Prozesse führen kann jeder
Referent. Dr. Thomas Floeth
Ein Blick in die Geschichtsbücher suggeriert dem Leser: Die Geschicke der Menschheit liegen in der Hand von „Führern“, seien es Kaiser, Könige, Fürsten, Stammeshäuptlinge oder manchmal auch geniale Wissenschaftler.
Anderseits scheint in jüngster Zeit ein anderer Wind zu wehen: da ist von Teams die Rede, hinter jedem Führer tauchen eine Gruppe von Beratern auf, an der Seite dominierender Männern werden nicht unbedingt dominierende, gleichwohl aber erfolgreiche Frauen sichtbar usw..
Wohin weht dieser Wind? Und was hat er zu bedeuten?
Diesen Fragen möchte der Vortrag nachgehen. Nach einem Rückblick auf die Vergangenheit will er herausarbeiten, welcher Art Leitung und Führung unsere Zeit braucht. Er zeigt, dass die heutige Entwicklung am ehesten in einem Prozessdenken verstanden werden kann. Ein Prozess wird jedoch nicht durch einen traditionellen Führer gesteuert sondern durch alle Prozessteilnehmer und zwar jeweils durch denjenigen, der ihm zur Zeit am besten dienen kann. Die Anführer von Prozessen sind wir alle im Zweifelsfall also selbst – mit gravierenden Folgen für die Weltgeschichte, aber auch für uns ganz persönlich: für unsere Arbeitswelt, unsere Partnerschaften, unser Familienleben usw..
Über diese Ideen und die konkreten Konsequenzen für unser Leben möchte der Autor gerne mit den Besuchern ins Gespräch kommen.
Vorrede
Was soll das ganze Gerede von den Prozessen?
- Ein neues Modewort, um zu zeigen, dass alles noch komplizierter ist als erwartet?
- Oder dass niemand so recht Schuld hat an dem was gerade passiert:
Die Trennung in einer Ehe liegt nicht daran, dass ein Mann seine Frau hintergeht. Nein, es war ein Prozess, innerhalb dessen die beiden sich auseinandergelebt haben „ Wissen Sie, das Ganze ist so im Laufe eines langen Prozesses entstanden ....“ – so einfach ist das ...
Also: Das Ende aller Verantwortung dank Prozessdenken? Wer Bahá'í kennt, weiß, dass die so nicht denken. Immerhin geht es in der Bahá'í-Religion wie in jeder anderen Weltreligion darum, eine neue (oder auch sehr alte) Ethik in der Welt wirksam werden zu lassen. Und Ethik hat immer etwas mit Verantwortung zu tun.
Ich behaupte, dass auch in jedem Prozess persönliche Verantwortungen zentral ist, dass Prozesse nicht einfach ablaufen, sondern von Menschen geführt werden. Und dass es sich hierbei um eine ganz besondere Art von Führung handelt.
Ich möchte heute Abend zeigen:
- dass es gar nicht dumm ist, in Prozessen zu denken.
- welche Folgen ein solches Denken hat und besonders
- wie in einem solchen Denken Führung und Verantwortung neu verortet werden können.
- und welche Folgen das für unseren Alltag haben kann.
Die Reise, auf die ich Sie mitnehmen möchte hat 4 Stationen:
I. Prozess: Wachstum, Systemlogik und Sachzwänge
II. Führung: traditionelle Führungsstile und der demokratische Führungsstil
III. Prozess-Führung
IV. Die ethische Prozessführung
I. Das Prozessdenken
Woher kommt dieses Denken eigentlich überhaupt und was will es bedeuten?
1. Wachstumsdenken.
Eigentlich ist das Denken in Prozessen des Wachstums sehr alt.
Jeder Landwirt oder Hobbygärtner kennt sich darin aus.
Ein Gärtner, der einen Apfelbaum pflanzt, wird motiviert vom Wissen um die Früchte. Er kann jedoch an den Früchten, dem Ergebnis eines Wachstumsprozesses, nichts ändern. Nur den Prozess des Wachstums selbst kann er beeinflussen
Hinderlich sind dabei:
Ungeduld: es gibt keine Abkürzungen, Trockenheit, Schädlinge, Sturm,
Förderlich sind dagegen:
Wasser, Dünger, Sonne, Beschneiden, Veredeln, Liebe / Zuwendung, Befruchtung, Schutz, Stütze
Was schadet dem Prozess: Die Illusion der Abkürzung!!
