etwa gezügelt werden sollte, sondern vielmehr den Wohlstand fördert, und dass Fortschritt davon abhängig ist, dass sich dieser Eigennutz in erbarmungsloser Konkurrenz äußert. Den Wert eines Menschen hauptsächlich danach zu bemessen, wie viel Vermögen er im Vergleich zu anderen anhäufen und wie viele Waren er konsumieren kann, ist dem Bahá’í-Denken vollkommen fremd. Aber die pauschale Ablehnung von Reichtum als in sich widerwärtig und unmoralisch findet in den Lehren ebenso keine Zustimmung, und Askese ist untersagt.
Reichtum muss der Menschheit dienen. Seine Verwendung muss geistigen Prinzipien entsprechen; es müssen Systeme geschaffen werden, die solchen Prinzipien folgen. In den erinnerungswürdigen Worten Bahá’u’lláhs: „Kein Licht gleicht dem Licht der Gerechtigkeit! Sie bewirkt Ordnung in der Welt und sichert die Ruhe der Völker.“
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Obwohl Bahá’u’lláh in Seiner Offenbarung kein detailliertes Wirtschaftssystem entworfen hat, durchzieht das Thema der Reorganisation der Gesellschaft das gesamte Korpus Seiner Lehren wie ein roter Faden. Die Betrachtung dieses Themas führt unweigerlich zu Fragen bezüglich der Wirtschaft. Selbstverständlich ist die künftige, von Bahá’u’lláh vorgesehene Ordnung weit jenseits all dessen, was sich die gegenwärtige Generation vorstellen kann.
Gleichwohl bedarf ihre letztendliche Verwirklichung der unermüdlichen Anstrengungen Seiner Anhänger, Seine Lehren schon heute in die Tat umzusetzen. In diesem Sinne hoffen wir, dass die nachfolgenden Ausführungen eine tiefschürfende, anhaltende Reflexion unter den Freunden anstoßen. Das Ziel ist zu lernen, in den materiellen Angelegenheiten der Gesellschaft in einer Weise mitzuwirken, die den göttlichen Geboten entspricht, und wie, ganz praktisch, allgemeiner Wohlstand durch Gerechtigkeit und Freigebigkeit, durch Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe gefördert werden kann.
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Unser Aufruf, die Implikationen der Offenbarung Bahá’u’lláhs für das Wirtschaftsleben zu untersuchen, richtet sich an Bahá’í-Institutionen und -Gemeinden, vor allem aber an jeden einzelnen Gläubigen. Wenn ein neues Modell des Gemeindelebens nach dem Muster der Lehren entstehen soll, muss dann nicht die Gemeinschaft der Gläubigen in ihrem eigenen Leben eben jenes rechtschaffene Verhalten aufweisen, das eines ihrer charakteristischsten Merkmale ist? Jede Entscheidung, die ein Bahá’í trifft – als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, als Produzent oder Verbraucher, Kreditnehmer oder Kreditgeber, Wohltäter oder Begünstigter – hinterlässt eine Spur, und die moralische Pflicht, ein kohärentes Leben zu führen, verlangt, dass unsere wirtschaftlichen Entscheidungen hehren Idealen entsprechen, dass die Reinheit unserer Ziele in Einklang steht mit der Reinheit unseres Handelns, um diese Ziele zu erreichen. Natürlich blicken die Freunde stets auf die Lehren als den Standard, den es anzustreben gilt. Aber das zunehmende gesellschaftliche Engagement der Gemeinde fordert, dass ihre Aufmerksamkeit sich immer stärker auch auf die wirtschaftliche Dimension des sozialen Lebens konzentrieren muss. Vor allem in Clustern, in denen der Prozess der Gemeindebildung beginnt, Menschen in großer Zahl zu erfassen, sollten die in den Bahá’í-Schriften enthaltenen Ermahnungen zunehmend auch die wirtschaftlichen Beziehungen innerhalb von Familien, Nachbarschaften und Volksgruppen prägen. Nicht zufrieden mit den jeweiligen Wertvorstellungen der sie umgebenden Ordnung, sollten die Freunde überall darüber nachdenken, wie sie die Lehren auf ihr Leben anwenden können, und, indem sie die Möglichkeiten nutzen, die ihre Lebensumstände ihnen bieten, ihren eigenen individuellen und kollektiven Beitrag zu wirtschaftlicher Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Fortschritt leisten, wo immer sie leben. Solches Bemühen wird einen wachsenden Erfahrungsschatz auf diesem Gebiet zeitigen.
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In diesem Zusammenhang ist die geistige Wirklichkeit des Menschen ein grundlegendes Konzept, das es näher zu erforschen gilt. In der Offenbarung Bahá’u’lláhs wird der Adel, der jedem Menschen innewohnt, unmissverständlich verkündet. Dies ist ein fundamentaler Grundsatz des Bahá’í-Glaubens, und auf diesen Grundsatz gründet sich die Hoffnung für die Zukunft der Menschheit. Wiederholt bestätigen die Schriften, dass die Seele die Fähigkeit hat, alle Namen und Eigenschaften Gottes – des Mitleidvollen, des Schenkenden, des Freigebigen – widerzuspiegeln. Das Wirtschaftsleben ist ein Schauplatz, wo Ehrlichkeit, Integrität, Vertrauenswürdigkeit, Großzügigkeit und andere geistige Eigenschaften zum Ausdruck kommen sollen. Das Individuum ist nicht einfach nur ein eigennütziges Wirtschaftssubjekt, darauf bedacht, einen immer größeren Anteil an den materiellen Ressourcen der Welt für sich in Anspruch zu nehmen. „Des Menschen Vorzug liegt im Dienst und in der Tugend“, betont Bahá’u’lláh, „nicht im Prunk des Wohllebens und des Reichtums.“ Und weiter:
„Vergeudet nicht den Reichtum eures kostbaren Lebens im Verfolg böser, verderbter Neigung, noch lasst eure Mühe völlig in der Förderung eurer eigenen Interessen aufgehen.“ Indem wir uns dem Dienst an anderen weihen, finden wir Sinn und Zweck im Leben und tragen zur Besserung der Gesellschaft bei. Zu Beginn Seiner berühmten Abhandlung Das Geheimnis göttlicher Kultur schreibt ‘Abdu’l-Bahá:
„Und Ehre und Würde des Einzelnen liegen darin, dass er vor all den Massen der Weltbewohner zu einer Quelle des gesellschaftlichen Wohles wird. Gibt es eine größere Gnade als die, dass ein Mensch, wenn er in sich geht, feststellen darf, dass er, durch göttliche Gunst bestätigt, Frieden und Wohlfahrt, Glück und Nutzen unter seinen Mitmenschen bewirkte? Nein, bei dem einen wahren Gott! Es gibt keine größere Freude, kein vollkommeneres Glück.“
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In diesem Licht betrachtet gewinnen viele scheinbar alltägliche wirtschaftliche Aktivitäten neue Bedeutung aufgrund ihres Potenzials, zu Wohlergehen und Wohlstand beizutragen. „Jeder braucht einen Beruf, ein Gewerbe oder ein Handwerk“, erklärt der Meister, „damit er die Lasten anderer tragen kann und nicht selbst eine Bürde für andere sei.“ Die Armen werden von Bahá’u’lláh aufgefordert, sich zu „bemühen und danach [zu] streben, sich die Mittel zum Lebensunterhalt zu verdienen“, während diejenigen, die Reichtum besitzen, „den Armen größte Beachtung schenken“ müssen. „Wohlstand“, so bestätigt ‘Abdu’l-Bahá, „ist allen Lobes wert, wenn er durch die eigenen Anstrengungen eines Menschen und durch die Gnade Gottes auf den Gebieten des Handels, der Landwirtschaft, der Kunst oder des Gewerbefleißes erworben und für menschenfreundliche Zwecke ausgegeben wird“. Gleichzeitig sind jedoch die Verborgenen Worte voll von Warnungen vor den gefährlichen Verlockungen des Reichtums, der eine „mächtige Schranke“ ist zwischen dem Gläubigen und dem wahren Ziel seiner Anbetung. Es wundert also nicht, dass Bahá’u’lláh die Stufe des Reichen preist, den sein Besitz nicht daran hindert, das ewige Reich Gottes zu erlangen; der Glanz einer solchen Seele „soll die Himmelsbewohner so erleuchten, wie die Sonne dem Erdenvolk Licht spendet“. ‘Abdu’l-Bahá stellt fest: „... wenn ein kluger, verständiger Mensch Wege fände, wie das Einkommen der Volksmassen allgemein gehoben werden kann, [gäbe es] kein wichtigeres Unternehmen als dieses, und in den Augen Gottes würde dies als die größte Errungenschaft gelten“. Denn „Wohlstand ist in höchstem Maße lobenswert, sofern die ganze Bevölkerung in Wohlstand lebt“. Jeder von uns muss seine eigene Lebensweise überprüfen, um zu entscheiden, was wirklich notwendig ist, und dann voll Freude seine Verpflichtungen nach dem Ḥuqúqu’lláh-Gesetz erfüllen. Solche Disziplin ist unerlässlich, um die eigenen Prioritäten zu ordnen, jeglichen Besitz zu reinigen und sicherzustellen, dass der Anteil, der das Recht Gottes ist, dem Wohl der Allgemeinheit zugutekommt. Zufriedenheit und rechtes Maß, Güte und Mitgefühl, Opferbereitschaft und das Vertrauen auf den Allmächtigen sind zu allen Zeiten Eigenschaften, die der gottesfürchtigen Seele wohl anstehen.
