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Zur Frage der Homosexualität
GR-Handbuch-Dateien : GR-Handbuch-Anhang
Herausgegeben vom Nationalen Geistigen Rat der Bahá'í in Deutschland
Hofheim-Langenhain
Ausgabe 2004
Inhaltsverzeichnis
7. Vertiefendes Material und Merkblätter
7.6 Zur Frage der Homosexualität
Ein Schreiben der Sekretariatsabteilung des Universalen Hauses der Gerechtigkeit an den Nationalen Geistigen Rat der Vereinigten Staaten von Amerika vom 11. September 1995.
»Das Universale Haus der Gerechtigkeit hat Ihre Briefe vom 27. August 1993 und 19. September 1994 beraten, in denen Sie über die Auswirkungen der sich wandelnden Sexualmoral und der öffentlichen Debatte über die Homosexualität auf einige Mitglieder der amerikanischen Bahá’í-Gemeinde berichten, die Homosexuelle sind. Auf Ihre Bitte um Klärung des Bahá’í-Standpunkts zur praktizierten Homosexualität und um Hilfestellung bei der Führung der Gläubigen wurden wir gebeten, Ihnen folgende Orientierung zukommen zu lassen:
Zunächst sollte man sehen, dass die Haltung der Lehre in dieser Frage unterschiedlich ist, je nachdem, ob es um das Phänomen der Homosexualität und die Situation der davon Betroffenen im allgemeinen geht oder um homosexuelle Beziehungen von Mitgliedern der Bahá’í-Gemeinde.
Wie Sie wissen, verurteilt der Bahá’í-Glaube alle offensichtlichen Akte der Unmoral, zu denen auch sexuelle Beziehungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts gehören. Was homosexuelle Akte anbelangt, so verbietet Bahá’u’lláh im Kitáb-i-Aqdas, Vers 107, und in den „Fragen und Antworten“ Nr. 45 Päderastie und alle Formen widernatürlicher Unzucht. Die folgende Passage zeigt, wie nachdrücklich Sein Verdammungsurteil ist:
„Der uneheliche Beischlaf, gleichgeschlechtliche Unzucht und Untreue sind euch verboten.[38]
Haltet euch fern davon, o Volk der Gläubigen. Bei der Gerechtigkeit Gottes! Ihr wurdet erschaffen, die Welt vom Schmutz übler Leidenschaften zu läutern. Dies gebietet euch der Herr der ganzen Menschheit, könntet ihr es doch fassen! Wer dem Allbarmherzigen angehört und satanische Taten begeht, ist wahrlich nicht von Mir. Dies bezeugt jedes Atom, jeder Kiesel, jeder Baum und jede Frucht und darüber hinaus diese unentwegt kündende, wahrhaftige und vertrauenswürdige Zunge.“
In einem in seinem Auftrag geschriebenen Brief vom 26. März 1950 geht Shoghi Effendi, der autoritative Interpret der Bahá’í-Lehre, auf die Haltung gegenüber der Homosexualität ausführlicher ein. Die Interpretation des Hüters beruht, wohlgemerkt, auf seinem unfehlbaren Verständnis des Textes: Sie ist sowohl eine Erklärung zur Frage der Moral als auch eine irrtumsfreie Führung für Bahá’í, die homosexuell sind. In dem Brief heißt es:
„Mag die gleichgeschlechtliche Liebe auch noch so ergeben und edel sein, sie ist unerlaubt, wenn sie sich in sexuellen Akten äußert. Zu sagen, dass sie vollkommen sei, ist keine Entschuldigung. Bahá’u’lláh hat jede Art von Unsittlichkeit verboten. Homosexuelle Beziehungen betrachtet Er als unsittlich, abgesehen davon, dass sie widernatürlich sind. Für eine verantwortungsbewusste Seele ist es eine schwere Belastung, damit behaftet zu sein, doch durch ärztlichen Rat und Beistand, durch ernsthafte, entschlossene Anstrengungen und das Gebet kann eine Seele diese Behinderung überwinden.“
Daraus wird deutlich, dass das Verbot, sich auf homosexuelle Beziehungen einzulassen, ein ausdrücklicher Bestandteil des Bahá’í-Glaubens ist. Zwar liegt es in der Kompetenz des Universalen Hauses der Gerechtigkeit, seine eigene Gesetzgebung entsprechend der Veränderung der Verhältnisse abzuwandeln oder aufzuheben, um so das Bahá’í-Recht mit der nötigen Flexibilität zu versehen, doch darf es keines der explizit im Heiligen Text offenbarten Gesetze ändern oder außer Kraft setzen. Daraus folgt, dass es außerhalb der Kompetenz des Universalen Hauses der Gerechtigkeit liegt, diese eindeutige Aussage zur praktizierten Homosexualität zu ändern.