Die Idee, sofort Früchte zu bekommen, ein Leben nur auf der sonnigen Seite des Lebens usw.; führt zur eigenen Lösungsunfähigkeit/-unwilligkeit
Gegen Ungeduld – Geduld! Aber: Geduld setzt voraus, dass man den Wachstumsprozess kennt (Gärtner) und in ihn vertraut! Sonst ist Geduld nur Tatenlosigkeit.
Wir müssen dazu Wissen über den Prozess erlangen!
Ohne klare Ziele hat man kein klares Bewusstsein von Problemen in einer Entwicklung und von der Unterstützung, die ein Prozess gerade jetzt braucht.
Folgerungen: Eigenschaften für Wachstumsdenken:
- Erfahrung, Weitblick, Geduld
- Neugier, Lernbereitschaft und Fehlerfreundlichkeit
(Eigenschaften von Jugend + Reife; die Beziehung von Jung und Alt ein Grund für die fehlenden Problemlösungen in unserer Zeit?!
2. Systemlogik.
Ein zweites Standbein hat das Prozessdenken in der Systemlogik. Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass in den letzten 20, 30 Jahren verstärkt von Systemen die Rede ist? Nicht nur von Computersystemen, sondern auch von Handlungssystemen, von Systemzwängen, Systemfehlern, Systemopfern, Systemschwächen usw..
Gemeint ist damit meist, dass Dinge und Entwicklungen in irgendwie logischen Sinnzusammenhängen stehen. Man hat erkannt, dass Ursache und Wirkung oft sehr viel komplizierter zusammenpassen, als auf den ersten Blick erkennbar, dass sich Wirkungsketten über lange Zeiträume und große Entfernungen zurückverfolgen lassen. Man spricht von komplexen Systemen.
Und im Zusammenhang mit Wirtschaftsunternehmen aber auch mit Eingriffen in die Natur wird es immer wichtiger, möglichst weitblickende Zusammenhänge noch mitdenken zu können. In Debatten um das Ozonloch z.B. rechnet man bereits mit Wirkungsketten von Jahrhundertdauer ....
Die Regeln solcher Systeme zu bestimmen, ist hierbei die Kunst. Und man schafft immer aufwändigere Methoden, um dies zu tun.
Gleichzeitig entdeckt man aber, dass z.B. viele Ureinwohner über ein solches Systemwissen hinsichtlich ihrer Umwelt immer schon verfügt haben und ihr Handeln genau den Systemnotwendigkeiten vor Ort entspricht.
System + Entwicklung:
Als Zeichen des Lebens entwickeln sich auch Systeme weiter, d.h. sie kennen Wachstum, übersetzt in Systemlogik heißt das: Systeme haben Feedback-Schleifen, d.h. sie lernen und entwickeln sich dann, wenn es ein Feedback, eine Resonanz oder Blockade gibt: Man stößt an etwas, an eine Grenze. Das sind dann Systemkrisen, die zu neuem veränderten Handeln zwingen.
Folgerungen daraus:
Um in Systemen denken zu können brauche ich die Fähigkeit, Zusammenhänge überhaupt wahrnehmen zu lernen:
Wie komme ich von einem Denken in Einzelereignissen (ich halte hier und heute einen Vortrag) zum Denken in Zusammenhängen: In welchem Zusammenhang kann man dieses Ereignis „Vortrag“ verstehen: als Schritt in meinem Entwicklungsweg, als Element der Essener Bahá'í-Gemeinde-Entwicklung als Puzzlestein im Denken eines hier Anwesenden Zuhörers usw.
Es gibt eigentlich keine Ereignisse, die plötzlich alles ändern, immer existiert ein System, ein Sinnzusammenhang, der das Ereignis einbettet. Wachstumsprozesse innerhalb eines Systems haben keine Sprünge, d.h. wir machen nicht alles neu, sondern bauen auf den Taten und Erfahrungen der Vergangenheit auf.
Prozesswissen lässt sich auch durch das Studium des Vergangenen erwerben: was ist gut, was nicht so gut gelaufen. Viele Dinge sind vielleicht auf einer Ebene verloren gegangen, weil sie als misslungene Einzelereignis, nicht aber als Baustein von Prozessen verstanden wurden. Auf einer anderen Ebene ist überhaupt nichts verlorengegangen, weil alle Bemühungen irgendeine Resonanz im Wachstumsprozess finden.