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Die Kräfte des Materialismus fördern ein diametral entgegengesetztes Denken: Glück erlangt man als Folge ständigen Konsums; je mehr man hat, desto besser; und morgen ist auch noch ein Tag, um sich um die Umwelt zu sorgen. Solche verführerischen Botschaften schüren ein sich immer mehr verfestigendes Anspruchsdenken, das die Rhetorik von Recht und Gerechtigkeit benutzt, um doch nur Eigennutz zu verschleiern. Gleichgültigkeit gegenüber der Not anderer wird alltäglich, während Ablenkung, Unterhaltung und Vergnügungen aller Art unersättlich konsumiert werden. Langsam durchdringt der zermürbende Einfluss des Materialismus jede Kultur, und alle Bahá’í erkennen, dass auch sie – in unterschiedlichem Maß – seine Weltsicht unwillkürlich übernehmen, sofern sie sich nicht mit aller Kraft bemühen, sich seine Auswirkungen immer wieder bewusst zu machen. Eltern müssen sich klar darüber sein, dass Kinder die Normen ihrer Umgebung in sich aufnehmen, selbst wenn sie noch sehr jung sind. Das Programm zur Freisetzung geistiger Kräfte Juniorjugendlicher fördert das Nachdenken und schärft das Urteilsvermögen in einem Alter, in dem die Verlockung des Materialismus immer stärker wird. Mit dem Erwachsenwerden kommt eine Verantwortung, die man mit seiner gesamten Generation teilt: Weltliches Streben darf uns nicht dazu verleiten, blind für Not und Unrecht zu werden. Die Kurse des Trainingsinstituts bringen uns in Kontakt mit dem Wort Gottes, und die dabei vermittelten Eigenschaften und Einstellungen helfen uns mit der Zeit, die Illusionen zu durchschauen, derer sich die Welt in jeder Phase unseres Lebens bedient, um unsere Aufmerksamkeit vom Dienen weg auf das Ich zu lenken. Und schließlich lässt das systematische Studium des Wortes Gottes und die Erforschung seiner Implikationen das Bewusstsein dafür reifen, dass es notwendig ist, unsere materiellen Angelegenheiten im Einklang mit den göttlichen Lehren zu regeln.
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Geliebte Freunde, die Extreme von Reichtum und Armut in der Welt werden immer untragbarer. Je länger die Ungleichheit fortdauert, desto mehr erkennt man, dass die etablierte Ordnung sich ihrer selbst nicht mehr sicher ist, und stellt ihre Werte in Frage. Ganz gleich, welche Leiden eine zerstrittene Welt noch erfahren wird, wir beten darum, dass der Allmächtige Seinen Geliebten helfen wird, alle Hindernisse auf ihrem Weg zu überwinden, und ihnen beistehen wird, der Menschheit zu dienen. Je stärker die Präsenz einer Bahá’í-Gemeinde innerhalb einer Bevölkerung zunimmt, desto größer ist auch ihre Verantwortung, Wege zu finden, um dort die tieferen Ursachen der Armut anzugehen. Auch wenn die Freunde noch am Anfang dieses Lernprozesses stehen und erst beginnen, sich an den damit verbundenen Diskursen zu beteiligen, schafft doch der Prozess der Gemeindeentwicklung im Fünfjahresplan überall das ideale Umfeld, um – langsam, aber kontinuierlich – Wissen und Erfahrung über das höhere Ziel wirtschaftlichen Handelns wachsen zu lassen. Möge – vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Arbeit an der Errichtung einer göttlichen Zivilisation – solches Forschen und Lernen in den kommenden Jahren ein noch klarer hervortretendes Merkmal von Gemeindeleben, institutionellem Denken und individuellem Handeln werden.
[gezeichnet: Das Universale Haus der Gerechtigkeit]
Wittener Bahá’í erhalten neues Zentrum
Witten. Zum 1. November eröffnet das erste religiöse Zentrum der Bahá’í in Witten. Das Ehepaar Böller-Hesse erklärt, was der Glaube für sie bedeutet.
Lesen Sie den vollständigen Presse-Artikel in der WAZ-Online vom 24.10.2017:
Mullá Ḥusayn, der erste Buchstabe des Lebendigen (Jináb–i–Báb)
Loslösung – Gottvertrauen – Dienstbarkeit – unbezähmbarer Mut – unbändige Entschlossenheit
Mullá Ḥusayn, Sohn eines nicht ganz armen Färbers und einer sehr gebildeten Dichterin, wurde im Jahre 1813 in Bushrú‘í geboren. Er war ein sehr begabter junger Mann, der seine traditionelle theologische Ausbildung bereits mit 18 Jahren abgeschlossen hatte und mit Siyyid Káẓim in Kontakt stand.
Zu diesem Zeitpunkt verstarb sein Vater und er musste als Ältester von fünf Kindern für seine Familie sorgen. Die Familie folgte ihm nach Karbilá, Irak, wo damals die größten islamischen Theologen residierten und wo er die folgenden elf Jahre Schüler von Siyyid Káẓim war. Siyyid Káẓim setzte von Anfang an großes Vertrauen in Mullá Ḥusayn, den er bald bevollmächtigte, an seiner statt komplizierte Fragen von Suchenden zu beantworten.
Schließlich suchte Siyyid Káẓim einen geeigneten Gesandten, um in Iṣfáhán, wo die Shaykhí-Bewegung in großer Bedrängnis war, den führenden Theologen Siyyid Muḥammad Báqir von der Rechtmäßigkeit der Shaykhí-Bewegung zu überzeugen. Unter allen Schülern suchte er Mullá Ḥusayn aus und schickte ihn auf die lange Reise (1000 Meilen). Nach vielen Monaten der Reise betrat dieser das Anwesen des wohlhabenden Báqirs und seiner Elitestudenten und stand ihm ohne jegliche Vorbereitung noch in Reisekleidung Rede und Antwort. Im Laufe mehrerer Gespräche konnte er ihm alle seine Zweifel nehmen. Báqir bezeugte schriftlich die Größe der Shaykhí-Bewegung und blieb bis zu seinem Lebensende (vor 1844) ein treuer Anhänger der Bewegung.