Sie erwähnen, einige Freunde hätten ihre Besorgnis geäußert, dass der besonderen Identität homosexueller Bahá’í in der Bahá’í-Gemeinde nicht hinreichend Rechnung getragen werde. Man sollte sich jedoch vor Augen halten, dass die Schriften unseres Glaubens nicht nur anerkennen, dass jeder Mensch eine gottgegebene Identität hat, sondern dass sie auch den Weg weisen, wie diese Identität ihre höchste Entwicklung und Vollendung erfahren kann. Bahá’u’lláh bezeugt, dass durch die Lehre der Manifestation Gottes „jeder Mensch voranschreiten und sich entwickeln wird, bis er die Stufe erreicht, auf der alle Kräfte, mit denen sein wahres Selbst ausgestattet wurde, offenbar werden“. ‘Abdu’l-Bahá hat bemerkt, dass des Menschen „natürliche Eigenschaften“ zu kritisieren sind, wenn er „sie in unerlaubter Weise entfaltet und gebraucht“. Shoghi Effendi hat in einem am 25. Mai 1936 in seinem Auftrag geschriebenen Brief das „wahre Selbst“ des Menschen mit „seiner Seele“ gleichgesetzt. Er beschreibt das Wesen „des inneren geistigen Selbst und der Wirklichkeit des Menschen“ und stellt fest, dass „die beiden Tendenzen zu Gut und Böse nur Manifestationen einer einzigen Wirklichkeit oder des Selbst“ sind und dass das Selbst „zur Entwicklung in beide Richtungen fähig ist“. Die Bedeutung der Erziehung für die Entfaltung des im Menschen ruhenden Potentials hervorhebend, zieht der Hüter folgenden Schluss: „Alles hängt im Grunde von der Erziehung ab, die der Mensch erhält. Die menschliche Natur hat die Anlage zum Guten wie zum Bösen. Echte Religion kann den Menschen befähigen, sich in die höchsten Bereiche des Geistes zu erheben, während er ohne sie, wie wir schon ringsum bemerken, in die tiefsten Tiefen der Erniedrigung und des Elends sinken kann.“
Wenn man über das Thema Homosexualität nachdenkt, sollte man mit der gebotenen Demut von der grundlegenden Erkenntnis ausgehen, dass nach der Bahá’í-Lehre nur Gott allein den Sinn und Zweck des menschlichen Lebens kennt und nur Er ihn uns durch Seine Manifestationen vermitteln kann. Es ist ein Wesensmerkmal des Menschen, dass ihm die Fähigkeit verliehen ist, Gott zu erkennen, Ihn zu lieben und Ihm bewusst zu gehorchen. Wir können aber auch das Gegenteil tun: uns von Gott abwenden und Ihm unsere Liebe und den Gehorsam versagen. Sich selbst überlassen, ist der Mensch von Natur aus dem Bösen zugeneigt. Er bedarf nicht nur des Beistands, wenn es darum geht, festzulegen, wie er sich andern gegenüber verhalten soll, sondern auch der Führung, die ihn davon abstehen lässt, etwas zu tun, was seiner Seele schadet. Indem wir uns auf die Botschaft der Manifestation Gottes einlassen, lernen wir, wie wir leben und die geistige Kraft in Dienst stellen sollen, die aus dieser Botschaft resultiert. Indem wir das Wort Gottes studieren und den Gehorsam gegenüber Seinem Gebot einüben, erheben wir uns zur wahren Größe, die Er uns bestimmt hat.
Im Verhältnis zur geistigen Welt ist die materielle Welt eine solche der Unvollkommenheit. Sie ist voller Gefahren und Schwierigkeiten, die der Mensch durch die Missachtung und den Missbrauch seiner Pflichten noch verschlimmert. Die Gesellschaft, die ein Teil der materiellen Welt ist, befindet sich im Zustand verheerender Unordnung.
