Martin Luther und die Reformation
Fünfzehn Jahrhunderte nach Christus wandte sich Luther, ... der Begründer des protestantischen Glaubens, gegen den Papst, und zwar wegen gewisser Lehraussagen wie des Eheverbots für Mönche, des verehrungsvollen Niederbeugens vor den Bildern von Aposteln und christlichen Führern der Vergangenheit sowie wegen verschiedener anderer religiöser Praktiken und Bräuche, die den Geboten des Evangeliums hinzugefügt worden waren. Obwohl zu jener Zeit die Macht des Papstes so groß war und er mit solcher Ehrfurcht behandelt wurde, dass die Könige Europas vor ihm zitterten und bebten, obwohl der Papst alle wichtigen Belange Europas kontrollierend im Griff hielt, haben doch in den letzten 400 Jahren die Mehrheit der Bevölkerung Amerikas, vier Fünftel von Deutschland und England und ein großer Prozentsatz von Österreichern, alles in allem etwa hundertfünfundzwanzig Millionen Menschen, andere christliche Bekenntnisse verlassen und sind in die protestantische Kirche eingetreten, weil Luthers Einstellung in der Frage der Freiheit von Religionsführern zur Heirat, in seiner Abkehr von der Anbetung und vom Niederknien vor Bildern und Heiligenfiguren, die in Kirchen hingen, und in der Abschaffung von Zeremonien, die dem Evangelium beigefügt worden waren, nachweislich richtig war, ferner weil die richtigen Mittel ergriffen wurden, seine Ansichten zu verbreiten. ... Auch wenn nicht klar wurde, welche Zielvorstellung jenen Mann vorantrieb oder wozu er neigte, seht nur den Eifer und die Mühe, mit der die protestantischen Führer seine Lehren weit und breit verkündet haben!
('Abdu'l-Bahá, Das Geheimnis göttlicher Kultur, S. 45-46)
Unter späteren Geschlechtern [erhoben sich] Stimmen des Protests ... gegen eine selbsternannte Amtsgewalt, die sich Vorrechte und Vollmachten, welche nicht aus dem klaren Text des Evangeliums Jesu Christi hervorgingen, anmaßte und damit eine schwerwiegende Abweichung vom Geist dieses Evangeliums darstellte. Mit aller Macht und vollem Recht führten diese Stimmen des Protestes aus, die kanonischen Schriften, wie sie von den Kirchenkonzilien verkündet wurden, seien keine gottgegebenen Gesetze, vielmehr nur menschliche Vorkehrungen, die nicht einmal auf tatsächlichen Äußerungen Jesu beruhten. Ihre Beweisführung kreiste um die Tatsache, dass die ungenauen, kaum beweiskräftigen Worte Christi an Petrus: "Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will Ich Meine Kirche bauen", niemals die extremen Zwangsmittel, das kunstvolle Zeremoniell, die einengenden Dogmen und Glaubenssätze rechtfertigen könnten, mit denen Seine Nachfolger Schritt für Schritt Seinen Glauben überbürdet und verfinstert haben. Wäre es den Kirchenvätern, deren ungerechtfertigte Autorität so von allen Seiten heftig angegangen wurde, möglich gewesen, die auf ihr Haupt gehäuften Anklagen dadurch zu widerlegen, dass sie bestimmte Äußerungen Christi zur künftigen Verwaltung Seiner Kirche oder zum Wesen der Amtsmacht Seiner Nachfolger hätten anführen können, dann wären sie sicherlich in der Lage gewesen, die Flammen des Streites zu löschen und die Einheit der Christenheit zu erhalten. Das Evangelium aber, die einzige Schatzkammer der Äußerungen Christi, bot den gequälten Kirchenführern keinen derartigen Schutz.
(Shoghi Effendi, Die Weltordnung Bahá'u'lláhs, S. 39-40)
[Shoghi Effendi beschreibt in einer von ihm verfassten Botschaft an eine internationale Bahá'í-Konferenz in Schweden Europa u.a. als den Kontinent] in dessen Herzen das Licht der Reformation so hell leuchtete und seine Strahlen bis zu den abgelegensten Regionen des Erdballs verbreitete ...
(Shoghi Effendi, Hüterbotschaften an die Bahá'í-Welt, S. 23)
Der Beitrag, den die Reformation wirklich geleistet hat, ist, das Gebäude, das die Kirchenväter sich selbst errichtet hatten, ernsthaft herausgefordert und teilweise ins Wanken gebracht und den gänzlich menschlichen Ursprung der kunstvoll ausgearbeiteten Lehren, Zeremonien und Institutionen entlarvt zu haben, die sie ersonnen hatten. Die Reformation war eine notwendige Infragestellung der menschengemachten Struktur der Kirche – und als solche ein Fortschritt. In ihren Ursprüngen war sie eine Reflexion des neuen Geistes, den der Islam freigesetzt hatte, und eine von Gott gesandte Strafe für jene, die es versäumt hatten, seine Wahrheit anzunehmen.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen einzelnen Gläubigen, 28.12.1936 [e.Ü.])
Haltung der Bahá'í gegenüber den christlichen Konfessionen
Während die Zugehörigkeit zu kirchlichen Organisationen nicht statthaft ist, sollte die Zusammenarbeit mit ihnen nicht nur toleriert, sondern sogar gefördert werden. Auf keine bessere Art und Weise kann man die Universalität der Sache demonstrieren. Bahá'u'lláh drängt in der Tat Seine Anhänger, sich mit allen Religionen und Nationen in äußerster Freundlichkeit und Liebe zu vereinigen. Dies bildet den wirklichen Geist Seiner Botschaft an die Menschheit.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen Nationalen Rat, 11.12.1935 [e.Ü.])
Die Kirchen predigen Lehren – völlig verschiedene in den jeweiligen Konfessionen – die wir als Bahá'í nicht annehmen können; so wie die leibliche Auferstehung, die Beichte oder, in manchen Bekenntnissen, die Leugnung der Jungfrauengeburt. In anderen Worten: Es gibt heutzutage keine Christliche Kirche, von deren Dogmen wir als Bahá'í behaupten könnten, dass wir sie in ihrer Gesamtheit akzeptieren.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen Lokalen Rat, 24.06.1947 [e.Ü.])
Der Hüter stimmt mit Ihnen überein, dass die Bahá'í sehr vorsichtig sein sollten, nicht die Kirche zu kritisieren oder gar anzugreifen. Da wir glauben, dass die Römisch-Katholische Kirche, wenn Sie so wollen, die Erbin der Lehren Christi in direkter Linie ist, wenngleich sie durch menschengemachte Dogmen entstellt worden sein mag, wäre es uns gewiss kein Gewinn, ihr Feindschaft entgegenzubringen.
(Aus einem Brief im Auftrag Shoghi Effendis an einen einzelnen Gläubigen, 22.03.1950 [e.Ü.])