Mullá Ḥusayn schickte das schriftliche Bekenntnis an den hocherfreuten Siyyid Káẓim. Insgesamt blieb Mullá Ḥusayn zwei Jahre im Auftrag von Siyyid Káẓim im Iran. Er unterrichtete ihn ständig über seine Aktivitäten und handelt nach Siyyid Káẓims Anweisungen. Obwohl sie sich nicht mehr persönlich trafen, blieb Mullá Ḥusayn, wie verschiedene Briefe von Siyyid Káẓim zeigen, sein engster Schüler.
Nachdem Mullá Ḥusayn schließlich alle Aufträge ausgeführt hatte, kehrte er zurück nach Karbilá, wo er bestürzt feststellen musste, dass Siyyid Káẓim inzwischen verstorben war. In den nächsten Tagen traf Mullá Ḥusayn mit den wichtigsten Schülern Siyyid Káẓims zusammen, um Informationen über dessen letzte Weisungen zu erhalten. Er war äußerst verwundert, als keiner der Schüler der letzten Aufforderung Siyyid Káẓims gefolgt war, nämlich die Stadt zu verlassen und nach dem Verheißenen zu suchen.
Den Rest der Geschichte kennen wir. Nach 40 Tagen des Fastens begibt sich Mullá Ḥusayn zusammen mit seinem Bruder und seinem Neffen auf die Reise. Vor den Toren der Stadt Shíráz trifft er einen jungen Mann mit grünem Turban. Warum er den Weg nach Shíráz wählte, ist nicht ganz klar. Eine Überlieferung sagt, dass am Tag seiner Abreise eine Frau Mullá Ḥusayn gebeten hat, ihr einen Traum zu deuten. Sie erzählte, dass sie im Traum einen Platz sah, wo eine Gruppe von Menschen stand, die gemeinsam äußerten, dass binnen kurzem die Sonne über Shíráz aufgehen würde.
Nach der Erklärung des Báb blieb Mullá Ḥusayn für 40 Tage der einzige Gläubige. Trotz all der Schwierigkeiten und Mühsal, die er in seinem Leben zu erdulden hatte, berichtete er selbst einem Freund: „Meine härteste Zeit waren diese 40 Tage, an denen ich der einzige Gläubige des Báb war und mir aufgetragen war, dieses Geheimnis für mich zu behalten und es mit niemandem teilen zu dürfen!“
Anders als bei Christus, der Seine Botschaft zunächst den einfachsten Leuten vermittelte (Petrus war ein Fischer, der noch nicht einmal den Kalender kannte und seine Fische in sieben Haufen teilte, um zu wissen, wann Sabbat war!), war der erste Anhänger des Báb der Gebildetste der Shaykhí-Schüler von Siyyid Káẓim. Er hatte mit seinen 31 Jahren bereits die größten Gelehrten des Iran argumentativ besiegt, um sich dann innerhalb von wenigen Minuten vollständig einem Jugendlichen zu unterwerfen, der theologisch ungebildet und sieben Jahre jünger war als er selbst!
Im Weiteren nimmt ‒ anders als von ihm erwartet ‒ der Báb nicht Mullá Ḥusayn mit auf Seine anschließende Pilgerreise, sondern Quddús. Mullá Ḥusayn schickt Er hingegen als Verkünder Seiner Sendung auf eine Lehrreise nach Iṣfáhán, Káshán, Qum, Ṭihrán und Mashhad. Der Báb hatte ihn dabei auf ein besonderes Geheimnis in Ṭihrán vorbereitet und es war dort, wo er das Vorrecht bekam, Bahá'u'lláh zu lehren! Allerdings traf er Ihn zu diesem Zeitpunkt nicht persönlich. Am Ende seiner Reise sollte er dem Báb einen Bericht schicken, was auch geschah.
Kleiner Exkurs zur Zeitberechnung: Der Weg von Shíráz über Ṭihrán nach Mashhad betrug über 1100 Meilen (1800 km); hinzu kommen weitere 1000 Meilen (1600 km): Der Transportweg des Briefes, den Mullá Ḥusayn von Mashhad aus schickte, nach dessen Erhalt der Báb Seine Pilgerfahrt antrat und sich Anfang Oktober 1844 in Búshihr auf einen Segler einschiffte. All dies ereignete sich in maximal 90 Tagen. Berechnet man die damals übliche Zeit fürs Reisen oder den Brieftransport, war dies nur möglich, wenn Mullá Ḥusayn auf seiner Reise wenig bis gar nicht bzw. auf seinem Reittier geschlafen hat!!
Mullá Ḥusayn hatte überall großen Erfolg. Als sein Bericht ankommt, ist es die Erklärung Bahá’u’lláhs, die überwältigende Freude beim Báb und bei Quddús auslöst, wie Augenzeugen später berichten. Der Báb hatte auf diese Nachricht gewartet und begab Sich erst dann auf Pilgerreise.
Auf seinen weiteren Reisen trifft Mullá Ḥusayn erstmals persönlich Bahá'u'lláh in Ṭihrán (von dieser Begegnung gibt es leider keinerlei Bericht) und dann auch Ṭáhirih in Qazvín, die sehr beeindruckt gewesen sein muss, denn sie preist anschließend in Briefen seine Größe. In Mázindarán entdeckt er, wie vom Báb vorausgesagt, einen besonderen, verborgenen Schatz: Quddús. Diesen hatte er zwar zuvor bereits getroffen, aber dessen Bedeutung wurde ihm erst dort klar. Quddús ist zehn Jahre jünger als Mullá Ḥusayn und behandelt diesen zunächst als einen großen Lehrer. Bis Mullá Ḥusayn einige Schriften von Quddús studiert und dessen wahre Größe erkennt. Seine Bewunderung und Hochachtung für Quddús ist so groß, dass er sich später ‒ tödlich verwundet ‒ auf seinem Sterbebett aufrichtet, als Quddús das Zelt betritt, und fragt, ob er zufrieden mit ihm sei.
Ergänzungen:
Mullá Ḥusayn als Krieger:
Er war Theologe, der Schilderung nach schwach und gebrechlich, hatte eine zitternde rechte Hand und litt sehr wahrscheinlich an Herzproblemen. Dennoch führte er – angetan mit dem Turban des Báb und mit gehisstem Schwarzen Banner ‒ die dann kommenden Schlachten um Shaykh Ṭabarsí an, schlug Baum und Mann mit einem Schlag seines Säbels durch und kannte auch im Kugelhagel der Feinde kein Zurück.
Mullá Ḥusayn und die Theologie:
Als Mullá Ḥusayn mit einem Freund an einer theologischen Schule vorbeigeht, sagt er:
„Never from this School has come learning - This House of ignorance is fit for burning.” *
Der Freund meint: „Aber wenn solche Schulen große Leute wie Dich hervorgebracht haben, sind sie dann nicht allen Lobes wert?“ „Nein! Diese Bildung hat mich dazu gebracht, mit meinem Herrn zu argumentieren!“
Zu seinem Namen:
Der Báb gab Mullá Ḥusayn verschiedene Namen. Der Báb nennt Sich Selbst nur im 1. Jahr Seiner Sendung „Báb“ und Mullá Ḥusayn „Bábu’l-Báb“; danach verleiht Er ihm aber den Titel „Báb“ und nennt sich „Siyyid-i-Dhikr“ (das Gedenken Gottes, remembrance of God). So kündigen in Shaykh Ṭabarsí die Bábí Mullá Ḥusayn an mit den Worten: „Jináb-i-Báb“ (das ist „Seine Ehren, der Báb“).