Unsere Triebe und Neigungen werden stark vom Zustand unserer leiblichen Verfassung bestimmt. Die Menschen weisen unterschiedliche Grade der Gesundheit auf, was wiederum von Faktoren wie Vererbung, Umwelt, Erziehung und auch davon abhängt, wie wir unseren Körper behandeln. Genetische Abweichungen können zu Bedingungen führen, die dem Menschen Probleme schaffen. Einige sind emotionaler oder psychologischer Natur, die zu Unausgeglichenheiten wie aufwallender Zorn, Rücksichtslosigkeit, Ängstlichkeit usw. führen, während andere rein physischer Natur sind und sich nicht nur in ungewöhnlichen Fähigkeiten äußern, sondern auch in Behinderungen und Krankheiten verschiedenster Art. In diesem Leben ist es unsere Aufgabe, Defekte – seien sie angeboren oder erworben – zu überwinden und uns die Verhaltensmuster einzuüben, die in der göttlichen Lehre offenbart sind.
Die Ansicht, Homosexualität sei ein Zustand, der nicht verändert werden könne, muss von den Bahá’í bezweifelt werden. Natürlich gibt es viele Arten und Grade von Homosexualität. Extreme Erscheinungsformen sind ohne Zweifel schwieriger zu überwinden als andere. Gleichwohl hat der Hüter, wie schon angeführt, gesagt, dass „durch ärztlichen Rat und Beistand, durch ernsthafte, entschlossene Anstrengungen und das Gebet eine Seele diese Behinderung überwinden kann“.
Die Statistiken, die beweisen sollen, dass Homosexualität unheilbar sei, sind ganz gewiss deswegen verzerrt, weil viele, die das Problem überwunden haben, nicht öffentlich davon sprechen, und andere das Problem lösen, ohne auch nur fachkundigen Rat in Anspruch zu nehmen.
Dennoch gibt es unzweifelhaft den Fall, dass sich jemand außerstande sieht, sich dem körperlichen Angezogensein zu einer Person des gleichen Geschlechts zu entziehen, selbst wenn es ihm gelingt, sein Verhalten unter Kontrolle zu halten.
Dies ist nur eine der vielen Prüfungen und Versuchungen, denen der Mensch in diesem Leben unterworfen ist. Für Bahá’í kann dies nichts an dem von Bahá’u’lláh gelehrten grundlegenden Prinzip ändern, wonach der von Gott bestimmte Zweck der Sexualität die Liebe zwischen Mann und Frau ist, deren primärer (wenngleich nicht ausschließlicher) Zweck es ist, Nachkommen zu erzeugen und zugleich liebevolle, beschützende Lebensbedingungen zu schaffen, unter denen die Kinder dazu erzogen werden können, Gott zu erkennen und zu lieben. Wenn daher jemand seine homosexuelle Neigung nicht überwinden und somit keine heterosexuelle Ehe eingehen kann, muss er unverheiratet bleiben und sich sexueller Beziehungen enthalten. Dieselbe Forderung wird auch an eine heterosexuelle Person gestellt, die sich nicht verehelicht. Wenn Bahá’u’lláh die Gläubigen zur Heirat ermutigt, so ist die Ehe doch keineswegs obligatorisch. Jedem Gläubigen steht es frei, selbst zu entscheiden, ob er eine Familie gründen oder im Stand der Ehelosigkeit leben will.
Von etwas anderem als einem erwachsenen Mitglied des andern Geschlechts sexuell angezogen zu sein — ein Zustand, von dem die Homosexualität nur ein Ausdruck ist — wird in unserem Glauben als eine Pervertierung der menschlichen Natur angesehen, als ein Problem, das zu überwinden ist, ganz gleich, welche körperlichen oder psychologischen Faktoren die unmittelbare Ursache dafür sein mögen. Jedem Bahá’í, der an dieser Fehlhaltung leidet, sollte mit Verständnis begegnet werden; ihm sollte geholfen werden, seine Neigung unter Kontrolle zu halten und ihrer schließlich Herr zu werden.