3. Sachzwänge:
Heute redet man gerne, besonders in der Politik, von Sachzwängen. Da hinter verbergen sich zwei Tendenzen:
Der Sachzwang hilft als Argument dem einzelnen, keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Wenn in Berlin der Kulturetat aus Sachzwang heraus radikal gekürzt wird, liegt dies nicht in der Verantwortung der zuständigen Politiker, sondern ist ein von außen quasi unmenschlich vorgegebener Zwang. So können auch Mitarbeiter ohne Gewissensbisse entlassen oder Erziehungslücken übergangen werden. Und wenn Erwachsene ihr Leben eingerichtet haben, so kann dies manchen Sachzwang für die Kinder bedeuten, aber an dem kann man leider nichts ändern.
Der Sachzwang wird aber auch von der Erkenntnis um Systemlogiken gespeist. Man versteht, dass hier komplexe Zusammenhänge wirken, die vieles Tun quasi zwangsläufig nach sich ziehen. Die Verantwortung, die für solche Systeme angemessen ist, ist nicht unbedingt die gleiche, die wir von früher her gewohnt sind ...
Wie trägt man Verantwortung in Systemen?
Jetzt reden wir über Prozess-Führung .....
II. Führung
Was verbinden wir eigentlich normalerweise mit Führung?
Der Begriff ist in Deutschland ziemlich negativ besetzt seit hier der Führer sein tausendjähriges Unwesen getrieben hat. Worte wie Führung oder Führerschaft, die in anderen Ländern gang und gäbe sind, kommen manchem hier nur noch schwer von den Lippen.
Dennoch brauchen wir so etwas wie Führung und Führungsqualitäten, auch jetzt in Zeiten von Systemen und Prozessen, von Sachzwängen und ...
Allerdings könnte es sich um eine andere Art von Führung handeln als wir sie gewohnt sind.
Traditionell: Was sind wir gewohnt?
Ich will hier mal 4 Typen von Führung kurz vorstellen, die wir alle kennen:
- der autoriäre Führungsstil
- der paternalistische oder maternalistische Führungsstil
- der allwissende Führungsstil und
- der manipulative Stil
Sie kommen so nicht in Reinform vor, aber ihre Tendenzen sind unverkennbar. Dem einen oder anderen sind wir bestimmt schon häufiger begegnet. Ja, wir werden feststellen, dass wir in unserem eigenen Tun oft genug Aspekte des einen oder anderen selbst an den Tag legen.
a.) Der autoritäre Führer
- gibt Befehle
- hört nicht zu
- droht
- erwartet sofortigen, exakten Gehorsam
Von einer Gruppe kann ein solcher Führer erwarten:
- Widerstand
- Anpassung und Unterwerfung
- Zorn, Gewalt, offene Opposition
- Die eigene Initiative ist unterdrückt
b.) Der pater- bzw. maternalistische Führer
Ein solche Führungsperson
- wünscht das Wohlergehen der Gruppe
- ist Überprotektiv
- wirkt kontrollierend
- erfreut sich u.U. daran, die Abhängigkeit der anderen zu sehen
Die Gruppe reagiert mit:
- Abhängigkeit und Unbeholfenheit
- Passivität und vermindertem Selbstbewusstsein
- entwickelt ihre Fähigkeiten nicht
- bequem! (falls der Führer wechselt, wollen sie einen ähnlichen Führer)
c.) Der allwissende Führer:
Eine solche Führungsperson
- ist arrogant
- gibt mit seinem Wissen an
- ist ungeduldig
- hat ein Erhabenheitsgefühl
- vermindert Glaubwürdigkeit von anderen (indem er sie ins Lächerliche zieht)
Die Gruppe reagiert mit
- geringem Selbstbewusstsein
- Minderwertigkeitsgefühlen
- Angst und Frustration
- geringer Anteilnahme der Mitglieder
- Respekt für den Führer
- Abwesenheit von Initiativen
- manchmal auch offen mit Ärger
d.) Der manipulative Führungsstil
Eine solche Führungsperson:
- ist oft unehrlich
- täuscht nur vor, sich um das Wohlergehen der anderen zu sorgen
- glaubt, dass er über Gesetze hinweg gehen kann
- fördert seine eigenen Interessen
- benutzt eine versteckte Agenda
- nutzt die Schwächen der anderen aus
Die Gruppe reagiert mit
- Desillusion
- Misstrauen (danach ist es schwer, wieder Vertrauen zu bekommen)
- Zynismus
- Mangel an Initiativen
- Gesetze verlieren ihre Wirkung
- Der Einzelne wendet sich von der Gruppe ab, fühlt sich hintergangen.
e.) Führung in einer Demokratie
Uns ist natürlich irgendwie klar, dass in einer Demokratie Führung anders ablaufen sollte als nach den vier o.g. Modellen. Gucken wir uns mal den demokratischen Führungsstil an.