Stufen der Enthüllung der Rangstufe des Báb:
Laut Mehrabkhani war sie dreistufig: Zuerst nannte Er sich „Báb“, dann „das Gedenken Gottes“ und schließlich „der Verheißene Qá’im“. Letzteres bei der öffentlichen Anhörung von Theologen in Anwesenheit des Kronprinzen in Tabríz. Allerdings hat Er von Anfang an die drei Kriterien einer Manifestation erfüllt: Eigene Erklärung als Manifestation Gottes, das Offenbaren von Versen und die Verkündigung neuer Gesetze.
__________________
* “Wissen kam von dieser Schule nimmer – dieses Haus der Dummheit taugt allein für’s Feuer.“
Quelle: Mehrabkhani, Ruhuʼllah. Mullá Husayn: Disciple at Dawn. Los Angeles/USA, 1987
Wer schreibt die Zukunft? Nachdenken über das 20. Jahrhundert
Ein Statement der Bahá‘í International Community
Office for Public Information - New York 1999
Herausgeber: Der Nationale Geistige Rat der Bahá‘í in Österreich - Wien 1999
Am 28. Mai 1992 trat die brasilianische Abgeordnetenkammer zu einer Sondersitzung zusammen, um des 100. Jahrestages des Hinscheidens Bahá’u’lláhs, dessen Einfluss zunehmend die gesellschaftliche und intellektuelle Landschaft der Welt formt, zu gedenken. Seine Botschaft der Einheit hat offensichtlich die brasilianischen Gesetzgeber in ihrem Innersten tief berührt. Während jener Sondersitzung zollten Sprecher aller in der Kammer vertretenen Parteien dem Respekt, was einer der Abgeordneten als „das umfassendste religiöse Werk aus der Feder eines einzelnen Menschen“ bezeichnete. Der Respekt der Abgeordneten galt damit auch einer Zukunftsvision für unseren Planeten, die — wie ein anderer Abgeordneter es ausdrückte — „materielle Grenzen überschreitet und sich an die ganze Menschheit wendet, ohne kleingeistige Unterschiede zwischen Nationen, Rassen, anderen Abgrenzungen oder Glaubensrichtungen zu machen.“1
Dieser Tribut beeindruckt um so mehr angesichts der Tatsache, dass die muslimische Geistlichkeit, die den Iran regiert, Bahá’u’lláhs Vermächtnis in seinem Geburtsland ungebrochen und unversöhnlich ächtet. Schon ihre Vorgänger waren für seine Verbannung und Gefangenschaft Mitte des 19. Jahrhunderts verantwortlich gewesen sowie für die Massaker an Tausenden von Menschen, die Bahá’u’lláhs Ideale eines Wandels im Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft teilten. Zur gleichen Zeit, als in Brasilia die Feierlichkeiten vonstatten gingen, brachte den im Iran lebenden 300.000 Bahá’í die Weigerung, Glaubensgrundsätze zu verneinen, die im größten Teil der Welt hohe Anerkennung gefunden haben, Verfolgung, Entbehrung und in nur zu vielen Fällen auch Verhaftung und Tod. Von ähnlicher Gegnerschaft waren auch die Einstellungen verschiedener totalitärer Rgime im Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts geprägt.
Aber welches Gedankengut beinhalten diese Lehren, die solch stark auseinandergehende Reaktionen ausgelöst haben?
1. Die Hauptabsicht der Botschaft Bahá’u’lláhs ist die Erklärung der Wirklichkeit als etwas, was primär geistiger Natur ist, und die Darstellung der Gesetze, die das Funktionieren dieser Wirklichkeit beherrschen. Diese Darstellung betrachtet nicht nur den einzelnen Menschen als geistiges Wesen, als eine „mit Vernunft begabte Seele“, sondern betont nachdrücklich, dass das gesamte von uns als Zivilisation bezeichnete Unterfangen auch einen geistigen Prozess darstellt, einen Prozess, in dessen Verlauf der menschliche Verstand und die menschliche Seele zunehmend komplexere und effizientere Mittel entwickelt haben, um der ihnen innewohnenden moralischen und intellektuellen Fähigkeiten Ausdruck zu verleihen.
Bahá’u’lláh lehnt die herrschenden Dogmen des Materialismus ab und stellt diesen eine ganz entgegengesetzte Interpretation historischer Abläufe gegenüber. Die Menschheit — Pfeilspitze der Evolution des Bewusstseins — durchläuft Stadien, die mit den Entwicklungsphasen eines Säuglings, Kindes und Jugendlichen im Leben eines einzelnen Menschen vergleichbar sind. Diese Reise hat uns an die Schwelle unserer lange ersehnten Reife als geeinte Menschheit gebracht. Jene Kriege, die Ausbeutung und Vorurteile, welche für die Phasen der Unreife typisch waren, sollten uns nicht verzweifeln lassen, sondern ein Anreiz sein, die mit dem kollektiven Reifealter verbundene Verantwortung anzunehmen.
In seinen Sendschreiben an die politischen und religiösen Führer seiner Zeit schrieb Bahá’u’lláh, dass in den Völkern der Erde neue Fähigkeiten von unermesslicher Macht erwachten, die das Vorstellungsvermögen der damals lebenden Generation überstiegen und die bald danach das materielle Leben auf dem Planeten verändern würden. Er sagte, es sei unbedingt erforderlich, diese künftigen materiellen Fortschritte zur moralischen und gesellschaftlichen Entwicklung zu nutzen. Wenn nationalistische und sektiererische Konflikte dies verhindern sollten, dann werde materieller Fortschritt nicht nur Vorteile, sondern bisher nie vorgestellte negative Konsequenzen haben. Einige der von Bahá’u’lláh formulierten Warnungen erinnern uns an finstere Ereignisse in unserem eigenen Zeitalter. „Seltsame, verblüffende Dinge gibt es in der Erde“, warnte er. „Diese Dinge sind imstande, die ganze Erdatmosphäre zu verwandeln, und eine Verseuchung mit ihnen wäre tödlich.“2
2. Die zentrale Frage, mit der sich alle Völker — egal, welcher Nation, Religion oder ethnischer Herkunft — auseinandersetzen müssen, sagt Bahá’u’lláh, ist die Schaffung der Grundlagen für eine globale Gesellschaft, die die Einheit der menschlichen Natur widerzuspiegeln vermag. Die Vereinigung der Bewohner der Erde ist weder eine weit entfernte utopische Vision, noch eine Angelegenheit, bei der wir überhaupt die Wahl haben. DieseVereinigung stellt die nächste unausweichliche Phase im gesellschaftlichen Entwicklungsprozess dar, eine Phase, zu der alle Erfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart uns hindrängen. Erst wenn die Existenz dieser Tatsache erkannt und in Angriff genommen wird, können die unseren Planeten quälenden Probleme gelöst werden, denn alle wesentlichen Herausforderungen des Zeitalters, in das wir eingetreten sind, sind global und universell und nicht auf Einzelaspekte oder Regionen beschränkt.
Die vielen Textstellen in den Schriften Bahá’u’lláhs, in denen es um das Erreichen des Reifealters der Menschheit geht, sind durchdrungen von der von ihm verwandten Lichtmetaphorik, die die verwandelnde Kraft der Einheit ausdrückt: „So mächtig ist das Licht der Einheit, dass es die ganze Erde erleuchten kann.“3 Diese Aussage rückt die gegenwärtige Geschichte in eine Perspektive, die sich stark von der am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts vorherrschenden Sichtweise unterscheidet. Diese Feststellung drängt uns dazu, in all dem Leid und dem Zerfall unserer Zeit das Wirken von Kräften zu erkennen, die das menschliche Bewusstsein für eine neue Phase seiner Evolution frei machen. Sie ruft uns dazu auf, die Ereignisse der vergangenen hundert Jahre zu überdenken sowie die Wirkung, die diese Entwicklungen auf die sie erlebenden unterschiedlichen Völker, Rassen, Nationen und Gemeinschaften hatten.