Homosexuelle mit Vorurteilen oder Verachtung zu betrachten, wäre völlig gegen den Geist der Bahá’í-Lehre. Die Tore stehen der ganzen Menschheit offen, damit alle in den Glauben Gottes eintreten, ungeachtet ihrer momentanen Verfassung. Diese Einladung gilt für Homosexuelle ebenso wie für alle anderen, die ein Verhalten an den Tag legen, das zur Bahá’í-Lehre im Widerspruch steht. Mit dieser Einladung ist freilich die Erwartung verbunden, dass jeder Gläubige ernsthafte, nachhaltige Anstrengungen unternimmt, Züge seines Verhaltens auszumerzen, die mit dem göttlichen Gesetz nicht im Einklang stehen. Gerade dadurch, dass die unterschiedlichen Elemente der Bahá’í-Gemeinde an der offenbarten Lehre festhalten, wird letztlich die echte, dauerhafte Einheit der Gemeinde erreicht und bewahrt werden.
Will jemand, von dem bekannt ist, dass er ein Problem wie Trinken, Homosexualität, Drogenkonsum, eheliche Untreue oder anderes hat, den Glauben annehmen, so sollte er geduldig und liebevoll darüber informiert werden, was die Bahá’í-Lehre dazu sagt. Stellt sich später heraus, dass ein Gläubiger dem Bahá’í-Maßstab zuwider handelt, so hat der Geistige Rat darüber zu entscheiden, ob das unmoralische Verhalten öffentlich bekannt geworden und geeignet ist, das Ansehen des Glaubens zu schädigen. In diesem Fall muss der Rat tätig werden; er muss den Gläubigen ermahnen und ihn auffordern, alle Anstrengungen zu unternehmen, sein Verhalten zu ändern. Falls der Gläubige ungeachtet wiederholter Abmahnungen dies nicht tut, müssen Sanktionen verhängt werden. Die Räte sollen sich freilich davor hüten, das Privatleben von Gläubigen auszuspionieren, um sicherzustellen, dass sie sich verhalten, wie es sich gehört; doch sollten sie auch nicht zögern, in Fällen offenkundigen Fehlverhaltens zu handeln.
Angesichts des schrecklichen Niedergangs der Gesellschaft sollten die Geistigen Räte in Fragen des moralischen Verhaltens wie beispielsweise bei homosexuellen Akten bis zu einem gewissen Grad nachsichtig sein. Die Räte sollten sich aber auch vor Augen halten, dass die Kenntnis der heute herrschenden sozialen und moralischen Vorstellungen ihr Verständnis für die Situation Homosexueller zwar verbessern kann, dass jedoch der Maßstab, dem sie verpflichtet sind, der Bahá’í-Maßstab ist. Eine öffentlich bekannt gewordene Verletzung dieses Maßstabs entehrt die Gemeinde in ihren eigenen Augen und ihrem Selbstwertgefühl, selbst wenn die übrige Gesellschaft die Übertretung toleriert.
Was das organisierte Netzwerk homosexueller Bahá’í anbelangt, das Sie in Ihrem Brief erwähnen, hat das Universale Haus der Gerechtigkeit uns angewiesen, Ihnen zu sagen, dass es sehr wohl angemessen ist, wenn sich in der Bahá’í-Gemeinde Gruppen zusammenfinden, die sich gegenseitig helfen, problematische Situationen zu verstehen und mit ihnen fertig zu werden. Doch kann es nach der Bahá’í-Lehre in unserer Gemeinschaft keinen Platz für Gruppen geben, die aktiv einen Lebensstil propagieren, der zu unserer Glaubenslehre im Widerspruch steht. Man sollte verstehen, dass homosexuelle Neigungen niemanden zu einer Identität berechtigen, die ihm eine Sonderstellung einräumt. Wie alle anderen Bahá’í haben solche Menschen die Verantwortung, sich an die Gesetze und Grundsätze des Glaubens zu halten, sowie die Freiheit, ihre administrativen Rechte wahrzunehmen.
Das Universale Haus der Gerechtigkeit wird dafür beten, dass der Nationale Geistige Rat, ausgestattet mit der Führung, die ihm in diesem Brief zuteil wurde, liebevoll, feinfühlig und fest handeln und den Gläubigen beistehen wird, dass sie ein vertieftes Verständnis vom wahren, edlen Sinn ihres Lebens erlangen und dass sie sich fest entschlossen bemühen, jedes Hindernis auf dem Weg ihrer geistigen Entwicklung zu überwinden.«