Eine solche Führungsperson
- ist allen Ideen gegenüber aufgeschlossen
- fördert Beteiligung
- hilft, Alternativen zu bedenken und Entschlüsse zu fassen
- nimmt sich der Probleme einer Gruppe an
- versucht Konsens zu erzeugen
- sorgt dafür, dass die Interessen aller sind per Wahl repräsentiert sind
Die Gruppe:
- fühlt sich einbezogen
- Initiativen entstehen
- Selbstbewusstsein der Beteiligten wächst
- Persönliche Weiterentwicklung ist erwünscht
- allgemeine Beteiligung erscheint möglich
Einschätzung zum demokratischen Führungsstil:
Allerdings ist auch dieser Führungsstil nicht ganz unproblematisch, besonders in der momentan vorherrschenden parteienzentrierten Demokratie.
Die Basis der Führung geschieht durch Wahl.
Hier wird aus einer begrenzten Anzahl von Kandidaten und nach oft aufwändiger Wahl-Propaganda (Geld!) eine Person gewählt. Um in einer Demokratie gewählt zu werden, muss ein Kandidat aber gerade nicht demokratische Führungseigenschaften aufweisen: er muss an sich selbst denken, sich durchsetzen, andere in die Ecke drängen, sich in den Mittelpunkt stellen usw.. Und nach der Wahl sind es oft jene traditionellen Führungsstile, die einen Führer erfolgreich werden lassen: der gute Führer setzt sich durch, er weiß alles, sagt wo es langgeht, kontrolliert und manipuliert erfolgreich unterschiedliche Gruppen usw.
Der demokratische Führungsstil, wie wir ihn häufig erleben,
- belohnt die Rücksichtslosen
- fördert Intrigen und verdeckte Koalitionen, faule Kompromisse
- basiert auf und verstärkt Parteienbildung und (künstliche) Unterschiede
- Minderheiten haben Schwierigkeiten, gehört zu werden
- ist anfällig für Lobbying
- konzentriert sich auf die kurzfristige Wählergunst statt der langfristigen Entwicklungsperspektiven
- Das Ideal ist nicht das Beste, sondern der Kompromiss; denn man braucht Mehrheiten
- fördert den Gruppenvorteil und nicht die Idee des Gemeinwohls
Zusammenfassung: Die uns vertrauten Führungsstile wirken bei Licht betrachtet alle nicht so ganz überzeugend. Neben einigen Vorteilen überwiegen bei allen doch die Nachteile.
III. Prozess-Führung
Meine Idee hier ist nun, dass das Führungsmodell für die heutige Zeit sich an ganz anderen Kriterien messen lassen muss. Ich nenne dieses Modell mit dem fürchterlichen Namen „Ethische Prozess-Führerschaft“ und werde es im Folgenden in zwei Stufen erläutern
Zunächst die Prozess-Führerschaft und dann die ethische Version dieser Prozess-Führerschaft.
Prozess-Führerschaft
Was bedeutet Führung im Prozess?
Werden wir jetzt mal konkret
Sehen wir uns z.B. mal die langfristige Beziehung von Menschen in einer Familie an. Wie sieht so etwas als Entwicklungsprozess aus?
Wenn Sie zurücktreten, sehen Sie einen gesamten Entwicklungsverlauf, einzelne Episoden daraus werden gerne erzählt (Wie sich die Eltern kennen gelernt haben, ein ganz besonderer Urlaub ...) andere lieber verschwiegen (ernsthafte Auseinandersetzung, Arbeitsplatzverlust usw.)