Wenn, wie Bahá’u’lláh betont, „die Wohlfahrt der Menschheit, ihr Friede und ihre Sicherheit unerreichbar (sind), wenn und ehe nicht ihre Einheit fest begründet ist“4, dann ist verständlich, warum die Bahá’í das zwanzigste Jahrhundert — mit all seinen Katastrophen — als „das Jahrhundert des Lichts“5 betrachten. Denn diese hundert Jahre waren Zeuge eines Wandels sowohl der Art und Weise, wie die Erdbewohner unsere gemeinsame Zukunft zu planen begannen, als auch der Art und Weise, wie wir beginnen, uns gegenseitig zu betrachten. Das Kennzeichen beider Prozesse ist eine Entwicklung zur Vereinigung hin gewesen. Umwälzungen, die jenseits der Kontrolle existierender Institutionen lagen, haben die Führungskräfte der Welt dazu gezwungen, neue Systeme globaler Organisation zu initiieren, die zu Beginn des Jahrhunderts noch undenkbar gewesen wären. Während dies geschah, wurden Gewohnheiten und Einstellungen untergraben, die Menschen und Nationen während ungezählter konfliktbeladener Jahrhunderte getrennt hatten und deren Fortbestand man für selbstverständlich gehalten hatte.
Mitte des Jahrhunderts führten diese zwei Entwicklungen zu einem Durchbruch, dessen historische Bedeutung erst zukünftige Generationen voll und ganz verstehen und schätzen werden. Während der lähmenden Nachwehen des Zweiten Weltkrieges konnten weitschauende Persönlichkeiten endlich beginnen, durch die Organisation der Vereinten Nationen die Grundlagen einer Weltordnung zu schaffen und zu festigen. Das lange von fortschrittlichen Denkern ersehnte System internationaler Abkommen und damit verbundener Institutionen war nun mit entscheidenden Befugnissen ausgestattet, die dem gescheiterten Völkerbund tragischerweise verwehrt geblieben waren. Im Laufe des Jahrhunderts gewann das System im Bereich der Friedenssicherung immer größere Wirksamkeit auf eine Art und Weise, die überzeugend zeigte, was erreicht werden kann. Gleichzeitig entstanden in der ganzen Welt immer mehr demokratische Regierungsformen. Die praktischen Auswirkungen mögen noch enttäuschen, aber dies vermindert nicht die Tragweite des historischen und unumkehrbaren Richtungswechsels, der in der Organisation menschlicher Angelegenheiten stattgefunden hat.
Wie im Falle der Weltordnung steht es auch mit den Rechten der Völker der Welt. Die Enthüllung der schrecklichen Leiden, die die Opfer menschlicher Perversion im Laufe des Krieges heimsuchten, löste eine weltweite Schockreaktion aus — und etwas, das man nur als tiefste Schamgefühle bezeichnen kann Aus diesem Trauma heraus entstand eine neue Art des moralischen Verantwortungsbewusstseins, das offiziell in der Arbeit der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen und ihrer Unterorganisationen institutionalisiert wurde — eine Entwicklung, die den von Bahá’u’lláh im neunzehnten Jahrhundert diesbezüglich angeschriebenen Herrschern unvorstellbar erschienen wäre. So mit Macht ausgestattet, haben sich eine wachsende Anzahl nichtstaatlicher Organisationen das Ziel gesetzt, dafür Sorge zu tragen, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als die Grundlage normativer internationaler Standards gilt und dementsprechend durchgesetzt wird.
Eine parallel dazu verlaufende Entwicklung fand im Wirtschaftsleben statt. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts verabschiedeten viele Regierungen als Folge des durch die wirtschaftliche Krise verursachten Chaos Gesetze zur Schaffung von Sozialhilfeprogrammen und Systemen zur Finanzkontrolle, sowie Reservefonds und Handelsabkommen mit dem Ziel, ihre Gesellschaft vor der Wiederholung solcher Verwüstung zu bewahren. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu der Einrichtung von Institutionen, die weltweit arbeiten: des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank, des Allgemeinen Zoll– und Handelsabkommens und eines Netzwerkes von Entwicklungsorganisationen, die sich der Förderung und der Weiterentwicklung des materiellen Wohlstands auf dem Planeten widmen. Am Ende des Jahrhunderts hat die Menschheit gezeigt bekommen, dass, egal wie die Absichten und wie primitiv die Methoden sind, die Nutzung des Reichtums der Erde grundlegend umorganisiert werden kann, um einer ganz neuen Vorstellung von Bedürfnissen gerecht zu werden.
Die Auswirkungen dieser Entwicklungen wurden enorm verstärkt durch den zunehmend schnelleren Ausbau von Bildungsmöglichkeiten für die Massen. Neben der Bereitschaft nationaler Regierungen und örtlicher Gemeindeverwaltungen, diesem Bereich sehr viel mehr Mittel zuzuteilen, und der Fähigkeit der Gesellschaft, Armeen an professionellen Lehrern auszubilden, waren zwei weitere Fortschritte im 20. Jahrhundert auf der internationalen Ebene besonders einflussreich. Der erste war eine Serie von Entwicklungsplänen, die sich auf Bildungsbedürfnisse konzentrierten und massiv von Einrichtungen wie der Weltbank, von Regierungsbehörden, großen Stiftungen und verschiedenen Zweigen des UN–Systems finanziert wurden. Der zweite war die explosionsartige Entwicklung der Informationstechnologie, die aus allen Erdenbürgern potentielle Nutznießer des gesamten Wissens der Menschheit gemacht hat.
Diese strukturelle Neuorganisierung auf globaler Ebene wurde von einem tief greifenden Bewusstseinswandel belebt und verstärkt. Ganze Bevölkerungen sahen sich plötzlich mit dem Preis eingefahrener Denkgewohnheiten, die zu Konflikten führen, konfrontiert, und zwar im grellen Licht der weltweiten Verurteilung einst akzeptierter Praktiken und Einstellungen. Dies regte revolutionäre Veränderungen in der Art und Weise, wie Menschen einander sehen, an.
Zum Beispiel schien im Laufe der Menschheitsgeschichte die Erfahrung zu zeigen — und religiöse Lehren schienen dies zu bestätigen — dass Frauen vom Wesen her Männern unterlegen wären. Wenn man die gesamte Geschichte als Zeitrahmen nimmt, begann geradezu über Nacht der plötzliche und allgegenwärtige Rückzug dieser vorherrschenden Sichtweise. Wie lange und leidvoll der Prozess auch sein mag, bis Bahá’u’lláhs Erklärung, dass Frauen und Männer in jeglicher Hinsicht gleichwertig sind, voll verwirklicht wird — die intellektuelle und emotionelle Unterstützung für dieser Erklärung entgegengesetzte Auffassungen verringert sich ständig.
Ein weiterer Fixpunkt im Selbstverständnis der Menschheit während dieses Jahrtausends war die Verherrlichung ethnischer Unterschiede, die sich in den letzten Jahrhunderten zu verschiedenen Formen rassistischer Wahnvorstellungen verhärtete. Mit einer Geschwindigkeit, die im Gesamtzusammenhang der Menschheitsgeschichte verblüfft, erlebte das zwanzigste Jahrhundert, wie sich die Einheit der Menschheit zu einem führenden Prinzip in internationalen Beziehungen etablierte. Heute werden die ethnischen Streitigkeiten, die auch weiterhin in vielen Teilen der Welt verheerende Folgen haben, nicht als natürliche Erscheinungen in den Beziehungen zwischen unterschiedlichen Völkern betrachtet, sondern als willkürlich herbeigeführte Verirrungen, die unter wirkungsvolle internationale Kontrolle gebracht werden müssen.
