Der Geistige Rat als lernende Organisation
Es gibt Bahá‘í, die freuen sich, wenn sie an ihren Geistigen Rat denken. Sie freuen sich auf ihre gemeinsamen Sitzungen, weil sie etwas Spezielles miteinander gefunden haben. Sie fühlen sich eingeladen, miteinander zu denken und Lösungen von Problemen gemeinsam zu entwickeln. Jeder und jede fühlt sich angeregt, mitzudenken und eigene Ideen, Anregungen, Vorbehalte und Kritik einzubringen.
Im Rat denkt und suchen die Bahá‘í miteinander und erkunden gemeinsam neue Lösungsansätze, neue Wege für die Herausforderungen und Probleme, die sie in ihrer anspruchsvollen Aufgabe antreffen. Wenn sie dann alle wieder in ihren individuellen Lebensbereichen stehen, fühlen sie sich verbunden mit den anderen und getragen im Team, was eine tolle Erfahrung ist, überhaupt nicht selbstverständlich.
Nun, ich höre auch immer wieder von anderen GR-Teams: man diskutiert und streitet gegeneinander, ohne Lösungen zu finden, redet aneinander vorbei, hört sich nicht zu, und das Gefühl in der Beratung ist alles andere als angenehm.
Überall, wo Menschen zusammenarbeiten, entstehen Probleme. Das ist nichts Neues und auch nichts Besonderes. Wenn die Probleme auf der Sachebene liegen, lassen sie sich in der Regel leicht lösen.
Häufig liegen die Probleme aber auf einer anderen Ebene. Dann sind die Menschen auf einer anderen Ebene gefordert. Dann braucht es andere Vorgehensweisen, andere Fragen und andere Antworten.
Dann müssen alle Beteiligten lernen.
Kann der Geistige Rat als Ort der Beratung selber zu einer Lernenden Organisation werden?
Folgende Elemente sind Bedingungen, damit sich eine Lernende Organisation entwickeln kann:
Systemdenken
Wenn Probleme auftauchen, nehmen Entscheidungsträger den Geistigen Rat oft als Insel wahr, der für sich alleine lebt und funktioniert. Dabei ist er eingebunden in ein großes System von Zusammenhängen. Die gewählten Mitglieder mit ihren individuellen Voraussetzungen und Bedingungen gehören dazu, mit ihrem familiären Hintergrund, mit ihren eigenen Berufserfahrungen, mit ihren Erlebnissen untereinander.
Es kommt immer wieder vor, dass jemand in die Position des Schuldigen kommt, und dass Probleme im Team bei dieser Person identifiziert werden. Polarisierungen passieren, und oft verlässt dann diese Person den Rat, ohne dass die Hintergründe der Probleme gelöst sind.
Systemische Lösungsansätze verzichten auf die Konstruktion einfacher, linearer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Sie verzichten darauf, Probleme bei einzelnen Akteuren im ganzen System zu identifizieren und dort zu 'lösen'.
Es ist hilfreich, wenn der Rat als System verstanden wird, das eingebunden ist in größere Zusammenhänge, und wenn der Rahmen für Lösungen weit genug gesteckt wird.
Die Gemeinsame Vision
Wagen die Bahá‘í, heute noch, eine Vision von der Beratung im Geistigen Rat zu haben? Von besseren Beratungen zu träumen? Oder breitet sich Ernüchterung, Müdigkeit und Resignation aus?
Eine gemeinsame Vision steht am Anfang eines speziellen Engagements für die Beratung.
Als Sie sich als Bahá’í erklärten: was waren Ihre Ideale? Wie soll die Beratung aussehen, welche Atmosphäre wollen Sie in Ihrer Gemeinde? Glauben Sie noch an Ihre Ideale von damals? Gibt es eine reelle Chance zur Verwirklichung?
Eine gemeinsame Vision kann nicht von der Administration verordnet werden. Die Ideen, Vorstellungen und Hoffnungen aller Beteiligten müssen zusammenfließen, damit die Herzen berührt werden. Dann kann der Funken der Begeisterung springen, und es hat eine Bedeutung, was die Bahá’í-Freunde tun. Sie können teilhaben an einer speziellen Energie, die sich im Geistigen Rat entwickelt. Und sie spüren sich selber in einer anderen Qualität, wenn sie als Rat zusammen treten.
Mentale Modelle
Mentale Modelle sind unsere Entwürfe über die Realität. Diese Entwürfe, Ideen und Konstrukte sind häufig implizit, uns nicht bewusst, weil wir nicht darüber nachdenken können.
Aber sie haben Wirkung, weil wir aus diesen Modellen heraus denken, Dinge überlegen, Geschehenes interpretieren und Probleme verstehen. Es gibt keine 'objektive' Wahrnehmung der Realität. Wir schauen die Welt da draußen an, und wir verstehen und interpretieren das, was wir da sehen, in unserer ganz und gar persönlichen Art und Weise. Und formen so ein individuelles Bild der Welt, des Lebens, der Bahá’í-Gemeinde, der Geistigen Räte und der Beratung.