- Kennen lernen
- Verliebtheit
- Vertrautheit
- Heirat
- Wohnungswechsel
- Arbeitsentwicklung
- Kindergeburten
- Hauskauf
- Kinderwachstum
- Die Oma zieht ins Haus
- Die Kinder wechseln die Schule
- Die Frau wechselt die Arbeit
- Die Kinder verlassen das Haus
- Kinder heiraten
- Oma stirbt
- Enkelkinder werden geboren
Im Rückblick sieht man Zusammenhänge, erkennt das schleichende Schulversagen des Sohnes und seine sich entfaltenden künstlerischen Neigungen. Man bemerkt die wachsende Vertrautheit zwischen den Eltern, die eine Krise (auch deren langsames Entstehen kann man sehen) bewältigen usw..
Was man vermutlich nicht findet ist einen Prozessführer, einen der das alles steuert und an den entscheidenden Stellen beeinflusst.
Wenn man sich nun einen kleineren Teil dieses Familienprozesses wie durch eine Lupe ansieht, zeigt sich ein anderes Bild: Die Entwicklung des Sohnes hin zu einem begnadeten Restaurator führt uns z.B. zu vielen kleinen Förderschritten, die schon in frühester Kindheit beginnen. Als die Kindergärtnerin seine Freude am Malen und Gestalten zunächst unterstützt, später systematisch fördert. Als die Mutter den Jungen zu einem Urlaub zur malenden Tante schickt, als der Vater sein Bildungsideal vom Sohn als Arzt aufgeben konnte und sich mit ihm gemeinsam auf Ausbildungssuche begibt, und als der Malermeister seinen Malergesellen auf eine Weiterbildung zum Restaurator aufmerksam macht. Außerdem finden wir natürlich viele Momente, wo der Sohn selbst Entscheidungen fällt: lieber das Bild zu Ende malt statt draußen zu spielen, sich mit dem Vater über die Bedeutung der Schule streitet usw.
Wir sehen also selbst in dieser noch sehr groben Vergrößerung eine Vielzahl von Einflussfaktoren auf dem Weg des Sohnes vom Kleinkind zum Restaurator. Bei genauerem Hinsehen tauchen immer wieder Menschen auf, die zur rechten Zeit das Richtige für diese Entwicklung vorangetrieben haben. (Im Nachhinein betrachtet und im Wissen, dass vom Prozess der künstlerischen und beruflichen Entwicklung des Jungen die Rede ist)
Ich würde jetzt sagen: Solche Menschen haben in diesem Prozess zu einem spezifischen Zeitpunkt die Prozess-Führerschaft übernommen
Die Führung übernimmt derjenige in einem Prozess, der zur Zeit das Prozessförderliche tut.
D.h. der Prozess benötigt etwas Spezifisches und wer dieses bereitstellt, übernimmt die Prozessführerschaft. Oder umgekehrt: der Prozess entwickelt sich weiter durch die Interventionen eines Menschen, den ich Prozess-Führer nenne.
D.h. aber auch Prozessführung entsteht und vergeht. Jemand übernimmt die Führung in einem Prozess, indem er das zur Zeit Prozessnotwendige tut. Und schon gibt er diese Führung wieder ab an jemanden, der als nächster mit seinen spezifischen Fähigkeiten das Beste für den Prozess beitragen kann.
Voraussetzungen zur Prozessführerschaft:
Erfahrung: Ich muss Wissen um den Prozess haben (explizit oder implizit; sonst geschieht Führung durch Zufalls; Sachzwang!)
Achtsamkeit: Ich muss auf den Prozess und seinen jeweiligen Bedarf achten, ein Gespür für das Notwendige bekommen.
Fähigkeiten: ich muss mir bewusst darüber sein, was ich beitragen kann, wo ich gut bin und wo nicht so gut.
Verantwortung zum Handeln: Selbst aktiv werden, andere Geeignetere einbeziehen, abwarten können.
Anwendung:
Z.B. In der Beratung, von der Bahá'í immer wieder gern erzählen (vielleicht, weil sie ahnen, dass sie damit einen unschätzbaren Schatz haben, wenn wir auch noch wenig darüber Genaues wissen bzw. in der Anwendung herausbekommen haben) zeigt sich Führerschaftswechsel von Sekunde zu Sekunde. So kann man in einem Gesprächsverlauf sehr wohl den Wechsel festhalten, nicht aber einen Gesamtführer. Es ist am Ende einer guten Beratung fast nie festzustellen, woher ein Beschluss eigentlich gekommen ist ...