Während der gesamten langen Kindheit der Menschheit nahm man auch an — erneut mit der vollen Unterstützung religiöser Institutionen — dass Armut ein ewig andauerndes und unausweichliches Merkmal der Gesellschaftsordnung sei. Heute wird jedoch diese Einstellung, die die Prioritäten aller in der Welt je bekannten Wirtschaftssysteme geprägt hatte, allgemein abgelehnt. Zumindest in der Theorie wird allerorts eine Regierung im Wesentlichen als ein Treuhänder verstanden, dessen Verantwortung es ist, das Wohlergehen aller Mitglieder der Gesellschaft zu sichern.
Besonders bedeutend war, aufgrund seiner engen Verbindung zu den Wurzeln menschlicher Beweggründe, die Lockerung des festen Griffs religiöser Vorurteile. Bereits Ende des neunzehnten Jahrhunderts erweckte das „Parlament der Religionen“ großes Interesse. Und diese Entwicklung des interreligiösen Dialogs und der Zusammenarbeit verstärkte die Auswirkungen des Säkularismus, indem sie die einst uneinnehmbaren Mauern der Autorität Geistlicher untergrub. In Anbetracht der Wandlung religiöser Vorstellungen während der vergangenen hundert Jahre wird man vielleicht im Nachhinein sogar die derzeitigen Ausbrüche fundamentalistischer Reaktionen als lediglich verzweifelte Aktionen einer Nachhut verstehen, die sich gegen die unvermeidliche Auflösung der durch sektiererische Gruppen ausgeübten Kontrolle aufbäumt. Wie Bahá’u’lláh schreibt: „Ohne Zweifel verdanken die Völker der Welt, welcher Rasse oder Religion sie auch angehören, ihre Erleuchtung derselben himmlischen Quelle und sind einem einzigen Gott untertan.“6
Während dieser entscheidenden Jahrzehnte erlebte der menschliche Geist auch grundlegende Veränderungen in seinem Verständnis des materiellen Universums. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts entstanden neue Theorien über Relativität und Quantenmechanik, die beide eng mit der Natur und Funktionsweise des Lichtes verbunden sind. Diese Theorien revolutionierten die Physik und veränderten die gesamte Wissenschaftsentwicklung.
Es wurde offensichtlich, dass die klassische Physik nur einen begrenzten Bereich von Naturphänomenen erklären konnte. Plötzlich hatte sich eine neue Tür in der Untersuchung sowohl der kleinsten Bestandteile des Universums als auch der großen Systeme des Kosmos geöffnet, eine Veränderung, die weit über die Physik hinaus Wirkungen zeigte und die Grundlagen eines jahrhundertelang gültigen Denkens der Wissenschaften erschütterte. Für immer verloren waren die Idee eines mechanischen Universums, das einem Uhrwerk ähnelt, sowie die damals angenommene Trennung von Beobachter und Beobachtetem, von Geist und Materie. Vor dem Hintergrund der dadurch ermöglichten weitreichenden Forschungsarbeiten beginnt die theoretische Naturwissenschaft heute damit, die Möglichkeit zu erwägen, dass tatsächlich der Natur und der Funktionsweise des Universums Zweck und Verstand innewohnen.
Im Sog dieser konzeptionellen Veränderungen trat die Menschheit dann in ein Zeitalter ein, in dem die Zusammenarbeit der Naturwissenschaften — der Physik, Chemie, Biologie sowie der noch jungen Ökologie — atemberaubende Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensbedingungen eröffnete. Die positiven Auswirkungen wurden auf dramatische Weise deutlich in so lebenswichtigen Problembereichen wie Landwirtschaft und Medizin sowie in Bereichen, die aus den Erfolgen in der Nutzung neuer Energiequellen entstanden. Gleichzeitig begann das neue Forschungsgebiet der Werkstoffkunde eine Vielzahl spezialisierter Materialien wie Kunststoffe, Glasfasern und Kohlenstofffasern zur Verfügung zu stellen, die man zu Beginn des Jahrhunderts noch nicht gekannt hatte.
Solche Fortschritte in Wissenschaft und Technologie befruchteten sich gegenseitig. Sandkörner, das niedrigste und anscheinend wertloseste aller Materialien, verwandelten sich in Silikonplättchen und optisch reines Glas und ermöglichten so die Schaffung weltweiter Kommunikationsnetze. Diese Tatsache sowie der Einsatz von immer komplizierteren Satellitensystemen beginnen für Menschen allerorts und ohne Unterschied Zugang zum gesamten Wissen der ganzen Menschheit zu eröffnen. Es ist offensichtlich, dass die vor uns liegenden Jahrzehnte die Verbindung von Telefon–, Fernseh– und Computertechnologie zu einem einzigen, vereinheitlichten System erleben werden, dessen preisgünstige Geräte in großen Mengen erhältlich sein werden. Es wäre schwierig, die psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zu übertreiben, die entstehen, wenn das Durcheinander an Währungssystemen — die für manche die letzte Bastion nationalistischen Stolzes darstellen — durch eine einzige Weltwährung, die größtenteils elektronisch funktioniert, ersetzt werden wird.
In der Tat sind die Einheit schaffenden Auswirkungen der Umwälzungen des zwanzigsten Jahrhunderts nirgends so einfach ersichtlich wie in den Folgen der Veränderungen in der Naturwissenschaft und in der Technologie. Am offensichtlichsten ist, dass die Menschheit nun mit den Mitteln ausgestattet ist, die zur Verwirklichung der visionären Ziele nötig sind, welche ein ständig reifer werdendes Bewusstsein sich gesetzt hat. Bei tieferer Betrachtung zeigt sich, dass diese vielfältigen Möglichkeiten potentiell allen Erdenbewohnern ungeachtet der Rasse, der Kultur oder der Nation zur Verfügung stehen. Bahá’u’lláh sah voraus: „Neues Leben durchpulst in dieser Zeit alle Völker der Erde, und doch hat keiner seine Ursache entdeckt und seinen Grund erkannt.“7 Heute, mehr als hundert Jahre nach der Niederschrift dieser Worte, wird nachdenkenden Gemütern die Tragweite des seitdem Geschehenen langsam deutlich.
3. Die Wandlungen, die durch die jetzt endende Zeitperiode bewirkt wurden, zu würdigen, bedeutet nicht, die sie begleitenden Schatten zu verleugnen, die den Errungenschaften scharfe Konturen verleihen: die zielgerichtete Vernichtung von Millionen hilfloser Menschen; die Erfindung und der Gebrauch neuer Zerstörungswaffen, die ganze Bevölkerungen auszulöschen vermögen; die Entstehung von Ideologien, die das geistige und intellektuelle Leben ganzer Nationen erstickten; Umweltzerstörung auf globaler Ebene in einem so großen Ausmaß, dass es Jahrhunderte dauern kann, diese rückgängig zu machen; und der unermesslich größere Schaden, der Generationen von Kindern angetan wurde, indem man sie lehrte, dass Gewalt, Unanständigkeit und Selbstsucht Triumphe persönlicher Freiheit seien. Dies sind nur die offensichtlichsten Beispiele aus einem Katalog von Übeln, die in der Geschichte ihresgleichen suchen und deren Lektionen unser Zeitalter zur Erziehung der gepeinigten zukünftigen Generationen als Erbe hinterlassen wird.