Die Freunde haben alle ihre eigenen Entwürfe und Konstrukte über das Bahá’í-Sein und über die Hintergründe von Problemen. Solange sie nicht die Möglichkeit haben, ihre mentalen Modelle miteinander zu erkunden und miteinander auszutauschen, haben sie kaum eine Chance, eine gemeinsame Vision zu entwickeln und flexibel auf sich verändernde Umstände zu reagieren. In Phasen von neuen Entwicklungen ist es für die Beteiligten ein Muss, ihre mentalen Modelle anzuschauen.
Welche Ideen und Entwürfe benutzen die Freunde, wenn sie versuchen, die Probleme in der Gemeinde und im Rat zu verstehen? Und welche Konstrukte sind aktiv, wenn sie darüber nachdenken, warum sich manche Probleme wiederholen?
Wenn die Freunde versuchen, gemeinsam ihren mentalen Modellen auf die Spur zu kommen, gibt es plötzlich eine Ausweitung des Verständnisses, neue Ideen tauchen auf, neue Modelle, vielleicht geeignetere, breiter abgestützte. Das Denken wird fruchtbarer.
Die Persönliche Entwicklung
In der Bahá’í-Gemeinde ist es offensichtlicher als anderswo: die Qualität der Beratung steht und fällt mit der Persönlichkeit der Bahá’í. Die Freunde sind gefordert als ganze Personen, sie können nicht Teile ihres Wesens außerhalb der Beratung lassen. Deshalb brauchen wir in unserem Rat eine Kultur, die das anerkennt. Wir brauchen Bedingungen, die es den Freunden ermöglichen, in einem guten Bezug zu sich selber zu stehen und sich selber als Person im Blick zu haben.
Gerade das ist für Mitglieder von Geistigen Räten nicht einfach, stehen sie doch in einer langen Tradition von Autoritätspersonen, die alles wissen und alles im Griff haben müssen, und die Vorbild für die ganze Gemeinde sein mussten. Viele haben diese Erwartungen verinnerlicht, und so ist es heute manchmal schwierig, mit Bahá’í über Dinge zu reden, die sie nicht so gut können, über Schwächen und Misserfolge in der Beratung. Sie sind oft Einzelkämpfer geblieben, die sich nicht gerne in Frage stellen lassen.
Gemeinsames Lernen
Lernende Teams lernen, gemeinsam zu erkunden, gemeinsam zu erforschen, gemeinsam zu denken. Sie lernen, gemeinsam zu lernen. Und der Lern-Ort ist die Beratung, sie lernen an den realen Situationen und Problemen, die sie antreffen.
Kennen sie diese Erfahrung: eine Beratung vergeht wie im Flug, die Beteiligten erinnern sich nicht mehr genau, wer was gesagt hat, aber irgendwann sind sie zu einer gemein-samen Erkenntnis gelangt, alle wussten, was zu tun war, ohne dass sie abgestimmt hätten.
Und alle fühlten sich nach der Besprechung angeregt und erfrischt?
Es hat etwas Magisches, wenn sich dieser Raum öffnet, es zieht die Menschen in Bann, es begeistert sie, und sie lieben es. Es hat eine ganz andere Qualität, mit den Bahá’í-Freunden gemeinsam nach Lösungen zu suchen, statt gegeneinander zu diskutieren und immer schon zu wissen, was Sache ist.
Eigentlich ist es ja klar, dass viele Köpfe mehr wissen als einer. Und dass die Intelligenz eines Teams viel größer ist als die Summe der Einzelteile, wenn die Beteiligten Zugang zu dieser größeren Intelligenz herstellen können.
Im Dialog lernen wir, frei und kreativ komplexe Fragen zu erforschen, einander intensiv zuzuhören und nicht schon von vornherein die eigenen Ideen und Ansichten durchzusetzen.
Dann wird das Denken zu einem kollektiven Phänomen. Und wir machen die Erfahrung, dass wir miteinander besser denken können als alleine.
Der Dialog nach David Bohm steht im Zentrum all dieser Elemente. Er ist die Methode, die es den Bahá’í-Freunden ermöglicht, die Voraussetzungen und persönlichen Bedingungen zu erwerben, um ihren Geistigen Rat zu einer Lernenden Organisation zu entwickeln.
Kann der Geistige Rat als Ort der Beratung selber zu einer Lernenden Organisationen werden?
Ich habe eine Vision: in einem Geistigen Rat üben die Bahá’í-Freunde miteinander den Dialog nach David Bohm. Dabei lernen sie die spezifischen Fähigkeiten des Zuhörens, Erkundens, Artikulierens, Partizipierens, Suspendierens.
Wenn sie Erfahrungen haben mit dem Dialog, werden die Mitglieder des Geistigen Rates den Dialog in die Gemeinde tragen und z.B. pro Monat eine Dialog-Runde à 1,5 Stunden machen. In diesen Dialog-Runden werden die Bahá’í-Freunde ihre Probleme erkunden, die sie als Gemeinde haben und gemeinsam nach Lösungen für ihre Probleme suchen.
Möchten sie in dieser Gemeinde leben? Dann setzen sie sich dafür ein!
Jürgen Knier: Übertragung aus einer Abhandlung aus dem Bereich Schule
in www.lernende-organisationen.ch/schule.html
2014-02-14