- Erfahrung: ich kenne Beratung und ihre Abläufe, vertraue in ihre innere Logik
- Achtsamkeit: was braucht die Beratung gerade jetzt (nicht unbedingt ausgerechnet mein nächstes Statement..)
- Fähigkeiten: Habe ich das, was gerade gebraucht wird?
- Handlungsverantwortung: zu reden, zu schweigen, nachzufragen, aufzufordern
Vom Nutzen für den Prozess zum Gemeinwohl.
IV. Ethische Prozess-Führerschaft
Soweit die Prozess- und Systemlogik.
Wenn man sich hinter den vielen Wörtern den Sinn ansieht, klingt das ja ganz gut.
Allerdings: Wenn man das jetzt noch etwas genauer ansieht, tut sich ein Abgrund von Willkürlichkeit auf.
Da sich Prozessführerschaft an dem Notwendigen des Prozesses ausrichtet, ist sie beliebig vorstellbar. Im Rüstungswettlauf großer Nationen, den man auch als Prozess rekonstruieren kann, bedeutet das Notwendige zwangsläufig etwas völlig anderes als in der Kindererziehung. Aber auch in der Kindererziehung sind völlig unterschiedliche Sinnzusammenhänge vorstellbar, die jeweils etwas gänzlich anderes als nötig und sinnvoll erachten (Kind in Mafia-Familie, in einer weißen Herrscherfamilie im Rahmen eines Apartheidstaates usw.).
Prozessführerschaft kann sich orientieren am Wohlergehen einer Person. Oder es handelt sich um Gemeinwohl, dann kann damit gemeint sein: das Wohl
- einer Gruppe (z.B. der Familie)
- einer Gemeinde,
- eines Staates,
- der Welt.
Reden wir von einem Beispiel, das hier ganz nahe liegt: Das Gemeindewohl der xxxxx Bahá'í-Gemeinde
Es gibt hier sagen wir mal 50 Bahá'í, die eine Gemeinde entwickeln (Wie jede Gruppe besteht eine Gemeinde nicht starr sondern verändert sich ständig, wächst oder vergeht an Zahl oder Geist). Viele Mitglieder dieser Gemeinde verfügen über eigene Erfahrungen in dieser oder einer ähnlichen Gemeindeentwicklung. Mit Achtsamkeit kann ein Gemeindemitglied feststellen, was der Gemeinde gut tut. Es kann seine Fähigkeiten einsetzen, um die jetzt gerade sinnvolle Entwicklung voranzutreiben. Es kann auch eigene Fähigkeiten neu entwickeln, um sie dann zur Gemeindeentwicklung einsetzen zu können. Und es kann die Verantwortung übernehmen, das Richtige zu tun, wenn die Zeit dafür gekommen ist.
Das Richtige kann ein Vortrag über den Wert der Einheit sein, eine Einladung zu einem Abendessen, ein Wunsch nach einem gemeinsamen Gebet, die Planung eines Gemeindeausflugs usw.. Die Fähigkeiten, die dafür nötig sind unterscheiden sich, wie es die Menschen tun: die Kunst der gelehrten, aber verständlichen Rede; die Kochkunst, die geistige Empfindsamkeit, die systematische Planung, die Kunst Freude zu vermitteln usw.
Und man stellt fest: Jeder, wirklich jeder kann zur Gemeindeentwicklung beitragen, jeder kann Prozess-Führerschaft übernehmen. Und eine weitere Erkenntnis hat inzwischen die Erfahrung gelehrt: je mehr Mitglieder an der Weiterentwicklung ihrer Gruppe aktiv beteiligt sind, desto erstaunlicher, reichhaltiger und ganzheitlicher gestaltet sich diese Gruppe.
Wenn man die Logik aber ganz zu Ende denkt, heißt die Zielorientierung einer ethisch begründeten Prozess-Führerschaft: Das Gemeinwohl ist das Wohl der ganzen Welt.
„Es rühme sich nicht der, der seine Heimat liebt, sondern der, der die ganze Welt liebt“
Erinnern wir uns also noch mal der Voraussetzungen zur Führerschaft in Prozessen.
Wir brauchen:
- Erfahrung: Ich muss Wissen um den Prozess haben (explizit oder implizit; sonst geschieht Führung durch Zufall; Sachzwang!)