Die Dunkelheit ist jedoch kein Phänomen, dem irgendeine Form der Existenz, geschweige denn der Autonomie innewohnt. Sie löscht das Licht nicht aus, noch verringert sie das Licht, aber sie markiert diejenigen Regionen, die das Licht noch nicht erreicht oder angemessen erleuchtet hat. So werden zweifelsohne die Historiker eines reiferen und objektiveren Zeitalters die Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts beurteilen. Die Grausamkeit der tierischen Natur, die unkontrolliert in jenen kritischen Jahren wütete und manchmal das nackte Überleben der Gesellschaft zu bedrohen schien, konnte tatsächlich nicht die fortlaufende Entfaltung der schöpferischen Potentiale, mit denen das menschliche Bewusstsein ausgestattet ist, verhindern. Im Gegenteil — je mehr das Jahrhundert voranschritt, desto mehr Menschen erkannten, wie leer die Treueschwüre und wie gegenstandslos die Ängste waren, von denen sie nur wenige Jahre zuvor gefangengehalten worden waren.
„Unvergleichlich ist dieser Tag“, betont Bahá’u’lláh, „denn er ist wie das Auge für vergangene Zeitalter und Jahrhunderte und wie ein Licht in der Finsternis der Zeiten.“8 Aus dieser Perspektive ist nicht die Dunkelheit, die die Fortschritte der nun endenden außergewöhnlichen hundert Jahre verlangsamt und überschattet hat, das Problem. Die Frage ist vielmehr, wieviel Leid und Zerstörung die Menschheit noch ertragen muss, bis sie von ganzem Herzen die geistige Natur annimmt, die sie zu einem einzigen Volk macht, und bis sie genug Mut hat, ihre Zukunft im Lichte des so schmerzlich Erlernten zu planen.
4. Die in den Schriften Bahá’u’lláhs dargelegte Vorstellung von der künftigen Entwicklung der menschlichen Kultur stellt vieles, was sich in unserer heutigen Welt als normativ und unveränderlich darstellt, in Frage. Die während des Jahrhunderts des Lichts erzielten Durchbrüche haben einer neuen Art von Welt Tür und Tor geöffnet. Wenn die gesellschaftliche und intellektuelle Entwicklung tatsächlich eine Reaktion auf eine allem Existierenden innewohnende moralische Intelligenz ist, dann beinhalten viele der Theorien, die zeitgenössische Entscheidungsmethoden bestimmen, schwerwiegende Fehler. Wenn das menschliche Bewusstsein von seinem Wesen her geistig ist — eine Tatsache, der sich die große Mehrheit der Menschen intuitiv immer bewusst gewesen ist —, dann kann ein Wirklichkeitsverständnis, das dogmatisch auf dem Gegenteil beharrt, die Entwicklungsbedürfnisse dieses Bewusstseins weder begreifen noch ihnen dienlich sein.
Kein Teilbereich der heutigen Zivilisation wird von Bahá’u’lláhs Zukunftsvorstellung auf direktere Weise in Frage gestellt als der vorherrschende Kult des Individualismus, der sich in beinahe der ganzen Welt verbreitet hat. Von kulturellen Einflüssen wie politischer Ideologie, akademischem Elitedenken und einer konsumorientierten Wirtschaft genährt, hat das „Streben nach individuellem Glück“ ein aggressives und beinahe grenzenloses Bewusstsein für die Ansprüche des Einzelnen gefördert. Die moralischen Folgen sind zersetzend für das Individuum wie die Gesellschaft und verheerend, was die Verbreitung ansteckender Krankheiten, den Drogenmissbrauch und andere allzu vertraute Übel unseres ausgehenden Jahrhunderts angeht. Die Aufgabe, die Menschheit von einem so grundlegenden und alles durchdringenden Missverständnis zu befreien, wird einige der eingefahrensten Vorstellungen des zwanzigsten Jahrhunderts von Recht und Unrecht in Frage stellen.
Welche Denkweisen fallen in diese Kategorie der ungeprüften Ideen? Das offensichtlichste Beispiel ist die Überzeugung, dass Einheit ein entferntes, beinahe unerreichbares Ideal ist, das erst dann in Angriff genommen werden kann, wenn eine große Anzahl politischer Konflikte irgendwie gelöst, materielle Bedürfnisse irgendwie befriedigt und Ungerechtigkeiten irgendwie ausgemerzt worden sind. Bahá’u’lláh betont, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Hauptkrankheit, die die Gesellschaft peinigt und die Leiden hervorbringt, die die Gesellschaft lähmen, sagt er, ist die Zwietracht innerhalb der Menschheit, die sich durch ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit auszeichnet und deren Fortschritt bis heute von dem Ausmaß an gemeinsamem Handeln abhing, das zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Gesellschaften erreicht wurde. Sich an die Vorstellung zu klammern, dass Konfliktbereitschaft eine Grundeigenschaft der menschlichen Natur sei, statt eine Mischung aus erlernten Gewohnheiten und Einstellungen, bedeutet, einem neuen Jahrhundert einen Irrtum aufzuladen, der mehr als jeder andere Faktor auf tragische Weise die Vergangenheit der Menschheit beeinträchtigt hat. „Betrachtet die Welt“, riet Bahá’u’lláh gewählten Regierenden, „wie einen menschlichen Körper: Obwohl er bei seiner Erschaffung gesund und vollkommen war, ist er aus verschiedenen Ursachen von schweren Störungen und Krankheiten befallen worden.“9
Eng verknüpft mit der Problematik der Einheit ist die zweite moralische Herausforderung, die das vergangene Jahrhundert mit zunehmend größerer Dringlichkeit gestellt hat. In Gottes Augen ist, wie Bahá’u’lláh betont, die Gerechtigkeit „von allem das Meistgeliebte“.10 Sie befähigt den Einzelnen, die Realität mit seinen eigenen Augen und nicht durch die Augen anderer wahrzunehmen, und stattet kollektive Entscheidungsfindung mit einer Autorität aus, die allein die Einheit im Denken und Handeln sicherstellen kann. Egal wie zufriedenstellend das aus den schrecklichen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts entstandene System internationaler Ordnung sein mag — sein anhaltender Einfluss wird von der allgemeinen Annahme der ihm innewohnenden moralischen Prinzipien abhängen.
Wenn die gesamte Menschheit „wahrhaftig eins und unteilbar“ ist, dann entspricht die von ihren Führungseinrichtungen ausgeübte Amtsgewalt im Wesentlichen der einer Treuhänderschaft. Jede einzelne Person kommt als der Gemeinschaft anvertrautes Gut zur Welt; und dieses Merkmal menschlichen Daseins ist die wahre Grundlage gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Rechte, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen und den damit verbundenen Dokumenten Ausdruck finden. Gerechtigkeit und Einheit stehen in einer Wechselbeziehung. „Der Zweck der Gerechtigkeit“, schrieb Bahá’u’lláh, „ist das Zustandekommen von Einheit unter den Menschen. Das Meer göttlicher Weisheit wogt in diesem erhabenen Wort und alle Bücher der Welt können seine innere Bedeutung nicht fassen.“11
Während sich die Gesellschaft, egal wie zögerlich und ängstlich, diesen und ähnlichen moralischen Prinzipien verpflichtet, wird sie dem Einzelnen als bedeutungsvollste Rolle die des Dienstes bieten. Eines der Paradoxe menschlichen Lebens ist, dass sich das Selbst hauptsächlich durch die Hingabe an größere Ziele entwickelt, wobei sich das Selbst — wenn auch nur zeitweilig — vergisst. In einem Zeitalter, das den Menschen in allen Lebenslagen die Möglichkeit eröffnet, auf wirksame Art und Weise an der Gestaltung der Gesellschaftsordnung teilzuhaben, erhält das Ideal des Dienstes an anderen eine ganz neue Bedeutung. Wenn man Ziele wie persönliche Bereicherung und Selbstbestätigung zum Lebensziel erklärt, dann fördert man nur die tierische Seite der menschlichen Natur. Genauso wenig können simple Botschaften individueller Erlösung die Sehnsüchte derjenigen Generationen erfüllen, die mit tiefer Gewissheit gelernt haben, dass wahre Erfüllung eine Angelegenheit sowohl dieser als auch der nächsten Welt ist.