- Achtsamkeit: Ich muss auf den Prozess und seinen jeweiligen Bedarf achten, ein Gespür für das Notwendige bekommen
- Fähigkeiten: Ich muss mir bewusst darüber sein, was ich beitragen kann, wo ich gut bin und wo nicht so gut.
- Verantwortung zum Handeln: Selbst aktiv werden, andere Geeignetere einbeziehen, abwarten können.
Ethische Prozess-Führung in dem letztgenannten Sinne setzt aber ein ganz besonderes Wissen voraus: Das Wissen um weltumspannende Zusammenhänge, um ausgesprochen langfristige Prozesse und deren Entwicklungsbedürfnisse.
Auf gut Deutsch:
Ich muss wissen
- was die Weltentwicklung braucht
- wie das, was ich in meine kleinen Alltag tue, am besten getan wird im Hinblick auf das Wohlergehen der ganzen Welt
- wo ich kleines Menschlein mit meinen winzigen Quantum an Eigenschaften im gigantischen Weltgeschehen meinen optimalen Platz habe.
Kann man so was überhaupt wissen?
Die Bahá'í sagen dazu: es gibt Menschen, die eine solche Weltsicht haben und diese weitervermitteln. Wir nennen diese Menschen Offenbarer und glauben daran, dass die jüngste Weltsicht von Bahá'u'lláh vermittelt wurde. Bei Ihm kann man eine Menge nachlesen über die momentanen Entwicklungsprozesse, in denen sich der Einzelne und die Welt befinden.
Und wie alle Gottesoffenbarer vor ihm gibt Bahá'u'lláh auch eine Fülle an Hinweisen, Empfehlungen und Weisungen, wie der Mensch sich für die Weltentwicklung und seine eigene Entwicklung optimal einbringen kann.
Und ist es nicht so, dass wir manchmal bei uns selbst das Gefühl haben, etwas völlig Richtiges zu tun, ganz im Einklang zu sein mit der Welt? Kein Wunder, denn wir haben das Gespür für das Richtige in uns. Bahá'u'lláh bestätigt uns, dass wir als ein Gottesgabe „Gerechtigkeit“ mit auf den Weg bekommen haben:
„O Sohn des Geistes! Von allem das Meistgeliebte ist Mir die Gerechtigkeit. Wende dich nicht ab von ihr, wenn du nach Mir verlangst, und vergiss sie nicht, damit Ich dir vertrauen kann. Mit ihrer Hilfe sollst du mit eigenen Augen sehen, nicht mit denen anderer, und durch eigene Erkenntnis Wissen erlangen, nicht durch die deines Nächsten. Bedenke im Herzen, wie du sein solltest. Wahrlich, Gerechtigkeit ist Meine Gabe und das Zeichen Meiner Gnade. So halte sie dir vor Augen.“ (Verb. Worte arab. 2)
Eigentlich fängt an dieser Stelle das Denken über ethische Prozess Führung erst an.
Wir müssten über Haltungen reden:
- Glaube an die edle Natur des Menschen
- Die Verantwortung nach der Wahrheit zu suchen und nach ihr zu handeln
- Dienstbarkeit als Handlungsbasis
Wir müssten über Entwicklungsziele reden:
Was heißt: „Der Mensch ist dazu erschaffen, eine ständig fortschreitende Kultur voranzutragen?“
Was heißt angesichts der zunehmenden Individualisierung, dass persönlicher und gesellschaftlicher Wandel ineinander verwoben sind und nur gemeinsam betrieben werden können?
Und was sind es für spezifische Fähigkeiten, die uns zu einer ethischen Prozessführung befähigen?
Um nur einige zu nennen:
- Die Fähigkeit zu weitreichender Vision und zielorientiertem Handeln
- Die Fähigkeit zu Transzendenz (Das Geistige durchschimmern sehen)
- Die Fähigkeit, Einheit in der Vielfalt zu sehen und zu fördern
- Die Fähigkeit, miteinander zu beraten
- Die Fähigkeit, andere zu ermutigen
Vielleicht sollte man zusammenfassend sagen, die Fähigkeit, meinen Nächsten zu lieben wie mich selbst vor dem Hintergrund, dass der Nächste mein Mitmensch ist – und zwar überall auf der Welt.
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Dieser Vortrag ist einfach zu schade für die Schublade "Aus meiner Schatztruhe"
Verfasst von Gerhard Bähr am 7 November, 2015 - 09:46
Termin: 07.11.15 09:36