„Befasst euch gründlich mit den Nöten der Zeit, in der ihr lebt“, rät Bahá’u’lláh, „und legt den Schwerpunkt eurer Überlegungen auf ihre Bedürfnisse und Forderungen.“12
Solche Gesichtspunkte haben tiefgreifende Auswirkungen auf den Umgang mit den Angelegenheiten der Menschheit. Zum Beispiel ist es offensichtlich, dass, je länger der Nationalstaat die wichtigste Rolle in der Entwicklung des Schicksals der Menschheit spielt, trotz seiner in der Vergangenheit erbrachten Leistungen — die Erreichung des Weltfriedens verzögert und die Leiden der Erdbevölkerung vergrößert werden. Im Wirtschaftsleben der Menschheit ist augenscheinlich, dass die Globalisierung trotz ihrer Segnungen auch noch nie dagewesene Konzentrationen autokratischer Macht geschaffen hat, die unter internationale demokratische Kontrolle gebracht werden muss, damit sie nicht für ungezählte Millionen von Menschen Armut und Verzweiflung erzeugt. Ähnlich ist es mit dem historischen Durchbruch in der Informations– und Kommunikationstechnologie, die ein so machtvolles Mittel zur Förderung sozialer Entwicklung und zur Vertiefung des Gefühls des gemeinsamen Menschseins ist; diese Technologie ist jedoch mit derselben Stoßkraft dazu in der Lage, die dem Vereinigungsprozess förderlichen und für ihn nötigen, lebenswichtigen Impulse umzulenken und zu entstellen.
5. Bahá’u’lláh spricht von einer neuen Beziehung zwischen Gott und der Menschheit, einer Beziehung, die mit der heranbrechenden Reife der Menschheit in Einklang steht. Die höchste Wirklichkeit, die das Universum geschaffen hat und es am Leben hält, wird immer außerhalb der Reichweite des menschlichen Geistes und Verstandes bleiben. Die bewusste Beziehung, die die Menschheit mit dieser göttlichen Realität geknüpft hat, ist das Ergebnis des Einflusses der großen Religionsstifter gewesen: Moses, Zarathustra, Buddha, Jesus, Muhammad und früherer Stifter, deren Namen größtenteils der Vergessenheit anheim gefallen sind. Indem sie auf diese göttlichen Impulse reagierten, haben die Völker der Erde zunehmend die geistigen, intellektuellen und moralischen Fähigkeiten entwickelt, die gemeinsam den menschlichen Charakter zivilisiert haben. Diese aufeinander aufbauende, jahrtausendelange Entwicklung hat nun eine Phase erreicht, die typisch ist für alle entscheidenden Wendepunkte einer Evolution, eine Phase, in der vorher unerkannte Möglichkeiten sich plötzlich auftun: „Dies ist der Tag“, bekräftigt Bahá’u’lláh, „da Gottes erhabenste Segnungen den Menschen zugeströmt sind, der Tag, da alles Erschaffene mit Seiner mächtigsten Gnade erfüllt wurde.“13
Aus Bahá’u’lláhs Perspektive gesehen hat die Geschichte der Stämme, Völker und Nationen tatsächlich ihren Abschluss gefunden. Was wir heute miterleben, ist der Anfang der menschenwürdigen Geschichte der Menschheit, der Geschichte einer Menschheit, die sich ihrer eigenen Einheit bewusst ist. An diesem Wendepunkt in der Entwicklung menschlicher Kultur bieten Bahá’u’lláhs Schriften eine Neubestimmung des Wesens und der Entwicklungsprozesse der Zivilisation und eine Neuordnung ihrer Prioritäten. Ihr Ziel ist es, uns zu geistiger Bewusstheit und Verantwortung zurückzurufen.
Man wird in den Schriften Bahá’u’lláhs nichts finden, das zu der Illusion ermutigt, dass die prophezeiten Veränderungen auf einfache Art und Weise realisiert werden. Ganz im Gegenteil. Wie die Ereignisse im zwanzigsten Jahrhundert schon zeigten, werden Gewohnheits– und Einstellungsmuster, die seit Tausenden von Jahren fest verwurzelt sind, weder spontan noch als einfache Reaktion auf Bildung oder Gesetzgebungen abgelegt. Sowohl im Leben des Einzelnen als auch der Gesellschaft passieren tiefgreifende Veränderungen meistens als Antwort auf intensives Leiden und unerträgliche Schwierigkeiten, die anderweitig nicht zu überwinden wären. Genau eine solche große Prüfung, warnte Bahá’u’lláh, ist notwendig, um die verschiedenen Völker der Erde zu einem einzigen Volk zusammenzuschmieden.
Geistige und materialistische Vorstellungen vom Wesen der Realität sind miteinander unvereinbar und führen in entgegengesetzte Richtungen. Während das neue Jahrhundert seinen Anfang nimmt, hat die von der materialistischen Vorstellung gesetzte Zielrichtung eine unglückliche Menschheit bereits weit über den Punkt hinausgebracht, an dem die Illusion der Rationalität und erst recht die des menschlichen Wohlergehens aufrechterhalten werden konnte. Mit jedem Tag, der verstreicht, mehren sich die Zeichen dafür, dass sich viele Menschen allerorts dieser Erkenntnis bewusst werden.
Trotz der weithin vorherrschenden Gegenmeinung ist die Menschheit keine leere Schrifttafel, auf der privilegierte Schiedsrichter menschlicher Angelegenheiten freizügig ihre eigenen Wünsche eintragen können. Die Quellen des Geistes sprudeln wie und wo sie wollen. Sie werden nicht auf unbestimmte Zeit durch das Geröll der zeitgenössischen Gesellschaft unterdrückt werden. Es bedarf keiner prophetischen Fähigkeiten mehr um zu erkennen, dass die Anfangsjahre des neuen Jahrhunderts Zeuge eines Freiwerdens von Energien und Zielsetzungen sein werden, die unermesslich stärker sein werden als die gesammelten Gewohnheiten, trügerischen Irrtümer und Abhängigkeiten, die so lange die Umsetzung jener Energien verhinderten.
Wie groß der Aufruhr auch sein wird — die Zeitperiode, auf die sich die Menschheit derzeit zubewegt, wird jedem Individuum, jeder Institution und jeder Gemeinschaft dieser Erde bisher nicht dagewesene Möglichkeiten eröffnen, die Zukunft des Planeten mitzugestalten. „Bald“, so verspricht Bahá’u’lláh voller Zuversicht, „wird die heutige Ordnung aufgerollt und eine neue an ihrer Statt entfaltet werden.“14
Quellenangaben
1 Äußerungen der Abgeordneten Luis Gushiken und Rita Gamata, Brasilia, 28. Mai 1992
2 Bahá’u’lláh, Botschaften ans ‘Akká, Bahá’í–Verlag 1982, 6:32
3 Bahá’u’lláh, Brief an den Sohn des Wolfes, Bahá’í–Verlag 1988, S. 29
4 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 131:2
5 ‘Abdu’l–Bahá, The Promulgation of Universal Peace, 6 Wilmette: Bahá’í Publishing Trust, 1982, S. 74 und 126
6 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 111:1
7 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 96:2
8 Bahá’u’lláh, zitiert in: Shoghi Effendi, Das Kommen Göttlicher Gerechtigkeit, Bahá’í–Verlag 1969, S. 124
9 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 120:1
10 Bahá’u’lláh, Verborgene Worte, arab. 2, Bahá’í–Verlag 1997
11 Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‘Akká, Bahá’í–Verlag 1982, 6:26
12 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 106:1
13 Bahá’u’lláh. Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 4:1
14 Bahá’u’lláh, Ährenlese, Bahá’í–Verlag 1980, 4:2
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